Nana. Emile Zola

Nana - Emile Zola


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und es setzte ein Geschiebe ein, jeder wollte durchkommen, während sich die Kartenkontrolleure geradezu vervielfältigten.

      Mignon erwischte endlich mit unruhiger Miene Steiner wieder, der das Kostüm Roses nicht ansehen gegangen war. Beim ersten Läuten hatte sich La Faloise einen Weg durch die Menge gebahnt, wobei er Fauchery mit sich zog, um die Ouvertüre nicht zu versäumen. Diese Hast des Publikums brachte Lucy Stewart auf. Was für rücksichtslose Personen, die die Frauen anrempelten! Sie blieb mit Caroline Héquet und ihrer Mutter als letzte zurück. Das Vestibül war leer; der Boulevard hinten behielt sein anhaltendes Grollen bei.

      „Als ob ihre Stücke immer spaßig wären!“ meinte Lucy mehrmals, während sie die Treppe hinaufging.

      Im Zuschauerraum sahen sich Fauchery und La Faloise vor ihren Plätzen erneut um. Jetzt erstrahlte der Zuschauerraum. Hohe Gasflammen entzündeten den großen Kristallkronleuchter mit einem Geriesel gelber und rosa Feuer, die sich vom Kuppelgewölbe bis ins Parkett in einem Regen von Licht brachen. Der granatfarbene Samt der Sitze flammte wie Lack, während die Goldverzierungen leuchteten und die zartgrünen Ornamente ihren Glanz unter den allzu grellen Malereien der Decke milderten. Die erhöhte Rampe legte mit einer jähen Fläche von Licht Brand an den Vorhang, dessen schwere Purpurdraperie von dem Reichtum eines Märchenschlosses war, was grell gegen die Dürftigkeit des Rahmens abstach, wo Risse den Gips unter der Vergoldung sehen ließen. Es war schon warm.Die Musiker stimmten an ihren Pulten die Instrumente unter leichten Flötentrillern, gedämpften Hornseufzern und singenden Violinstimmen, die sich inmitten des anwachsenden Stimmengewirrs aufschwangen. Beim Sturm auf die Plätze redeten alle Zuschauer, stießen sich und ließen sich nieder; und das Gedränge auf den Gängen war so gewaltig, daß jede Tür nur mühsam einen unversiegbaren Strom von Menschen hindurchließ. Es war ein Winken mit Zurufen, ein Rauschen von Stoffen, eine Parade von Röcken und Frisuren, die vom Schwarz eines Fracks oder eines Gehrocks unterbrochen wurden. Doch allmählich füllten sich die Sesselreihen; eine helle Toilette hob sich ab, ein Kopf mit feinem Profil senkte seinen Haarknoten, über den das Aufblitzen eines Schmuckstückes hinlief. In einer Loge hatte ein Stück einer nackten Schulter ein seidiges Weiß. Andere Frauen fächelten sich ruhig und lässig Luft zu, wobei sie dem Gestoße der Menge mit den Blicken folgten, während junge Herren, die mit weit offener Weste, eine Gardenia im Knopfloch, im Parkett standen, ihre Operngläser mit ihren behandschuhten Fingerspitzen umherrichteten.

      Jetzt suchten die beiden Vettern die Gesichter von Bekannten. Mignon und Steiner saßen Seite an Seite zusammen in einer Parterreloge, die Handgelenke auf den Samt der Brüstung gestützt. Blanche de Sivry schien ganz allein eine Proszeniumsloge im Parkett einzunehmen. Aber La Faloise musterte vor allem Daguenet, der einen Sperrsitz zwei Reihen vor ihm hatte. Neben ihm riß ein blutjunger Mann von höchstens siebzehn Jahren, irgendein Wildfang, seine schönen Cherubinoaugen ganz weit auf. Fauchery lächelte, als er ihn betrachtete.

      „Wer ist denn diese Dame auf dem Balkon?“ fragte La Faloise plötzlich. „Die mit einem jungen Mädchen in Blau neben sich.“ Er deutete auf eine dicke, in ihr Korsett eingeschnürte Frau, deren ehemals blondes Haar weiß geworden und gelb gefärbt war und deren rundes, rotgeschminktes Gesicht sich unter einem Regen kleiner, kindlicher Löckchen aufblähte.

      „Das ist Gaga“, antwortete Fauchery bloß. Und da dieser Name seinen Vetterzu verblüffen schien, fügte er hinzu: „Du kennst Gaga nicht? — Sie hat die ganze Lust und Wonne in den ersten Jahren der Herrschaft Louis-Philippes ausgemacht. Jetzt schleppt sie ihre Tochter überall mit hin.“ La Faloise hatte keinen Blick für das junge Mädchen übrig. Der Anblick Gagas erregte ihn, seine Augen ließen sie nicht mehr los; er fand sie immer noch sehr gut aussehend, wagte es aber nicht zu sagen.

      Inzwischen hob der Kapellmeister seinen Geigenbogen; die Musiker stimmten die Ouvertüre an. Immer noch traten Leute ein; die Unruhe und der Lärm wuchsen an. Unter diesem besonderen Premierenpublikum, das sich nicht veränderte, gab es vertrauliche Winkel, wo man sich immer wieder lächelnd einfand. Stammgäste wechselten, den Hut auf dem Kopf, ungezwungen und vertraulich Grüße. Paris war anwesend, das Paris der Literatur, der Finanz und des Vergnügens, viele Journalisten, einige Schriftsteller, Börsenleute und mehr Dirnen als anständige Frauen; eine eigenartig gemischte Gesellschaft, aus allen Talenten zusammengesetzt, von allen Lastern verdorben, über deren Gesichter dieselbe Erschöpfung und dasselbe Fieber strich. Fauchery, den sein Vetter ausfragte, zeigte ihm die Logen der Zeitungen und der Klubs, dann nannte er die Theaterkritiker bei Namen, einen mageren mit vertrockneter Miene und verkniffenen, bösartigen Lippen und besonders einen dicken, gutmütig aussehenden, der sich gegen die Schulter seiner Nachbarin lehnte, einem unschuldig wirkenden Mädchen, das er unverwandt väterlich und zärtlich anblickte.

      Aber er hielt inne, als er sah, wie La Faloise Leute grüßte, die in einer Mittelloge Platz genommen hatten. Er schien überrascht.

      „Was?“ fragte er. „Du kennst Graf Muffat de Beuville?“ „Oh, seit langem“, antwortete Hector. „Die Muffats hatten ein Gut in der Nähe von unserem. Ich gehe oft zu ihnen . . . Der Graf ist mit seiner Frau und seinem Schwiegervater, dem Marquis de Chouard, zusammen.“ Und aus Eitelkeit, glücklich über das Erstaunen seines Vetters, legte er Nachdruck auf Einzelheiten: der Marquis sei Staatsrat, der Graf sei vor kurzem zum Kammerherrn der Kaiserin ernannt worden.

      Fauchery, der sein Opernglas ergriffen hatte, betrachtete die Gräfin, eine mollige Brünette mit weißer Haut und schönen schwarzen Augen.

      „Du wirst mich in einer Pause vorstellen“, sagte er schließlich. „Dem Grafen bin ich schon begegnet, aber ich möchte zu ihren Dienstagsempfängen gehen.“

      Energisches Pst-Pst drang aus den oberen Rängen. Die Ouvertüre hatte begonnen, es kamen immer noch Leute herein. Die Nachzügler zwangen ganze Reihen von Zuschauern aufzustehen. Die Logentüren klappten. Grobe Stimmen stritten sich auf den Gängen. Und das Geräusch der Gespräche hörte nicht auf, gleich dem Geschilpe eines Schwarmes schwatzhafter Spatzen, wenn der Tag zur Neige geht. Es herrschte ein Durcheinander, ein Gewirr von Köpfen und Armen, die sich hin und her bewegten, da die einen sich setzten und es sich bequem zu machen suchten und die anderen eigensinnig stehen blieben, um einen letzten Blick um sich zu werfen. Der Ruf „Hinsetzen! Hinsetzen!“ ertönte ungestüm aus den dunklen Tiefen des Parketts. Ein Schauer war darüber hingestrichen: endlich sollte man also diese berühmte Nana kennenlernen, mit der sich Paris seit acht Tagen beschäftigte.

      Nach und nach flauten die Gespräche jedoch kraftlos ab mit wieder einsetzenden undeutlichen Stimmen. Und inmitten dieses vor Wonne vergehenden Gemurmels und dieser ersterbenden Seufzer stimmte das Orchester mit schnellen, feurigen Noten einen Walzer an, dessen pöbelhafter Rhythmus wie das Lachen über eine Zote klang. Das Publikum lächelte bereits gekitzelt. Doch die Claque in den ersten Parkettreihen klatschte rasend in die Hände. Der Vorhang hob sich.

      „Sieh mal!“ sagte La Faloise, der immer noch plauderte. „Da ist ein Herr bei Lucy.“ Er schaute zur Proszeniumsloge rechts auf dem Balkon hinauf, in der Caroline und Lucy die vorderen Plätze einnahmen. Im Hintergrund gewahrte man das würdige Gesicht von Carolines Mutter und das Profil eines großen Burschen mit schönem blondem Haar und untadeliger Haltung. „Sieh doch!“ wiederholte La Faloise beharrlich. „Es ist ein Herr da.“

      Fauchery entschied sich, sein Opernglas auf die Proszeniumsloge zu richten. Aber er wandte sich sofort wieder ab. „Ach, das ist Labordette“, murmelte er mit unbekümmerter Stimme, als müsse die Anwesenheit dieses Herrn für jedermann selbstverständlich und ohne Bedeutung sein.

      Hinter ihnen wurde „Ruhe!“ gerufen. Sie mußten schweigen. Der Zuschauerraum war nun mit Reglosigkeit geschlagen; weite Flächen aufrechter und aufmerksamer Köpfe stiegen vom Sperrsitz bis zu den hinteren Plätzen an. Der erste Akt der „Blonden Venus“ spielte im Olymp, einem Olymp aus Pappe, mit Wolken als Kulissen und Jupiters Thron zur Rechten. Zuerst sangen Iris und Gany med, von einer Schar himmlischer Diener unterstützt, einen Chor, wobei sie die Stühle für den Rat der Götter aufstellten. Erneut setzten von ganz allein die regelmäßigen Bravorufe der Claque ein; das Publikum, das sich nicht ganz zurechtfand, wartete ab. La Faloise hatte jedoch Clarisse Besnus Beifall geklatscht, einem der kleinen Weiber Bordenaves, die in zartem Blau, eine große siebenfarbige Schärpe um


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