Wer die Heimat liebt wie du. Artur Brausewetter
war sehr zurückhaltend, bemerkte nur, dass sich eine sehr grosse Anzahl von Bewerbern für die Stelle gemeldet hätte, und liess sich auf nichts andres ein.“
„Beriefst du dich nicht auf Edith, auf Fräulein von Barrnhoff? Machtest du nicht seiner Frau einen Besuch? Sie ist Ediths beste Freundin, und mit ihr lässt sich doch reden!“
„Nichts von alledem.“
„Aber weshalb nicht, Mann?“
„Weil ich meine Wahl solchen Mitteln und Empfehlungen nicht verdanken will. Spricht alles, was ich bisher geleistet, nicht für mich, dann muss ich eben verzichten.“
„Hörst du es, Edith? So ist er immer gewesen! So sind wir Warsows alle — immer mit der eignen Kraft, immer mit dem harten Kopfe! Um Gottes willen keine Verbindungen und keine Fürsprache! Deshalb haben wir es auch nie zu etwas gebracht. Aber du wirst die Sache schon machen, nicht wahr, Edith? So lass doch, Hans, sie tut es ja nicht für dich oder für mich. Sie tut ein gutes Werk für die Stadt Rodenburg. Solch einen Pfarrer sollen sie sich mal suchen! Du kannst ihn mit reinem Gewissen empfehlen, das darfst du mir glauben!“
„Ich will gern versuchen, was in meinen Kräften steht, vorausgesetzt natürlich, dass dein Bruder damit einverstanden ist.“
„Dann tust du es ohne seinen Willen, ja wider seinen Willen! Mir zuliebe, Edith, tust du es!“
Der alte Reckensteiner trat in das Zimmer. Der lange Ritt hatte ihn frisch und elastisch gemacht, sein Gang und seine Bewegungen hatten etwas jugendlich Militärisches. Aber sein Gesicht zeigte in der blassen Beleuchtung der Spirituslampe, die man immer noch in Reckenstein brannte und die eben angezündet war, einen müden Zug.
Er hatte nicht viele Menschen, denen er seine Zuneigung schenkte, er war kritisch und zum Aussetzen geneigt. So begrüsste er auch heute Fritz mit herzlicher Freude, während er seinem Bruder gegenüber eine kühlere Haltung annahm, ohne jedoch durch Wort oder Miene die Pflichten des Hauswirts zu vernachlässigen. Denn die Gastfreundschaft war in Reckenstein ein geheiligt Ding. Unter gleichgültigen Gesprächen verlief das reich aufgetragene Abendessen, dann fuhren die beiden Brüder durch die sternenklare Sommernacht nach Bärwalde.
Hans Warsow erhielt eine Aufforderung zur Probepredigt an der Nikolaikirche in Rodenburg.
Der Kirchenbesuch stand in Rodenburg nicht auf der Höhe. Auch diesmal war das grosse Gotteshaus nicht in allen seinen Teilen gefüllt, sah aber immerhin eine grössere und ansehnlichere Versammlung als an den andern Sonntagen. In dem Patronatsstuhl sass der erste Bürgermeister mit seiner Gattin, der Dezernent für Schule und Kirche und einige andre Ratsherren. Auch Edith, die in diesen Tagen nach Rodenburg gekommen war, um mit dem Arzt über ihren Vater zu sprechen, hatte sich dort eingefunden und Fritz mit eingeschmuggelt.
Man erwartete den neuen Prediger bereits zur Liturgie. Aber er kam nicht. Diakonus Brettschneider, der vielgeliebte zweite Geistliche an St. Nikolai, hielt sie nach altem Herkommen. Das erhöhte die Spannung. Endlich war die Liturgie beendet. Der gutgeschulte Kirchenchor sang seine Motette: „Alles, was Odem hat“, das Hauptlied setzte ein, der letzte Vers war gesungen, Hans Warsow bestieg die Kanzel.
Das bleiche, feingeschnittene Gesicht mit den ernsten, beinah strengen Zügen und den dunklen, träumenden Augen, die niemand in der grossen Gemeinde sahen, sondern ganz einwärts blickten, machte sofort Eindruck auf die Leute. Nun las er den Text, nun begann er seine Predigt.
Er sprach mit etwas rauher, aber sehr deutlicher Stimme in kurzen, knappen Sätzen, jeder auf das sorgsamste gefeilt und von ehernem Gefüge. Wie wohlgehauene Steine waren sie, die er zu einem festgeordneten Bau türmte. Sichtbar stieg er vor den Zuhörern in die Höhe, überall merkte man den scharfen Denker. Beredt wie sein Mund sprach seine Hand: eine lange, beinah überschlanke Hand mit feinen, durchgeistigten Linien; sie allein führte seine Gesten aus. Aber auch sie nur mit leise deutenden Bewegungen.
„Wie hat dir seine Predigt gefallen?“ fragte Frau Lisa, die Hans Warsow und seinen Bruder mit einigen andern Gästen zu Mittag geladen. Sie hatte es in Rücksicht auf seine Beziehungen zum Reckensteiner Hause getan und war jetzt mit dem Ordnen der Tafel beschäftigt, wobei ihr Edith behilflich war.
Stoltzmanns bewohnten eine neugebaute Villa draussen vor der Stadt, die architektonisch mit Geschmack ausgeführt und im Inneren sehr geräumig war. Die Stadt hatte sie ihrem Bürgermeister zum Ehrengeschenk gemacht, als dieser die Aufforderung einer grossen Stadt im Westen, sich dort für die freigewordene Oberbürgermeisterstelle zur engeren Wahl zu stellen, kurzerhand abgelehnt hatte.
Edith schwieg einen Augenblick. „Ich habe, wie du weisst, nie viel Sinn für Predigten gehabt,“ sagte sie dann, „aber ich gebe zu, es war etwas Eignes in dieser. Manchmal kam sie mir mehr wie ein Vortrag vor, dann wieder schien es mir, als ob auch die einfacheren Leute von ihr berührt würden. Ich habe eine solche Andacht in der Nikolaikirche noch nicht gesehen.“
„Du hast ja auch wenig Gelegenheit dazu gehabt, mein Herz,“ warf Frau Lisa ein wenig spöttisch hin, und indem sie die Gläser zurechtstellte: „Er muss mich führen. Anders wird es nicht gehen. Obwohl ich auf die Prediger auch nicht besser zugeschnitten bin als du, und seinen jüngeren Bruder viel lieber hätte. Schade ist es aber doch, dass er seine Uniform ausgezogen hat. Sie stand ihm so gut!“ Und während sie mit flinker Feder an einem kleinen Nebentische einige Führungskarten schrieb: „Aber Hände hat der Mensch! Solche Hände habe ich überhaupt noch nie gesehen. Ich hörte kaum auf seine Worte, ich blickte immer auf seine Hände, und ich verstand alles.“
„Er lebt ja auch nur im Geistigen, sein Gesicht, sein ganzer Körper sagt es.“ Und nachdem sie einige dunkle Rosen, die ihr Frau Lisa gereicht, über die Tafel verteilt: „Ob solche Männer der Idee wohl einer grossen Tat gewachsen wären? Ob Hans Warsow sie leisten würde, wenn sie eines Tags von ihm gefordert würde? Herantreten kann sie in einer so zahlreichen Gemeinde doch jeden Tag an ihn.“
„Sieh, wie philosophisch dich der Mann gemacht hat! Auf solche Gedanken komme ich nie. Ich finde sie ziemlich müssig, und dir lagen sie sonst auch nicht. Komm, hilf mir lieber die Fruchtschale zurechtmachen. So etwas kann ich dem Mädchen nicht überlassen.“
Frau Lisa war eine sehr tüchtige Hausfrau, es ging ihr alles schnell und sicher von Händen, ihre Wirtschaft war von mustergültiger Ordnung, und ihre Gäste fühlten sich wohl bei ihr.
Als sie eben die letzte Frucht aufgelegt hatte, trat ihr Mann ins Zimmer, um die Weine aufzustellen, die er selber aus dem Keller geholt hatte.
„Warst du zufrieden?“ fragte sie ihn.
„Im ganzen ja, soweit mich eine Predigt überhaupt zu fesseln vermag. Ich muss immer an Schiller denken, der einmal gesagt haben soll, sie wäre nicht für Gebildete.“
„Ich fand, er sprach gerade für die Gebildeten.“
„Doch es ist so vieles drum und dran, das mich stört. Gewiss, er hatte kein Kanzelpathos, auch nicht die üblichen Floskeln. Aber schon die Art der Anrede, die unumgängliche Einzwängung in dogmatische Formen und kirchliche Grenzen — wie gesagt, es ist nichts für mich. Ich könnte es gut entbehren.“
„Er hat eine ausgesprochen moderne Art, sowohl in dem, was er sagt, wie in seinem ganzen Gebaren,“ äusserte jetzt Edith, die die von ihrer Freundin geschriebenen Tischkarten auf die Gläser legte — „ich neben Fritz, du hast wirklich Selbstverleugnung geübt, Lisa! — Ich hatte eher das Bedenken, ob er für eine Stadt wie Rodenburg und für die Nikolaigemeinde der rechte Mann ist.“
„Doch, doch!“ erwiderte Stoltzmann mit Entschiedenheit. „Wir haben hier sehr tüchtige Geistliche, aber einer, der fähig ist, höhere geistige Interessen auch ausserhalb der Kirche zu befriedigen, der gerade fehlt uns. Ich möchte ihn deshalb gern zu einigen Vorträgen heranziehen, so etwas brauchen wir in Rodenburg, es war immer mein Gedanke. Dazu kommt er mir gerade recht.“
Frau Lisa hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie überschaute mit prüfendem Blick die Tafel und zählte die Gläser.
„Seid ihr mit allem fertig?“ fragte Stoltzmann. „Es ist die höchste Zeit!“