Drachentöter. Rudolf Stratz
Rudolf Stratz
Drachentöter
Roman
Saga
Drachentöter
Copyright © 1925, 2018 Rudolf Stratz und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711507223
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 3.0
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Erste Begebenheit
Im stossweisen, schütternden Gebrüll des herbstlichen Nachtsturms draussen ertrank das weinerliche Kreischen der durchfeilten Eisenstäbe. Der Vollmond warf bläulichen Glast auf die lange, schweigende Reihe der Gitterfenster des Gefängnisses. Vor dem Dunkel des einen Fenstervierecks im dritten Stockwerk bewegten sich zwei weisse Flecke. Zwei Männerhände.
Die beiden Hände trennten vorsichtig mit der geschnörkelten Fläche des Stahlplattschneiders die fingerdicken Eisenstäbe, lösten sie von den, in der Mauer steckengebliebenen Stumpfen, zogen sie behutsam in das Innere der Zelle.
Ein grösserer heller Flecken erschien in der leeren Fensteröffnung. Ein Gesicht. Das Gesicht eines bartlosen, jungen Mannes. Kalte Nachtluft umpfiff den spähend hinausgesteckten Kopf und trocknete auf der Stirn die Schweissperlen siebenstündiger Arbeit. Uff! Das Eisen war hart. Der Wille war härter. Ein Blick in die schwindelnde Tiefe des Gefängnishofs. Trapp . . . Trapp . . . da unten der Posten . . . Langsam vorbei . . .
Nun schnell . . . Es ist nicht viel Zeit mehr zu verlieren . . . So ein Gefühl, als ob bald der Morgen grauen würde . . . Um fünf Uhr kommen sie . . . dann revidieren sie die Zelle . . . dann war alle Mühe umsonst . . . Der Gefangene schob langsam den Oberkörper in das gesprengte Fenster. Er schaute furchtlos und schwindelfrei in den Abgrund. Sein Antlitz eines Dreissigjährigen war ehern hart und ruhig. Es zuckte nicht, als die spitzen Zacken der zerfeilten Stäbe in Kittel und Haut schnitten. Aber Blutspuren durften nicht sein. Die rote Fährte, die man hinterliess, erschwerte die Flucht. Er stieg noch einmal vom Schemel auf den Boden der Zelle zurück. Auf dem Holztisch lag der gestrige Brief seines Verteidigers. Er nahm das Blatt und kletterte wieder mit ihm in die Höhe und riss ein Stück von dem Papier ab und las, während er es zum Schutz des Körpers um das eine zerfeilte Endstück des Gitters wickelte, mechanisch im Mondschein die Schreibmaschinen-Schrift . . . „weiss jeder bei uns, dass Sie, verehrter Herr Hauptmann, im Krieg mit Ihrem gefürchteten Flugzeuggeschwader nur heldenhaft Ihre Pflicht auf Befehl Ihrer Vorgesetzten taten . . .“
Er befestigte ein zweites Briefschnitzel um die zweite Schnittfläche und las: „. . . und dass Sie bei Ihren verwegenen Bomben-Abwürfen über feindlichen Städten sicherlich jede unnütze Grausamkeit vermieden haben . . .“
Den Rest der Seite für den dritten Mauerstumpfen. Auf ihr stand: „Jedoch der Frieden von Versailles verpflichtet in seinen Strafbestimmungen, Teil VII, Artikel 228, Absatz 2, Deutschland, den gegnerischen Mächten alle vom Feind bezeichneten deutschen Männer auszuliefern . . .“
Der Untersuchungsgefangene umhüllte das letzte Gitterende mit der zweiten Briefseite. Er las dabei: „Sie, verehrter Herr Hauptmann, stehen auf dieser Ehrenliste und sehen der Gerichtsverhandlung entgegen, die allerdings, nach neuerer Milderung, vor deutschen Gerichten stattfindet. Aber hat sich unser unglückliches Vaterland, das auf Befehl des Feindes seine eigenen Verteidiger als ‚Kriegsschuldige‘ richten soll, nicht in Artikel 231 des Versailler Vertrags wider besseres Wissen vor der Welt als alleinigen Kriegsschuldigen bekannt, und damit auch seine Söhne — alle, die Deutsche sind . . .?“
Glockenschläge draussen von den Kirchen. Eins — zwei — drei — vier — fünf. Fünf Uhr morgens . . . Höchste Zeit. Der Mann im langen, weissleinenen Kranken-Nachtkittel und braunen, schwarzgestreiften Sträflingshosen spähte hinab in die Tiefe. Der Hof war leer. Die Schildwache auf der anderen Seite. Sein Antlitz war so unbewegt, wie es seine Freunde an ihm kannten. Er zwängte seine mittelgrosse, sehnige Gestalt durch die enge Luke und schleuderte einen Mauerhaken mit einer daran befestigten seidengeknüpften Strickleiter nach oben, dass sie fest am Rohr des Blitzableiters hing. Er drehte sich, streckte ein Bein aus, suchte im Leeren, fasste Fuss, zog das zweite Bein nach, stand, in der tosenden, kalten und mondhellen Finsternis, wild schaukelnd, fast frei in der Luft, nur durch das seidendünne Nichts unter seiner einen Sohle von dem Tod in der Tiefe geschieden. Klommi empor — gleichmässig — sicher — Hand um Fuss — bis unter das Gebält.
Über das bog sich, in weitem Schwung von oben laufend, das Rohr des Blitzableiters. Er umklammerte es mit Armen und Beinen. Hing, das Antlitz gen Himmel, den Rücken nach dem Hof unten, und verpustete und hörte in den Pausen des Sturmes sein eigenes wildes Röcheln.
Und in einer solchen Windstille ein leises Trapp . . . Trapp . . . Es kommt immer näher . . . Trapp . . . Trapp . ., der Posten . . . Und zugleich ein Zucken durch Leib und Seele: Du bist geliefert! Der Kerl muss dich ja sehen — wie du da oben zwischen Himmel und Erde schwebst, an die sich bäumende Wölbung des Blitzableiters geheftet . . .
Trapp . . . Trapp . . . Ist der Mensch denn blind? Das Mondlicht ist doch wahrlich hell genug! Jetzt muss er gerade unter einem sein . . . Ruft er denn noch nicht an?
Oder hat er angerufen und der wieder einsetzende Sturm hat es verweht? Gleich wird er schiessen! Man plumpst wie ein Mehlsack in die Tiefe und klatscht unten als ein blutiger Brei auf dem Pflaster auf . . .
Noch nicht? . . .
Trapp . . . Trapp . . . Leiser schon — ferne . . . der Flüchtling wandte mit Mühe den Kopf über die Schulter, so dass er hinunterschauen konnte, und atmete auf: Gesegnet der Dachvorsprung und sein Schlagschatten, dessen Dunkel selbst die Umrisse eines Menschen verschwimmen liess und einem Blick von unten unsichtbar machte . . .
Er hatte wieder Kräfte. Er kletterte an dem Blitzableiter in die Höhe, kippte mit einem Bauchschwung über die Dachrinne, sass oben, löste den Haken, zog ihn mit den Seidensprossen nach, wickelte sie sich um die Brust. Schaute zum ersten Male frei um sich . . . Frei . . . Seltsam die ungewohnte, frische Nachtluft . . . seltsam das Funkeln der Sterne- über dem wirren, blossen, braunen Haar, seltsam, nach der Enge der Zelle, den Blick in nächtige Weite, über ein schlafendes Dächermeer nach Deutschland hinaus . . . Deutschland, das seine Besten dem Feind zum Frasse vorwirft — Deutschland — mein Deutschland heute und immer — trotz allem . . .
Deutschland — ich komme!. . . Der fliehende Mann setzte sich wieder in Bewegung. Er schob sich, halb sitzend, halb liegend, über die vom Tau des kalten Oktobermorgens glitscherigen Schieferplatten des Daches bis an das andere Ende.
Undeutlich ragte, dem gegenüber, in der Finsternis der Turm der Gefängniskirche. Ihr Spitzdach war etwas niederer als das des Hauptgebäudes. Dazwischen gähnte ein leerer Luftraum — zwei Manneslängen breit. Schwindelnd ging es da hinab in die Tiefe des Hofes. Es war ein Sprung auf Tod und Leben. Ein Zoll zu kurz — ein Sturz in die Ewigkeit . . .
Der Flüchtling stand jetzt aufrecht auf den Dachplatten. Hier oben konnte ihn niemand sehen. Trotzdem war er nicht allein. Um ihn im Mondschein, durchsichtig-feldgrau, rechts und links von ihm in Reihen, standen Schattengestalten. Vertraute Gesichter, die längst nicht mehr waren, sahen ihn an. Bekannte, längst stumm gewordene Stimmen riefen — die toten Kameraden der Flugstaffel — sie alle, alle tot . . . gefallen in zwei Erdteilen, an fünf Fronten, gefallen für Deutschland. Er allein, ihr Führer, durch Wunder Gottes und Schlachtenglück, fünfmal verwundet, abgestürzt, gefangen, entflohen und schliesslich doch am Leben. Die hageren Schatten hoben die Arme. Die mageren Gesichter lachten. Die verwegenen Augen blitzten: „Fliege noch einmal, lieber Hauptmann! Fliege durch die Luft — für Deutschland — und sei’s dein