Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller. Inger Frimansson

Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller - Inger Frimansson


Скачать книгу
zu versetzen, der in den Händen eines Verrückten ist.

      Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: ein Buch über dieses Mädchen zu machen. Sie zu überreden, eine Art Tagebuch über diese furchtbare Zeit als Eingesperrte zu schreiben. Sie wunderte sich, dass Melin & Gartner das noch nicht gemacht hatten, das war doch sonst ein Verlag, der immer auf Draht war. Verbrecher und ihre Opfer, suspekte Gestalten, das ließ sich verkaufen.

      Jetzt stand sie also doch da und dachte schon wieder an ihren verdammten Job! Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun!

      Suchend ging sie den geräumten und gestreuten kleinen Weg hinab. Hinten links lag es, das Familiengrab, das wohl kaum mehr als zwei Personen beherbergen würde. Familiengrab, so etwas hatte es früher einmal gegeben, als die Leute noch zu Hause blieben.

      Das Grab war verschneit. Mit den Handschuhen fegte sie den Stein sauber und sprach die Namen der beiden Menschen aus, die ihre Eltern gewesen waren. Es versetzte ihr einen Stich, sie sollte wirklich etwas öfter herkommen.

      Sie hatte Grablichter gekauft, für jeden der beiden eins.

      »Eins für Mama und eins für Papa«, flüsterte sie, während sie versuchte, die beiden Dochte anzuzünden, was schwerer war, als sie gedacht hatte. Der kleinste Lufthauch ließ das Streichholz wieder erlöschen. Dabei war es so gut wie windstill.

      »Ich denke auf jeden Fall an euch«, flüsterte sie. »Auch wenn es nicht immer danach aussieht, auch wenn ich nicht so oft herkomme. Ich denke manchmal an euch, das wisst ihr doch hoffentlich. Könnt ihr mich jetzt sehen, bewegt ihr euch jetzt über mir, unsichtbar, haltet ihr ein wachsames Auge auf mich? Gerade im Moment würde ich mir wünschen, dass ihr das tätet.«

      Sie waren beide an Krebs gestorben. Ihr Vater war Kettenraucher gewesen, seine mühsamen Atemzüge standen ihr noch vor Augen, sein Kratzen am Hemdkragen, wenn er nicht genügend Luft bekam.

      »Was immer du tust, Mädchen, fange nie mit dem Rauchen an«, hatte er ihr gesagt. Jedes Mal, wenn sie ins Krankenhaus kam, hatte er seine Worte wiederholt, »fange nie mit dem Rauchen an!«

      Er wusste nicht, dass sie bereits angefangen hatte. Nicht einmal der Anblick der ausgemergelten Gestalt dort auf dem Bettlaken konnte sie dazu bewegen, wieder aufzuhören.

      Ihre Mutter hatte Hautkrebs gehabt, die gleiche Krankheit, an der Tage Danielsson, der Kabarettist, irgendwann in den achtziger Jahren gestorben war.

      Sie waren schon alt, als sie Berit bekamen, so alt, wie sie selbst heute war. Sie hätten ebenso gut an Altersschwäche sterben können. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie glaubte, unfruchtbar zu sein. Aber als sie eine ganze Woche lang jeden Morgen das Frühstück wieder erbrach, musste sie einsehen, dass sie es nicht war.

      Berit verließ das Grab mit den beiden Kerzenflammen, die in der Januarsonne kaum zu erkennen waren. Sie folgte dem Hässelby Strandväg und ging an dem Haus vorbei, in dem sie aufgewachsen war. Es hatte sich nicht verändert. Sie fragte sich, wer jetzt dort wohnte, aber es regte sich nichts, der Gang zur Haustür war weiß und nicht freigeschaufelt.

      Hier war sie als Kind täglich gegangen, auf ihrem Weg zur Schule, die ein ganzes Stück entfernt lag. Es waren mehr Häuser geworden, ansonsten schien die Zeit hier seltsam stillzustehen. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihren früheren Klassenkameraden, erinnerte sich kaum noch an ihre Namen.

      Der Mälarsee lag ruhig da, es dampfte leicht von seiner Oberfläche. Sie sehnte sich nach Eis, danach, sich die Schlittschuhe anzuziehen und geradewegs auf den Horizont zuzulaufen. Fort von allem, was sie umgab, vom Alltag, den Menschen, fort von sich selbst. Plötzlich fror sie an den Händen und merkte, dass sie ihre Handschuhe am Grab vergessen hatte.

      Sie stand vor einem schmalen und hohen Steinhaus. Sie erinnerte sich an den Anblick dieses Hauses, sie war ein Kind.

       Justind verschwind, Justind verschwind!

      Ein Chor aus hellen Stimmen, und sie war ein Teil dieses Chors, und ihre Stimme war eine von denen, die sangen.

       Justein, herein, Justind verschwind, Justein herein und pisse fein.

      Es rauschte ihr in den Ohren, ihr wurde schwindlig.

      Eine Frau stand auf der Treppe. Sie hatte kurze, lockige Haare, trug eine geblümte Hose. Eine Frau stand auf der Treppe, und etwas an dieser Frau kam ihr bekannt vor. Berit hob den Arm.

      »Justine?«, sagte sie zögernd. »Ist das denn die Möglichkeit? Bist du es wirklich, Justine?«

      Da kam die Frau ihr entgegen, und ihre Augen waren grün und ihr Blick direkt.

      »Berit Blomgren! Wie eigenartig! Ich habe gerade an dich gedacht.«

      Die Worte hallten ihr entgegen.

      »Hast du?«, flüsterte sie.

      Die andere lachte.

      »Ja!«, rief sie. »Stell dir vor, das habe ich getan.«

      »Ich heiße jetzt allerdings Assarsson ...«

      »Aha. Ja natürlich, du bist bestimmt verheiratet.«

      »Genau.«

      »Ich war gerade dabei, den alten Tretschlitten rauszuholen. Du weißt schon, so einen, der vorne eine Ladefläche hat und bei dem man sich hinten auf die Kufen stellen kann. Man hat ja nicht mehr so oft Gelegenheit, ihn zu benutzen. Aber jetzt scheint es tatsächlich Winter zu werden.«

      »Wir hatten alle Tretschlitten, als wir klein waren. Ich bekam einen roten, den Papa selbst gestrichen hatte.«

      »Ich hatte nur einen ganz gewöhnlichen, lackierten. Er steht da draußen im Schuppen. Aber möchtest du nicht auf einen Sprung reinkommen, du siehst aus, als würdest du frieren.«

      »Ja ... warum nicht? Ich bin auf dem Friedhof gewesen. Ich muss meine Handschuhe dort vergessen haben.«

      »Möchtest du ein bisschen Glühwein, ich habe von Weihnachten noch eine Flasche übrig.«

      »Glühwein? Ja, das wäre jetzt genau das Richtige, das wärmt einen von innen.«

      Die Sonne flutete über den Fußboden. Berit trank von ihrem Glühwein und spürte, wie die Wärme zurückkehrte. Justine saß, das Kinn in die Hände gestützt, vor ihr und sah sie an. Ihr Gesicht war rund und weiß, sie hatte heute weniger Sommersprossen als früher. Sie war von Sommersprossen übersät gewesen.

      »Wie viele Jahre ist das jetzt her ...«, murmelte Berit, »seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«

      »Das war 1969, als wir mit der Realschule fertig waren.«

      »Ja ... Da muss es wohl gewesen sein.«

      Sie dachte eine Weile nach.

      »Mein Gott, das ist ja fast dreißig Jahre her!«

      »Ja.«

      »Hast du hier ... Du bist anscheinend hier geblieben, im Haus deiner Eltern?«

      »Ja.«

      »Hast du die ganze Zeit hier gewohnt?«

      »Ja.«

      »Sind sie tot ... Ja, ich erinnere mich, dass ich es in der Zeitung gelesen habe, als dein Vater gestorben ist. Da stand ziemlich viel über ihn drin.«

      »Stimmt. Papa ist tot. Flora ist in einem Pflegeheim.«

      »Flora, ja ... So hieß sie, deine Mama. Ich fand immer, dass es ein unheimlich schöner Name war. Sie war auch sehr schön, sie roch so gut.«

      »Sie war nicht meine richtige Mama.«

      »Nein, ich weiß.« Sie trank noch einen Schluck Glühwein, er war stark und würzig.

      »Meine Eltern liegen hier auf dem Friedhof begraben. Sie waren schon ziemlich alt, du erinnerst dich vielleicht. Ich blieb nicht sehr lange hier. Ich wollte weg. Außerdem traf ich recht früh meinen Mann, Tor heißt er, er ist Wirtschaftsprüfer. Klingt ziemlich trocken, nicht wahr?«

      Justine


Скачать книгу