Outsider. Jonathan Wilson

Outsider - Jonathan Wilson


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Nazideutschlands im Jahr 1941 wurde Trussewitsch dann tatsächlich zum Sinnbild für die zentrale Botschaft des Romans. Nicht wenige Ukrainer sahen die Invasion als Möglichkeit, das sowjetische Joch abzuschütteln, und kollaborierten mit den Deutschen. Trussewitsch jedoch war ein überzeugter Kommunist. Nachdem er seine jüdische Frau und seine Tochter nach Odessa geschmuggelt hatte, kämpfte er auf der Seite des Widerstands. Kurz vor dem Fall Kiews bekam er einen Schuss ins Bein, wurde gefangengenommen und in ein Lager bei Darnyzia gesperrt. Nachdem er einen Treueeid unterzeichnet hatte, wurde er wieder entlassen. Offenbar kehrte er danach zu seiner Wohnung zurück und fand sie zerstört vor. Somit war er gezwungen, auf der Straße zu leben, gepeinigt von der Trauer um seine Stadt. Dazu kamen die Schuldgefühle, weil er sich der deutschen Herrschaft unterworfen hatte. Als er einige Monate später an einem Café vorbeiging, sah ihn ein Bäckereileiter namens Josef Kordyk.

      Der dicke, rosahäutige Kordyk war ein Tscheche aus Mähren, der während des Ersten Weltkriegs auf deutscher Seite gekämpft hatte. Die sowjetischen Behörden hatten ihm die Rückkehr in die Heimat zunächst nicht erlaubt, und so war er nach dem Waffenstillstand von 1918 in der Ukraine gestrandet. Während er um seinen Platz im Leben kämpfte, wurde Fußball sein liebstes Vergnügen und er selbst ein begeisterter Anhänger von Dynamo. Doch obwohl er heiratete und eine Tochter bekam – wohl auch der Grund, weshalb er nach der Aufhebung des Heimkehrverbotes in der Ukraine blieb –, scheint er nachtragend gegenüber den Sowjets gewesen zu sein. Für ihn war die deutsche Invasion deshalb eine Chance. Mit der Lüge, gebürtiger Österreicher zu sein, beanspruchte er den Status eines Volksdeutschen und wurde mit der Leitung einer Bäckerei betraut.

      Kordyk erkannte Trussewitsch wieder und stürzte aus dem Café, um mit ihm zu reden. Nachdem er sich Trussewitschs Geschichte angehört hatte, bot er ihm einen Arbeitsplatz und ein Bett für die Nacht in der Bäckerei an. Als er erfuhr, dass noch weitere Spieler mit ganz ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, besorgte er auch ihnen Arbeitsplätze.

      Da die Deutschen sehr darauf aus waren, das Leben in der Stadt wieder zu normalisieren, gestatteten sie im Frühjahr 1942, dass wieder Fußball gespielt werden durfte. Da inzwischen einige ehemalige Dynamo-Spieler für ihn arbeiteten, lag es nahe, dass auch Kordyk eine Mannschaft meldete. Sie firmierte unter dem Namen „Start“. Anfangs war Trussewitsch dagegen, in einem Wettbewerb der Deutschen mitzuspielen. Man konnte ihn aber davon überzeugen, dass sie, wenn sie erfolgreich spielten, zum Sammelbecken für die Opposition werden konnten, zudem man auch noch einen Posten roter (und damit kommunistisch anmutender) Trikots ausfindig gemacht hatte.

      Start schlug alles, was ihnen vor die Rohre kam. Man zerpflückte ein ungarisches Garnisonsteam mit 6:2 und eine rumänische Truppe mit 11:0. Da Start immer berühmter wurde, kamen immer mehr Zuschauer. Am 17. Juli 1942, einem Freitag, wurden erste Anzeichen von Unbehagen auf Seiten der Behörden erkennbar, nachdem die deutsche Garnisonsmannschaft PGS mit 0:6 verloren hatte. Erstmals erschien in der Zeitung Nowo Ukrainski Slowo ein Spielbericht, und zwar von einem Schreiber, der sich „RD“ nannte. Er versuchte, die Niederlage mit dem rumänischen Schiedsrichter und dem holprigen Platz zu entschuldigen, und wies darauf hin, dass PGS Trainingsrückstand hatte. Außerdem sei Start zehnmal im Abseits gestanden, die Deutschen dagegen überhaupt nicht.

      Zwei Tage darauf gewann Start mit 5:1 gegen MSG, ebenfalls eine ungarische Garnisonsmannschaft. Ihr gehörten allerdings auch ehemalige Profispieler an, die das Training durchaus ernst nahmen. Dieses Mal konzentrierte sich der Bericht von RD besonders auf die Tatsache, dass die Ungarn bereits frühzeitig einen Mann wegen Verletzung verloren hatten und den Großteil des Spiels deshalb mit nur zehn Mann bestreiten mussten. In der Woche darauf kam es zu einem Revanchespiel, das offenbar vom Kapitän der Ungarn organisiert worden war. Start legte rasch eine 3:0-Führung vor, bekam dann aber noch zwei Gegentore. Es scheint ein tolles Match gewesen zu sein, und die Ungarn geizten nach dem Spiel auch nicht mit Lob für Start.

      Am gleichen Tag kickte die Flakelf, eine Luftwaffenmannschaft mit einer Reihe ehemaliger Profis, gegen Ruch, ein Team aus ukrainischen Nationalisten, die große Sympathien für das neue Regime hegten. Dabei handelte es sich wohl um ein Trainingsspiel vor der Partie gegen Start, in der die Überlegenheit der Deutschen gegenüber dem slawischen „Untermenschen“ wiederhergestellt werden sollte.

      Am 28. Juli gab Stalin als Reaktion auf den Verlust von Rostow am Don den Befehl Nr. 227 aus, auch bekannt als „Keinen Schritt zurück“: „Panikmacher und Feiglinge sind auf der Stelle zu vernichten. […] Die Rückzugsstimmung der Truppe muss bedingungslos unterbunden werden. […] Armeekommandeure, welche ein eigenmächtiges Verlassen der Stellungen […] dulden, sind sofort ihrer Posten zu entheben und vor ein Kriegsgericht zu stellen.“ Der Befehl wurde von Widerstandsgruppen in Kiew verbreitet, und mit Sicherheit werden ihn auch die ehemaligen Fußballspieler in der Bäckerei gelesen haben.

      Start spielte am 6. August, einem Donnerstag, gegen die Flakelf. Trotz erhöhter deutscher Präsenz auf den Zuschauerrängen war die Menschenmenge im Zenitstadion kleiner als gewöhnlich, wahrscheinlich, weil das Spiel unter der Woche stattfand. Start siegte mit 5:1, allerdings erschien in der Nowo Ukrainski Slowo kein Bericht, und weitere Einzelheiten sind nur schwer herauszufinden. Am nächsten Tag tauchten Plakate in Kiew auf, die auf Deutsch und Russisch Werbung für eine „FUSSBALL SPIEL REVANCHE“ am 9. August machten.

      Dieses Mal war das Stadion bis auf den letzten Platz besetzt, und auf Seiten der Deutschen war man fest entschlossen, nicht zu verlieren. Die vielen Legenden zu durchdringen, die sich um das Spiel ranken, ist unmöglich. Es scheint aber, dass der Schiedsrichter ein Deutscher war. Ob er aber wirklich ein zur Glatze neigender SS-Offizier mit fließenden Russischkenntnissen war, wie von manchen behauptet wird, ist äußerst ungewiss. Es heißt, dass er die Start-Spieler vor dem Anpfiff warnte, auch ja den Hitlergruß zu zeigen. Die sollen das ignoriert und stattdessen die Hand aufs Herz geschlagen und „Fizkult-Hurra!“ gerufen haben, den traditionellen Ausruf sowjetischer Sportler. „Fizkult“ ist eine Abkürzung für „Fizitscheskaja kultura“, was so viel bedeutet wie „Körperkultur“, während „Hurra!“ deutlich aggressiver besetzt ist als im Deutschen und auch der Schlachtruf sowjetischer Truppen auf dem Weg in den Kampf war.

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       Ein Plakat kündigt das Match an, das später als „Todesspiel“ in die Geschichte eingehen sollte.

      Doch selbst dieser Vorfall ist umstritten. Noch schwieriger ist es, den Spielverlauf nachzuvollziehen. Nach Kriegsende scheinen die sowjetischen Behörden zunächst so getan zu haben, als ob die Partie überhaupt nicht stattgefunden habe. Sie waren besorgt, dass Dynamo-Spieler womöglich an etwas teilgenommen hatten, das man als Kollaboration auslegen könnte. Bald aber wurde das Spiel zu einem Propagandainstrument, wobei die Kommunistische Partei und unzufriedene ukrainische Nationalisten zwei unterschiedliche Versionen des Geschehens verbreiteten. Als Sporthistoriker Mitte der 1990er Jahre schließlich die Originalquellen zu überprüfen begannen, waren die meisten Augenzeugen bereits tot. Bei den noch Lebenden war die Erinnerung vielfach längst durch die verschiedenen „offiziellen“ Versionen verzerrt worden.

      Im Folgenden kann also nur vermutet werden, wie das Spiel abgelaufen sein muss. Anscheinend trat die Flakelf aggressiver auf als in der ersten Begegnung. Mehrere böse Angriffe, insbesondere gegen Trussewitsch, blieben ungeahndet. Die Flakelf ging in Führung, aber Start kam zurück und lag zur Pause mit 3:1 vorn. So viel ist im Großen und Ganzen unumstritten.

      In der Pause soll Start dann angeblich zwei Besuche in der Umkleide bekommen haben, und zwar von einem anderen Spieler, einem Nationalisten und Kollaborateur, sowie vom Schiedsrichter. Beide warnten vor den ernsthaften Konsequenzen, sollte Start am Ende gewinnen. Trussewitsch, so heißt es, hielt eine mitreißende Ansprache und forderte seine Mannschaftskameraden eindringlich auf, nichts auf die Drohung zu geben. Die Anfangsphase der zweiten Halbzeit lässt sich am schwersten rekonstruieren. Sicher scheint jedoch, dass jeweils zwei Tore auf beiden Seiten fielen, auch wenn die Reihenfolge strittig ist.

      Als Start schließlich vier Minuten vor Schluss mit 5:3 führte, soll der jugendliche Stopper Oleksij Klymenko von hinten angerannt gekommen sein und den Torhüter umkurvt haben. Dann sei er mit dem Ball bis zur Torlinie gelaufen und


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