Schimmer. Anna Teufel

Schimmer - Anna Teufel


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du bist hellblau und ich ein ganz sanftes braun, wie Karamell vielleicht oder ein bisschen wie Sand; wir sind wolkenfarben und im Himmel und leicht, wir tanzen und ich glaube, wir führen beide. Der Nagel meines linken Zeigefingers gräbt sich in deine Haut und du reagierst, drückst mit dem rechten Daumen mein Gesicht ein wenig nach oben, deine Körperwärme ist eine flauschige Decke und hüllt mich komplett ein und wenn ich nicht schon sitzen würde, verlöre ich spätestens jetzt den Boden unter den Füßen und dann mich selbst zwischen deinen Händen; du hältst mich wie ein rohes Ei, ich schwebe.

      Wir knutschen. Wir knutschen lang. Alles stimmt, alles passt, wir haben beide die Augen zu und befühlen uns gegenseitig an Stellen, die man nicht sieht, wenn man die Augen offen hat. Unsere Bewegungen sind gleitend, intuitiv und richtig. Wir spielen in derselben Liga. Knutschen ist erst der Anfang. Wir beide wissen das.

      Wir sitzen dort. Wir halten uns. Wir sind da, wir fühlen, wir denken. Wir sind zu zweit, vier Hände, zwei Köpfe, vier Lippen, tausend Gedanken in zweien; wir sind nicht speziell. Wir sind zu zweit und allein und waren vorher allein, bis wir dann zu zweit waren und jetzt in diesem Moment sind wir auch nur zwei völlig normale schöne Menschen, sich haltend, voller Wärme, voller Kuss und ohne Ende.

      Behütet

      Das Dorf, in dem ich aufwuchs, hat mir seit jeher Angst gemacht. Die Enge im Inneren, die Weite nach außen; die weit stehenden Häuser, das Gedränge an der Bushaltestelle, ein Blick, ein Schritt, ein falscher, die Beengtheit in der Brust beim Atmen und klare Luft, die gut riecht. Ich war nie allein. Im Dorf wird man nicht auf Händen getragen, aber auf Blicken; genug für wahlweise Frohsinn oder Leiden, der Spielraum dazwischen ist schmal, ich lernte das.

      Jahre später trage ich das Dorf auf Blicken. Ich werde nie mehr zurückkommen.

      Eins

      Ortsaufnahmen

      In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, beantwortete man die Frage, wer man sei, nicht mit dem eigenen Namen; man wurde ohnehin nicht danach gefragt, sondern wem man gehöre. «Wem gheiersch du?», fragten die Alten, und die Jungen fragten nicht, das waren wir. Oft denke ich daran zurück; an die alte Hebamme, die ein Haus weiter wohnte und die ich um ihr Kopftuch beneidete, das sie stets trug, da man sie daran erkannte. Ich wollte auch erkannt werden und wurde immer wieder gefragt.

      Die Gegend, in der das Dorf lag, war die schwäbische Hochalb. Später erfuhr ich, es hieße Oberschwaben. Ich lernte nie Hochdeutsch und bezeichnete alle, die es konnten, als eingebildet und arrogant. Ich glaubte lange, dass Radioaktivität bedeutet, dass man stirbt, wenn das Radio angeschaltet wird und dass Kinder mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom sehr dringend Aufmerksamkeit brauchen. Ich glaubte so lange an Gott, bis Deutschland bei der WM 2006 gegen Italien verlor, obwohl ich zuvor stundenlang für einen Sieg gebetet hatte. Heute glaube ich weder an Hochdeutsch, noch an Gott, noch an Fußball.

      Das Haus, in dem wir wohnten, wurde während unserer Kindheit zum Teil abgerissen und wieder neu aufgebaut. Es war das Haus eines Ziehonkels meines Vaters, der sich kurz vor meiner Geburt im oberen Stockwerk mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen hatte. Es wurde das Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter erschlug regelmäßig vollgesogene Mücken an den Wänden, und manchmal stellte ich mir vor, die Flecken stammten vom Gehirn des Onkels. Ich konnte mir seinen Namen nie merken.

      Das Zimmer, in dem ich lebte, war das kleinste des Hauses, Treppe hoch und letzte rechts. Ich besaß dunkelblaue Vorhänge und Lampen, die wie Wolken aussahen. Ich puzzelte. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, musste ich noch vor dem Mittagessen ein kleines Puzzle legen; anders gelang es mir nicht, den Schultag zu verarbeiten. Es wird in meinem Leben nie etwas Schlimmeres geben als ein fehlendes Puzzleteil.

      Meine Schwester wurde ein Jahr und vier Monate vor mir geboren. Eine uralte Videoaufnahme, die kurz nach meiner Geburt aufgenommen wurde, zeigt meine Schwester, wie sie aufgeregt und begeistert an meinem Babybett steht und sich später vor übersprudelnder Kinderliebe auf mich legt. Als sie weggehoben wurde, schrie ich sehr laut. Bis heute weiß ich nicht, ob ich schrie, weil sie mich erstickte, oder weil ich wollte, dass sie bei mir blieb.

      Der Winter, der jedes Jahr sehr früh begann, kühlte Füße und Gemüter. Manchmal sanken die Temperaturen auf -30 °C. Die Kälte biss. Ich wurde schwach und meine Haut schuppig. Bei Erkältungen rieben wir uns Schmotz unter die Nase, Schmotz, eine dicke und klebrige gelbe Ringelblumensalbe, Schmotz für die Haut, Hautschmotz, das sich manchmal mit Rotz vermischte und tropfte und als gelblicher Schleim im Taschentuch versickerte. Wir waren vier Personen und brauchten viel davon.

      Zwei

      Gefühlspotenzial

      Als ich zwölf war, trugen alle Kinder an meiner Schule Chucks und Vans. Ich dürstete nach den Schuhen, konnte mir keine leisten, sparte, bettelte meine Eltern an und kaufte mir schließlich schwarze Fake-Vans von Deichmann mit einem weißen Totenkopf auf der Oberseite. Nachdem ich die Schuhe gekauft hatte, traute ich mich mehrere Wochen lang nicht, die Schuhe anzuziehen, aus Angst, dass alle anderen merken würden, dass ich sie nachahmte. An einem kühlen Februarmorgen trug ich sie das erste Mal und versuchte, die Schuhe unter weiten Jeansschlaghosen zu verstecken. Ein einziger Mensch bezeichnete meine Schuhe als hässlich. Ich trug sie nie wieder.

      Die Mutter meines ersten Freundes schenkte mir zu Weihnachten eine karierte französische Barrettmütze. Ich trug die Mütze unter dem Weihnachtsbaum unter meinen eigenen wohlwollenden Blicken und derer meiner Familie. In Kombination mit Jeans fand ich sie grauenhaft. Ich trug sie vier Jahre später zum ersten Mal außer Haus. An diesem Tag sagte ich zu meiner Mutter, dass ich mir es nun erlauben könne, die Mütze zu tragen. Sie sagte, ich hätte es mir schon immer erlauben ­können. Ich glaubte ihr nicht.

      Mir fiel es schwer, Menschen abseits ihrer Äußerlichkeiten zu beurteilen. Als ich das erste Mal eine Frau als «schön» bezeichnete, war ich 15 und erschreckte Menschen damit. Ich hatte damit eine Freundin meiner Mutter gemeint. Das einzige Mädchen im Dorf, das sich die Haare färbte, hieß Marie und trug ihren blauen Schopf als Zeichen der Verweigerung sämtlicher an sie herangetragenen Erwartungen. Alle nannten sie «die Lesbe». Ich auch.

      Wir rauchten. Wir brachen dünne Zweige von den Bäumen ab, knickten sie in der Mitte und klemmten die Zigaretten am ­Filter in den Knick; unsere Finger rochen nie nach Nikotin. Wir brachten uns gegenseitig das Rauchen bei; ziehen und erschrecken, ziehen und erschrecken, huch und einatmen, Mama kommt. Ich hatte Angst vor dem Tod und Angst davor, dass meine Eltern eines Tages den Rauch in meinem Atem riechen würden; am meisten Angst hatte ich davor, uncool zu sein. Erst viel später erfuhr ich, dass es nie einen Unterschied gemacht hatte.

      Drei

      Anpassungsformate

      Als ersten und einzigen Nebenjob wurde mir die Aufgabe anvertraut, einmal im Monat eine Zeitschrift für alte Frauen auszutragen. Ich klingelte regelmäßig an 18 verschiedenen Türen im Dorf und forderte das Geld in bar ein. Viele der Damen boten mir ein Päuschen mit Apfelsaftschorle oder Sprudel an, eine davon schenkte mir alle drei Monate wahlweise Schokolade («zu Ostern»), hässliche Nippesfiguren in Engelsform («zu Weihnachten») oder Geld («für den Sommer»). Ich lernte schnell, was Einsamkeit bedeutet und wie sehr meine Anwesenheit von den Damen gebraucht wurde. Ein Vierteljahr später klingelte ich nur noch an 15 Türen. In meinem Zimmer stehen drei Nippesengel und ich trug auf den Beerdigungen schwarz, wie es sich gehörte.

      Im kältesten Zeitraum eines jeden Jahres feierten wir Fasching. Was genau gefeiert wurde, wussten wir nicht. Wir nutzten die Umzüge als kollektives Besäufnis, froren draußen und schwitzten in Festzelten und kehrten zurück mit ­Blasenentzündung und Schnaps in den Haaren. Einmal knutschte ich mit einem Jungen im Festzelt, sodass alle es sahen. Dem ersten, der


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