Mörder im Hansaviertel. Frank Goyke

Mörder im Hansaviertel - Frank Goyke


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und eigentlich war es auch überflüssig, da ja eine Inventurliste vorlag, doch Uplegger hatte nun einmal von seiner verstorbenen Frau ein gewisses Interesse für die Künste geerbt. Die Namen T. Dąbrowski, Anđelko Kos oder Vuk Kovačić sagten ihm nichts, deuteten aber ein Interesse für östliche Künstler an. Eine kleine Landschaftsskizze war von dem Künstler Bukovac signiert, dem er im Arbeitszimmer des Mannes bereits begegnet war, hier nun erfuhr er obendrein den Vornamen: Vlaho. Es gab auch zwei eher expressionistische Aquarelle von einer Küste mit Windflüchtern, die aus dem Pinsel eines gewissen Rolf Kammerer stammten, dessen Namen Uplegger bereits gehört oder gelesen hatte und der seiner Meinung nach in oder bei Rostock lebte. Ein schlichter Holzrahmen enthielt die mit Goldfarbe auf blaues Papier geschriebenen Worte:

       RIONER

       ICH bin mit dem ersten schmutzigen HINTERN zufrieden, der sich bei mir vorstellt, nur muss er eine HAUT haben, die das LICHT nicht abstößt. ICH HINTERNHAUTLICHT.

       Auguste RENOIR

      Auch das sollte zweifellos ein Kunstwerk sein.

      Über Dorothee Klaas’ Schreibtisch hingen drei Bleistiftskizzen eines Segelschiffs mit geblähtem, aus einzelnen Bildern zusammengesetztem Segel, eindeutig das zum Stadtjubiläum entstandene und im Stadthafen festgemachte SHIP OF TOLERANCE. Auf einer der Skizzen stand die Widmung: For Doro the Best. Emilia & Ilya K.

      »Dunnerlittchen!«, entfuhr es Uplegger.

      »Was Sie nicht sagen!« Barbara Riedbiester war neben ihn getreten und beugte sich zu den Skizzen vor. »Gott, wie uninteressant! Ich habe etwas, da können Sie mindestens zweimal ›Dunnerlittchen!‹ rufen.«

      »Aber sehen Sie denn nicht? Zur 800-Jahr-Feier hat ein russisches Künstlerehepaar … Inzwischen leben sie wohl in den USA, in New York. Ich komme nicht auf den Namen …« Uplegger schnippte mit den Fingern, aber das half seinem Gedächtnis auch nicht auf die Sprünge. »Ka… Kabu…? Ich weiß es nicht. Es sind jedenfalls Konzeptkünstler …«

      »Uns bleibt auch nichts erspart«, sagte Barbara. »Konzeptkünstler! Aber noch schlimmer …«

      »Frau Klaas muss mit beiden befreundet gewesen sein.«

      »Sie sind ja ganz außer Atem vor Begeisterung«, stellte die Hauptkommissarin fest. »Frau Klaas hatte ihre Finger in allen möglichen Sachen: Sie ist Mitglied im Rostocker Kunstverein, sie ist an der Organisation der Rostocker Kunstnacht und der OZ-Kunstbörse beteiligt, sie hat Ausstellungen zum Jubiläum der Städtepartnerschaft Rostock-Rijeka kuratiert und und und. Habe ich etwas vergessen? Ja. Im letzten Jahr war Rijeka europäische Kulturhauptstadt. Es gab ein paar Beiträge aus Rostock, sozusagen freundschaftliche oder partnerschaftliche Beiträge. Maßgeblich beteiligt waren Dorothee Klaas, ihre Galerie und einige von ihr vertretene Künstler. Allerdings waren die Ausstellungsorte dann aufgrund von Corona lange geschlossen, einige Künstler bestanden darauf, ihre Werke nach Ablauf der vereinbarten Zeit zurückzuerhalten, obwohl die Veranstaltungen verschoben oder verlängert worden waren. Die Frau hatte das, was man früher Beziehungen nannte. Oder wie man es heutzutage ausdrückt: Sie war gut vernetzt. Und nun schauen sie doch endlich, was ich gefunden habe!« Barbara hielt ein Buch in der behandschuhten linken Hand und zeigte ihm zunächst die Vorderseite: Unter den Namen von vier Autorinnen stand der Titel Hrvatski za početnike 1. Udžbenik i rječnik. Der Verlag oder Herausgeber belegte ein kleines Feld in der linken unteren Ecke: Hrvatska Sveučilišna Naklada. Darunter befand sich ein kleines Symbol, ein aus 16 winzigen roten Quadraten gebildetes Quadrat, unter dem wiederum stand: Croaticum. Centar za hrvatski kao drugi i strani jezik. »Das allein ist schon furchtbar«, meinte Barbara. »Diese Sonderzeichen …«

      »Diakritische Zeichen«, sagte Uplegger.

      »Ach, Sie! Wie viel überflüssiges Wissen Sie angehäuft haben. Und nun schauen Sie weiter! Ich habe willkürlich eine Seite aufgeschlagen. Hier!« Sie öffnete das Buch. »Seite 213.« Barbara tippte auf eine Liste von Vokabeln, die offenbar zu einer Übung gehörten, bei der man Sätze ergänzen sollte. Die Sätze begannen mit Ponedjeljkom, Utorkom, Srijedom, Četvrtkom …

      »Sieht aus wie die Wochentage«, murmelte Uplegger. »Instrumental …«

      »Aber sehen Sie sich mal dieses Wort an!« Barbara wies auf Četvrtkom. »Ein Wort, das nicht nur mit einem Sonder… mit einem dia…?«

      »Diakritisch.«

      »… mit einem diakritischen Zeichen anfängt, nein, es gibt auch fünf aufeinanderfolgende Konsonanten. Wer soll denn so etwas aussprechen können?«

      »Kroaten«, erwiderte Uplegger lapidar.

      »Eine Sprache, in der es fünf aufeinanderfolgende Konsonanten gibt … Und in einem Fall, in der womöglich eine solche Sprache eine Rolle spielt, ermitteln wir … Heinrich, mir graut vor dir!«

      »Heinrich? Ach, so, natürlich … Sieht so aus, als hätte Frau Klaas Kroatisch gelernt.«

      »Genau danach sieht es aus.« Barbara zeigte auf ein Regal, auf dem mehrere Bücher lagen – in den Regalfächern standen dagegen Akten. »Ihre Liebe zu Kroatien muss wirklich riesig gewesen sein. Aber eins sage ich Ihnen, Uplegger, Sie sind derjenige von uns, der sein Abitur an der Herder-EOS gemacht hat. Das war eine Schule mit erweitertem Russischunterricht. Ich weiß es genau, Russisch ab der dritten Klasse.« Sie feixte. »Habe ich nicht gehört, wie sie voll Inbrunst ›Instrumental‹ geflüstert, nein, was sage ich, gestöhnt haben? Alle diese Sprache betreffenden Sachen erledigen Sie!«

      »Ich habe fast alles vergessen«, bekannte Uplegger, der sich dem Bücherstapel näherte, auf den seine Kollegin gedeutet hatte. Dieser befand sich neben einer ungefähr 30 Zentimeter hohen Drahtskulptur. Aus dem Draht war ein menschlicher Körper geformt, jedenfalls konnte man das mit etwas gutem Willen vermuten. Zunächst nahm Uplegger eine »Kompaktgrammatik Kroatisch« zur Hand, unter der sich ein Buch mit Verbtabellen befand. Dem folgte eine Broschüre mit dem Titel »Deutsche Lehnwörter in der Stadtsprache von Zagreb«, und er konnte nicht widerstehen, eine beliebige Seite aufzuschlagen. AUFGEREGT, las er, was wenig überraschend aufgeregt bedeutete, darunter das Wort AUFŠNIT für Aufschnitt und AUSPUH für Auspuff, was ihn amüsierte. Das nächste Buch machte bereits vom Titel einen anspruchsvollen Eindruck: »Heidelberger Publikationen zur Slavistik: Grammatikhandbuch des Kroatischen«. »Frau Klaas scheint Kroatisch nicht nur gelernt, sondern regelrecht studiert zu haben«, meinte er. »Mit geradezu wissenschaftlicher Akribie.«

      »Tja, bei dieser anscheinend überbordenden Liebe zu Kroatien wohl kein Wunder«, erwiderte Barbara, die sich über die Aktenordner hermachte. Auf den ersten Blick gab es nichts, was ihre Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte.

      Uplegger schlug auch das Grammatikhandbuch auf. Er las nur die eine Überschrift: Das präsentische Adverbialpartizip – das genügte ihm schon. Eine gewisse Bewunderung für die Tote erfüllte ihn, aber das Buch wollte er sofort schließen. Dann bemerkte er jedoch, dass einige Seiten weiter ein Foto einige Millimeter aus dem oberen Schnitt ragte, das vermutlich als Lesezeichen diente. Er öffnete das Buch an dieser Stelle. Ein sehr hübscher junger Mann lächelte ihn an. »Hier!«, rief er.

      Barbara Riedbiester, die stirnrunzelnd vor der Ablage mit der Aufschrift Penelope Pastor verharrte, drehte sich um. Mit dieser Künstlerin hatte sie bei einem früheren Fall zu tun gehabt; ihre Begegnung war nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, sondern hatte viel mehr eine ewige Aversion begründet.

      »Diente als eine Art Lesezeichen. Sie war bis zum nichtmodalen Vorgangspassiv vorgestoßen …«

      »Die Glückliche!« Seine Kollegin kam näher und betrachtete die Aufnahme. Der abgebildete junge Mann war um die 30 und sah aus wie ein Fotomodell. Er war schwarzhaarig, hatte braune Augen und ein strahlendes Zahnpasta-Werbungslächeln – ein solcher Mann kriegte alles herum, was er haben wollte – Frau, Mann, Diverses. Das wusste er, und das Lächeln hatte etwas Selbstverliebtes. Der Fotograf oder die Fotografin hatte nicht nur sein Gesicht aufgenommen, sondern auch seinen vielversprechenden Oberkörper, der in einem quergestreiften Shirt verpackt war und verriet, dass in dieser


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