Drachentöter. Rudolf Stratz

Drachentöter - Rudolf Stratz


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die Arme zurück, beugte sich vor zum Todessprung . . . ein Satz . . . ein Wirbel durch die Leere, ein Krachen splitternder Tonziegel auf dem Kirchendach — er rollte blitzschnell über das Dach dem Abgrund zu — er war nur noch einen Fussbreit davon . . . auf dem Dach waren in Abständen aufrechte eiserne Stifte für den Schieferdecker. Die hatte er vorhin gesehen. Er fingerte im Sturz nach rechts und links. Hielt sich. Lag still.

      Rutschte, mit den Pantoffeln gegen das Schneegitter fussend, die finstere, steile Riesenwand des Kirchendaches dahin. Liess sich an einem vorstehenden Balken mit der dort verknoteten Strickleiter hinab. Er flog dabei in wilden Schwingungen, vom Sturm geblasen, auf und nieder, prallte an das Mauerwerk, dass ihm die Rippen krachten, kreiste wieder in ungestümem Bogen draussen im Leeren, schnitt sich, nahe über dem Boden hängend, mit dem Endstück der Strickleiter ab, plumpste zur Erde, überkugelte sich zwei-, dreimal, sass betäubt im Sand . . . befühlte seine Knochen . . . sammelte seine Gedanken . . . Auf!

      Wieder auf den Beinen, lief er über den dunklen, äusseren Hof zur Umfassungsmauer, warf den Mauerhaken mit dem Rest der Strickleiter hinauf, sass rittlings oben, rutschte auf der anderen Seite herunter, rannte ohne Aufenthalt über die Strasse . . .

      Die Gasse hinunter — hundert Schritte geradeaus — auf dem kleinen Platz . . . so hatte es innen auf dem Mundstück der eingeschmuggelten Zigarette gestanden — da hält das Auto . . .

      Er stürmte dahin. Gelle Pfiffe aus dem Gefängnis schrillten hinter ihm her. Seine Flucht war entdeckt. Er lief, dass die Schösse seines langen, weissen Kittels flogen und das Geklapper seiner Lederpantoffeln an den Hauswänden widerhallte. Signaltriller einer Patrouille antwortete aus der Stadt dem Gepfeife aus dem Gefängnis . . . rechts . . . links . . . schon ganz nahe. Das Auto . . . wo ist das Auto? . . .

      Da dämmerte der kleine, unregelmässige Platz. An der Ecke drüben glotzten zwei grosse, runde, feuerweisse Augen. Der ratternde Wagen. Leise rasselnd und zitternd. Rennbereit. Eine undeutliche Gestalt mit ungeduldig spähendem, vorgebeugtem Kopf auf dem Führersitz . . .

      Aus einer Nebenstrasse trippelte ein kleiner, dicker Herr, geschäftig, eine Reisetasche in der Hand, auf den Wagen zu und winkte schon von weitem: „Gott Strambach! . . . Endlich! Auto! Nu schnell, mein Gutester! Ich muss zum Bahnhof!“

      Der Flüchtling knirschte im Laufen . . . Esel . . . Für dich harmlosen Geschäftsmann steht doch das Auto nicht da! Er verdoppelte seine Sätze, um es vor dem Dickling zu erreichen. Rasch . . . rasch . . .

      Nein . . . Halt! . . . Der Mann im weissen Kittel stand jäh still . . . barg sich blitzschnell hinter einem Hausvorsprung. Dicht vor ihm, über den Platz, von zwei Seiten her gleichzeitig, rannten Gestalten in Tschakos . . . die Brownings in vorgehaltener Rechten . . . die Polizei. Der Kleine Dickling vor dem Auto verschwand in ihrer Mitte. Man hörte nur sein verstörtes Geschrei: „Mich wollen Sie verhaften? Ja — warum denn? . . . Ich bin Staatsbürger! . . . Ich bin Steuerzahler . . .“

      Und, schon in der Ferne: „Mein Name ist Lämmerhirt, in Firma Böcklein und Sohn . . . Ringfreie Druckknöpfe en gros . . . Zustand . . . Rechtsstaat . . . Nu hören Sie doch . . . mein Bester . . .“

      Stille. Schläfrig stand das Auto auf dem Platz. Rasselte und glühte mit den weissen Augen. Sein Führer war schon beim Nahen der Polizei mit einem Hechtsatz im Dunkel verschwunden. Jetzt wandelte nur noch ein Schutzmann nachdenklich als Wache um den Wagen herum. In seinem Rücken gewann der Mann hinter dem Hausvorsprung die nächste Strassenecke und rannte davon. Blindlings! Nur weg! Weg! . . .

      . . . Er war vor der Stadt. Halb schon auf freiem Feld. Die lebten Häuser standen da. Eine fahle, kränkliche Helle graute am Horizont. Durch die sterbende Nacht wanderte in langen, dunklen Zügen schweigend das Volk der Arbeit den Fabriken zu. Noch achteten diese Männer und Frauen im Halbdunkel nicht auf ihn. Er war, in seinem weissen Kittel, vielleicht der Chauffeur eines Fabrikherrn, der nach der Garage ging. Aber bald musste es so licht sein, dass man die breiten schwarzen Streifen an den braunen Hosen des entsprungenen Untersuchungssträflings sah . . . Und dann . . .?

      Ihm war, als richteten sich jetzt schon verdächtige Blicke auf seinen Anzug — als sähen ihn die Menschen so merkwürdig im Morgengrauen an . . . Wenn sie erst merkten, wer er war . . . Er konnte lange sagen: Ich habe für euch, für Deutschland, gestritten und geblutet . . . Es gab eifrige Seelen genug, die ihn festhielten — die sofort von der nächsten Kantine oder dem nächsten Kontor aus die Polizei anriefen . . .

      Noch fünf Minuten . . . noch vier . . . Er sah schon alle die Augen des Volkes auf sich versammelt — ängstlich — misstrauisch . . . mitleidig . . . schadenfroh . . . neugierig . . . Er hörte die unnützen Fragen . . . die wohlfeilen Witze . . . die Rufe nach dem Schutzmann . . . Er fühlte sich auf einmal sehr müde . . . Er fröstelte . . . Er gähnte . . . Ihm wurde alles merkwürdig gleichgültig . . .

      Ohne Geld . . . ohne Freunde . . . ohne Auto . . . In diesem Gewand . . . Die ganze Geschichte war hoffnungslos, das gestand er sich jetzt allmählich selbst. Es handelte sich nur noch um ein paar Minuten. Dann war er der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Eine Sehenswürdigkeit der Strasse . . . Ekelhaft . . . Am besten war es, den Skandal zu vermeiden, indem man kurz entschlossen umdrehte und vor den nächsten, besten Schutzmann trat: „Die Sache ist vorbeigelungen! Da bin ich wieder!“. . .

      Er blieb stehen. Die kotige Strasse graute im Zwielicht. Die kahlen Bäume bogen sich im Sturm. Er wendete sich mit dem Antlitz unschlüssig zur Stadt zurück. Er stand in seinem flatternden, schon ziemlich weithin sichtbaren Mantel am Weg. Ein Auto sauste diesen Weg von der Stadt heran. Das erste an diesem Morgen. Der Korso der Kommerzienräte und Fabrikbesitzer folgte erst in ein, zwei Stunden.

      Der einsame Wagen war eine grosse, elegante, grünlackierte Limousine. Sie fuhr ein polizeiwidriges Tempo. Unausführbar der Gedanke, der den Flüchtling im ersten Augenblick durchzuckte, sich mit einem kühnen Satz hinten aufzuschwingen und als blinder Passagier mitzureisen.

      Er ging trotzig weiter, noch ehe das Auto ihn erreichte. Er stemmte den Kopf mit den flatternden, kurzen Haaren gegen die Windsbraut, die ihm um die Ohren brandete und alle anderen Geräusche verschlang — auch das Surren der Gummiräder und den Unkenruf der Hupe hinter ihm. Das Auto hätte nun schon längst an ihm vorbei sein müssen! Er blickte zurück. Da kam der Wagen heran . . . Ganz langsam . . . Immer noch langsamer . . . Hielt gerade neben ihm . . .

      Es war nicht seine Art, sich Freude oder Schrecken anmerken zu lassen. Das Gesicht, das er der Limousine zuwandte, war unbewegt. Es verriet nichts von der Spannung seines Innern: Ist das das Auto von vorhin, das meine Spur gefunden hat und mir gefolgt ist — oder bringt es die Polizei, die mich verhaften will?

      Der Haltung des Chauffeurs war nichts zu entnehmen. Der Mann sass vollkommen gleichgültig da und schaute leer gerade vor sich hin, so, als habe er eben aus dem Innern des Wagens durch das Sprachrohr den Befehl bekommen, zu halten, und ihn ausgeführt, ohne sich weiter etwas dabei zu denken.

      Von innen wurde der Wagenschlag geöffnet und aufgestossen. Ein leiser Hauch von Parfum und Zigarettenrauch strömte heraus. Eine schmale, behandschuhte Damenhand fasste die Hand des Mannes im Mantel draussen und gog ihn herein.

      „Na, schnell! . . . Gut, dass ich dich treffe!“ Die Wagentür schlug hastig hinter ihm zu. „Komm! . . . Setz’ dich!“

      Ein Druck der Damenhand auf den Gummiball. Ein Zeichen für den Chauffeur draussen: Weiter! Die Limousine surrte, an der Scheibe huschten nebelhaft in der windenden Fahrt die Bäume vorbei. Innen in dem Wagen war es noch fast dunkel. Der Fenstervorhang auf der anderen Seite gegen den Sturm vorgezogen. Der neue Gast fühlte nur, dass das Innere mit Seide ausgeschlagen und üppig gepolstert war. Er sass still. Das alles war sehr schnell gegangen. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Er kannte auch die Frauenstimme neben ihm, aus der dämmerigen Ecke, nicht.

      „Also du bist heute auch draussen?“

      Er nickte und dachte sich: Wo denn wohl?

      „Dass die mir das nicht aus Basel geschrieben haben . . . Ich hab’ dir doch die wichtigsten Sachen zu sagen . . . du . . . ich fürchte: Es verschwinden wieder Briefe . . .“

      Er zuckte


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