Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller. Inger Frimansson
aber das passierte nie, und sie saß dort, bis zum Hals in der Erde.
Die Tiere: Kleintiere, schnüffelnde Tiere, Pelze mit wuscheligem Glanz. Oder die Rehe, die regungslos genau dort standen, wo der Wald in Felder überging, die Feuchtigkeit der Schnauzen, das Weiß in ihren Augen. Dort hinter der Wurzelwand war sie von ihnen umgeben, kauerte sich zusammen und war Schneewittchen, verlassen von dem Jäger. Sie dachte an ihn, und da schwoll es ein wenig an zwischen ihren Beinen, das Blut war jetzt zum ersten Mal aus ihr gekommen, aber sie war noch ein Kind. Und doch.
Und er führte sie in den Wald hinaus, und er hob sein Gewehr. Zielte direkt auf ihre linke Brust. Sie saß bei der toten Hindin, als er ging, sie schaute in die Wunde hinab. Er hatte darin gewühlt und geschnitten, das Herz mitgenommen. Was war eine Hindin? Sie wusste es nicht, aber der Körper war zerfleischt, und der Jäger trug nun das Herz zu jener Frau, die in Schneewittchens Zuhause wohnte.
Ich habe mit dem Mädchen getan, was du befohlen.
Für eine Sekunde zerbrechlich, griff dann nach dem Spiegel, sah ihr eigenes Bild.
Satisfaction.
Die Füchse kamen und die Mäuse. Und wie Flocken fielen die Federn der Eulen in das Wurzelloch hinab, in dem Schneewittchen saß. Wie warmer und schützender Schnee.
Tiere machten Flora krank, sie bekam eine Gänsehaut und ekelte sich. Die Katze schlich sich in die Diele, Flora jagte sie mit einem Besen wieder hinaus. Das Fell sträubte sich ihr, sie hob den Schwanz.
Als Papa abends gute Nacht sagte, erzählte sie ihm davon.
Er machte ein aufgelöstes Gesicht, strich ihr schwach über die Hand, lange, aber schwach.
Abend für Abend bat sie Papa um ein Tier, eine Katze oder einen Hund oder einen Vogel. Vielleicht hatte er gewollt, aber er war ein Spielball in Floras Hand.
»Etwa ein paar verlauste Mäuse mit ihren Dreckslöchern«, würde sie sagen und die geschminkten Porzellanaugen würden ihn anstarren, gnadenlos. »Bakterien und Gestank. Tiere sind Tiere, sie gehören nicht in menschliche Behausungen.«
Mit ihrem Blaufuchspelz war das etwas anderes. Er war tot. Sie bekam ihn an einem Wintertag. Er sollte sie besänftigen. Flora war jemand, der fast immer besänftigt werden musste.
6. KAPITEL
Berit Assarsson kam erst spät dazu, Mittagspause zu machen. Sie wusste nicht recht, wo sie essen sollte, ihr Hunger hatte sich mittlerweile schon wieder verflüchtigt, aber etwas musste sie auf jeden Fall zwischen die Zähne bekommen, wenn sie den Nachmittag überstehen wollte.
Sie redigierte gerade ein Buch über das Segeln. Sie verstand nicht besonders viel vom Segeln, aber da das Buch herauskommen sollte und sie den Auftrag bekommen hatte, sich darum zu kümmern, wollte sie sich möglichst keine Blöße geben.
Tor hatte ein Boot gehabt, als sie sich kennen lernten, und natürlich war es schön gewesen, zwischen den Schären hinauszugleiten und sich einen Ankerplatz für die Nacht in einer geschützten Bucht zu suchen. Aber alles andere! Er wurde so schnell gereizt, verlangte von ihr, die Übersicht über alle Leinen und Taue zu behalten, und in Krisensituationen vergaß er völlig, dass sie dazu nicht in der Lage war. Dann gab es Streit und unangenehme Szenen.
Sie verkauften das Boot und kauften sich stattdessen ein Wochenendhäuschen. Oder was man so Häuschen nennt. Es handelte sich um ein recht großes Haus, Anfang des Jahrhunderts gebaut und auf der Insel Vätö gelegen. Winterfest, so dass sie Weihnachten dort feiern konnten, was sie auch regelmäßig taten. Letztes Mal waren ihre beiden Söhne gekommen und hatten ihre Freundinnen mitgebracht.
Berit ging in die Markthalle am Hötorg. Es war kurz nach eins. Um diese Zeit war der größte Andrang schon vorbei. Sie bestellte einen Avocadoteller mit Krabben und einen großen Café au lait und setzte sich an einen der Tische in der Nähe der Blumenabteilung. Wie viele hübsche Tulpen es im Moment gab, welch herrliche Farben! Wenn das Thermometer jetzt noch ein paar Grad unter Null fiele und es ein wenig Schnee gäbe, sähe alles schon viel heller und freundlicher aus.
Die Avocado war ein wenig hart. Sie erwog, mit ihrem Teller zum Tresen zurückzugehen und sich zu beschweren, blieb dann aber doch sitzen. Wie oft hatte sie schon in dieser Markthalle gegessen? Mindestens einmal die Woche in all den fahren, die sie die Stelle im Verlag hatte. Sie versuchte, es im Kopf auszurechnen, sagen wir sechsundvierzig Wochen mal vierzehn, das macht, das macht, das macht...
Moment, letztes Jahr, als sie fünfundvierzig wurde, war sie verreist. Tor hatte sie mit den Tickets zu einer Weltreise überrascht.
»Konntest du nicht warten, bis ich fünfzig werde!«, rief sie aus, fast bestürzt über seine plötzliche Großzügigkeit.
Er hatte sie umarmt, schnell und unbeholfen.
»Wer weiß, ob wir noch so lange leben.«
Sie reisten und blieben fast zwei Monate fort. Das machte acht Wochen und dementsprechend achtmal, die sie nicht hier in der Halle gegessen hatte. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Taschenrechner, konnte ihn aber nicht finden.
Stattdessen war sie gezwungen, einen Kugelschreiber hervorzuholen und es schriftlich auszurechnen, genau wie Fräulein Messer es ihnen damals vor sehr langer Zeit in der Schule beigebracht hatte.
Sie kam auf weit über sechshundert Mal.
Also, weit über sechshundert Mal hatte sie hier unten in diesem kleinen Restaurant unterhalb der Rolltreppe gegessen.
Das ist dein Leben, Berit!
Immer öfter hatte sie ihr Leben satt. Immer öfter überkam sie das Gefühl, dass ihr Leben seinen Zenit überschritten hatte, als hätte es das bereits vor langer Zeit getan, und als wäre jetzt alles zu spät.
Alles, was denn alles?
Berit redete manchmal mit Annie darüber, die ihr Büro nebenan hatte. Sie hatten ungefähr gleichzeitig im Verlag angefangen, waren beide vorher länger mit den Kindern zu Hause gewesen, hatten beide Söhne.
Ja, alles ... Worauf man gewartet hatte, etwas, das noch kommen sollte.
Annie gab ihr Recht. Sie war vier Jahre jünger und gab ihr trotzdem Recht.
Ich frage mich, wann es aufgehört hat, dachte sie. Ich frage mich, wann man sich aus einem aktiven und jungen Menschen voller Erwartungen in eine roboterähnliche Maschine verwandelt hat.
Sie war wirklich noch nicht alt. Es kam vor, dass die Männer sie mit diesem besonderen Ausdruck im Blick betrachteten, aber in der Regel erst, wenn sie ihr vorgestellt worden waren. Ansonsten fiel sie kaum noch auf. Sie pflegte ihren Körper, pflegte ihr Gesicht, zeigte sich nie ungeschminkt, nicht einmal auf dem Land. Alle fünf Wochen ging sie zum Friseur, einem schwarzen und schönen Mann, der genau wusste, wie sie die Haare haben wollte.
Schade, dass er »andersrum« ist, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf, ich habe noch nie mit einem Neger gebumst. Sie wurde rot, als würde sie sich schämen.
Sie ließ den Blick über die Verkaufsstände schweifen. Fast immer traf sie irgendeinen Bekannten hier unten, so war es auch heute, da drüben glitt soeben Elisabet über den Boden der Markthalle, sie hatte eine ganz eigene Art, gleichsam vorwärts zu fließen, alles beiseite zu wischen, was sich ihr in den Weg stellte.
Jetzt entdeckte sie Berit, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Liebste, kleine Berit, sitzt du hier ganz solo? Darf ich mich einen Moment zu dir setzen und einen ... was trinkst du, café latte? Ich nehme auch so einen.«
»Eigentlich hatte ich gerade vor zu gehen. Aber setz dich ruhig, einen Moment kann ich ruhig noch bleiben.«
Elisabet war auch in der Verlagsbranche tätig, arbeitete aber in dem großen, weißen Haus am Sveaväg, dem Albert Bonniers Verlag.
»Wie geht es dir, Schätzchen, siehst du nicht ein bisschen blass aus?«
»Wirklich?«
»Ach was, das ist