Drachentöter. Rudolf Stratz
braunen Sträflingshosen — den blossen Kopf — den Hals ohne Kragen. Dann schaute sie ihm finster, prüfend ins Gesicht. Er fühlte die Gedankenarbeit hinter ihrer leise gefurchten Stirn. Sie zuckte, in einer plötzlichen Herausforderung, die Achseln:
„Glauben Sie ja nicht, dass mit mir hier die Sache erledigt ist! Die anderen kriegen Sie nicht. Die arbeiten weiter. Ihr Bruder vor allem! Er wird mich rächen! Denn er steht mir nahe. Er geht jetzt gerade nach München! Er ist wahrscheinlich sogar schon dort! Deswegen war ich so erstaunt, wie ich ihn hier zu sehen glaubte. Und Sie können niemanden in München warnen! Denn Sie sitzen ja selber im Gefängnis!“
„Deswegen kann ich doch die Namen derer nennen, die gewarnt werden sollen!“
„Ich glaube nicht, dass Sie alle Namen und geheimen Verbände aufdecken können, ohne eurer Sache furchtbar zu schaden! Es sind sicher viele darunter, die die Entente als Kriegsschuldige sucht und deren Auslieferung sie sofort verlangen wird, wenn ihr Aufenthaltsort bekannt ist!“
Er antwortete nicht gleich. Er wusste: Das war nur zu wahr . . . Er überlegte finster . . . das Haupt unter der niederen Decke gesenkt. Im Wagen war Schweigen . . .
Draussen brülte ein Nebelhorn wie auf hoher See. Dann überschnappte sich, als es ausgeheult hatte, eine gellende Fistelstimme: „Die Kindesmörderin! . . . Wo steckt denn zum Donnerwetter die Kindesmörderin?“ Viele Rufe wiederholten — es klang wie Fanfaren bis in die Ferne: die Kindesmörderin . . . die Kindesmörderin . . . wieder trompetete eine übermenschlich laute Stimme, scheinbar hoch von oben, aus der Luft: „Ruhe jetzt! . . . Für die Hinrichtung!“ Schrille Signalpfeifen antworteten trillernd von vier, fünf Seiten.
„Hören Sie: Da ist schon die Rede von der Hinrichtung“, sagte der innen im Wagen zu der jungen Frau. Sie mass ihn schweigend, mit einem Blick unergründlichen Hasses. Sie hatte jetzt ihre volle Selbstbeherrschung wieder. Sie langte in ihr Täschchen. Er war bereit, mit einem Ruck die Finger um ihr Handgelenk zu werfen, sobald da ein Revolver zum Vorschein kommen sollte. Aber sie holte sich nur eine kleine, silberne Dose heraus, entnahm ihr eine Zigarette und schlug den Schleier zurück, um sie sich mit bebender Hand schief im Mundwinkel anzuzünden. Der rote Schein des Streichholzes rötete eine Sekunde ihr schönes, längliches, regelmässiges Gesicht. Es war nicht mehr ganz jung — gegen Ende der Zwanzig, mit einer langen geraden Nase, einem willenskräftig gerundeten Kinn — langen, dunklen Wimpern über den dunklen Klosteraugen. Tiefschwarz, glänzend, waren auch die paar sichtbaren Haarsträhnchen über den Ohren. Störend wirkten in dem, ihm halb abgewandten, klassisch strengen Profil nur die grelle Lippen- und Augenbrauenfärbung und die kleinen Karmintupfen innen in der Nase, als hätte sie Nasenbluten gehabt. Auf den Wangen hatte sie kein Rot aufgelegt. Auch das Blut war aus ihnen noch immer gewichen. Sie bemühte sich, möglichst ruhig zu scheinen. Aber das Streichholz flackerte in ihrer Hand, und ihre Finger zitterten, als sie es in den Aschbecher warf.
„Ihr Bruder arbeitet jetzt wahrscheinlich schon in München“, sagte sie gezwungen gleichgültig, mit schwankender Stimme, ohne ihn anzusehen. „Es kann da sehr schnell gehen, wie ich ihn kenne! Er ist ja so geschickt! Vielleicht. lockt er morgen um die Zeit schon Ihre Freunde hinüber in die Pfalz und liefert sie dort dem Colonel ans Messer! Es ist ein weit angelegter französischer Plan, um die Münchener Störenfriede in der Pfalz zu verderben.“
„Wenn die ganze Geschichte überhaupt wahr ist.“
Sie musste beinahe lachen. Sie zuckte bitter die Achseln:
„Glauben Sie, dass ich mich zum Vergnügen Ihnen gegenüber verraten habe?“
Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag und schaute herein, ob die Insassen noch nicht ausstiegen. Draussen leuchtete hinter ihm ein menschenbewegtes, buntscheckiges, stimmensummendes Fastnachtsgewimmel auf. Sie gab dem Mann einen ungeduldigen Wink. Er zuckte zurück. Die Tür schloss sich leise wieder.
Die Frau in der Ecke fröstelte in einem jähen Angstanfall in sich zusammen. Sie zog schauernd die Schultern hoch. Sie nagte mit den weissen Zähnen an der blutleeren Unterlippe und klappte, unter dem dunklen Mantelsaum, mechanisch die Fussspitzen hin und her. Sie schimmerten weiss. Er sah mit Erstaunen, dass sie Sandalen an den blossen Füssen trug.
Er stand uribequem, gebückt, mit gekreuzten Armen und gefurchter Stirn. Er grübelte düster, mit verbissener Anstrengung. Er kämpfte mit sich. Sie versetzte leise, erschöpft:
„Wir müssen zu einem Schluss kommen! Ich bin hier nötig! Ich werde gleich geholt!“
„Gut“, sagte er ruhig und kalt. „Es fragt sich — wieviel Sie wert sind — und wieviel ich wert bin! . . . Ich meine: Ob Ihre Freiheit mehr schadet . . . oder meine mehr nutzt! . . . An sich gehörten Sie natürlich mit einem Mühlstein um den Hals in das nächste Wasser! Es ist ein Jammer, dass man das nicht gleich auf der Stelle machen kann . . .“
Sie lachte leise und spöttisch. Ihr Gesicht belebte sich. Es sah gefährlich aus. Er fuhr fort:
„Aber wenn ich denke: Die Prachtkerle in München alle verraten und verkauft — von den Franzosen nach Cayenne verschleppt oder in ein lebenslängliches Zuchthaus! . . . Und dagegen die traurige Genugtuung, dass man ein Geschöpf wie Sie glücklich erwischt hat — nein: Sie wiegen, wie Sie da sitzen, nicht einen einzigen ehrlichen Deutschen auf, der an euch Lumpengesindel zugrunde geht!“
Wieder öffnete sich die Wagentüre. Eine dicke, ältliche Kammerfrau stand draussen, über dem einen Arm einen kostbaren langen Blaufuchspelz, in der anderen Hand ein blechernes Kantinen-Tablett mit Frühstücksgeschirr. Er hörte, wie die Alte etwas wie „Prosim!, Káva, pani!“ murmelte. Aus dem Mund ihrer Herrin kam ein unwirsches „Dekuji!“ Sie markierte mit dem blossen, sandalenumschlossenen Bein einen nachlässigen Fusstritt durch die Luft, ohne dass sich der Ausdruck ihrer schönen Züge änderte. Die Alte schloss phlegmatisch die Türe.
„Was war denn das für eine Sprache?“ frug er.
„Tschechisch!“
Ihre Muttersprache?“
„Ja. Ich bin aus Prag.“
„Und dabei in französischem Dienst?“
Sie schwieg und gähnte nervös.
„Bloss wegen so ein paar tausend erbärmlichen Franken?“
Ein beinahe mitleidiger Blick als einzige Antwort.
„Aber weswegen sonst?“
Sie lachte kurz und verächtlich und schaute auf ihrer Seite zum Fenster hinaus, wo man nichts sah als einen vom Herbstwind gekräuselten, schilfumränderten See und jenseits kahlen Wald.
„Aus Hass gegen die Deutschen!“, sagte sie.
„Was haben wir Ihnen denn getan?“
„Ich bin so erzogen. Mein ganzes Leben war so. Meine ganze Familie ist so!“
„Dabei sprechen Sie doch fliessend Deutsch!“
„Ich bin zum Teil in Deutsch-Österreich auf der Schule gewesen und aufgewachsen. Ich besitze die ganze deutsche Bildung“
„Und trotzdem . . .“
„Das kommt bei uns oft vor!“
Sie rauchte und blickte ihn fest an. In ihren Augen war ein kalter, fanatischer Hass. In seinen Augen, als Erwiderung, derselbe Hass gegen die Feinde Deutschlands. Er setzte sich, mit einem raschen Entschluss, dicht neben sie und sagte knapp und bestimmt:
„Also passen Sie auf! Ich bin mit mir im reinen! Ich darf nicht anders: Ich muss den Schicksalswink benutzen . . . nicht wegen mir, sondern wegen der Leute in München. Es ist meine Pflicht, die Kameraden in München zu retten — und dafür Sie in Gottes Namen laufen zu lassen — aber merken Sie wohl — unter der Voraussetzung, dass Sie Deutschland auf der Stelle verlassen und sich nie wieder bei uns sehen lassen!“
Sie atmete tief auf und legte die Zigarette weg. „Gut!“ sagte sie.
„Und wer steht mir dafür, dass Sie es tun?“
„Ich