Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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kulminieren. In der EPA werden die Jeismann-Schritte mit den Anforderungsbereichen gleichgesetzt: Analyse (AFB I), Sachurteil (AFB II) und Werturteil (AFB III). Zwar werden dadurch auch Teilkompetenzen nach FUER offengelegt, aber nicht gezielt evoziert, um das Verfügen über (FUER-)Kompetenzen zu messen. Sie müssen indirekt erschlossen werden. Der Transfer der Kandidat*innen-Aussagen von AFB auf FUER-Teilkompetenzen ist demnach die Aufgabe, sie kann über die Operatoren gelingen. Der Befund hat nolens volens fragmentarischen Charakter, denn es ist mit dem EPA-Prüfungsdesign unmöglich, alle Kompetenzbereiche des FUER-Modells sichtbar zu machen. Außerdem fehlt deren Integration.

      Ein weiteres Passungsproblem betrifft die Graduierung der erhobenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und deren Überführung in das Notensystem. Die Annahme, dass in einem kompetenzorientierten Prüfungswesen die Stufenskala der Leistungsbeurteilung mit den Graduierungsvorstellungen der Kompetenzentwicklung kongruiert, trifft im Untersuchungszeitraum auf Österreich nicht zu. Es gibt keine offizielle Richtlinie, die entsprechende Vorgaben formuliert. Die Beurteilung und deren Kriterien liegen im Ermessen von P.621 Um trotzdem die von der Bildungspolitik gewünschte Vergleichbarkeit der Kandidat*innen-Leistungen im europäischen Kontext einzuleiten622 und zwischen der Kompetenzeruierung und der Benotung eine Brücke zu bauen, rät die Fachdidaktik dazu, den Aspekt der Eigenständigkeit der Leistung, der die Notendefinition dominiert,623 als tragende Säule der Bewertung anzusehen.624 Autonome Leistungen der Kandidat*innen bedürfen spezieller Fragetechniken. Sollen Denkoperationen in Gang gesetzt werden, empfiehlt die Psychometrie den Einsatz handlungsanleitender Verben. Kühberger und Öhl schlagen daher für die Reifeprüfung einen bewusst knapp gehaltenen Katalog von Operatoren vor, der die Verben den AFB direkt zuordnet, sodass die Aufgabenersteller*innen zu deren zielgerichteter Verwendung angeleitet werden.625 Diese Serie umfasst fünf Operatoren für den AFB I (in Deutschland: 9), fünf für den AFB II (in Deutschland: 11) und sechs für den AFB III (in Deutschland: 9). Eine weitere Serie sammelt 34 Operatoren, die auf alle AFB anwendbar sind und als Varianten geführt werden.626 Das deutsche Zentralabitur sieht im AFB eine Leistungs-Stufe. Reproduktion allein (AFB I) genügt nicht für eine positive Prüfungsbeurteilung, es müssen alle Stufen erklommen werden. Gute und ausgezeichnete Leistungen definieren sich aus der passablen Bewältigung von Operationen in den AFB II und III. Daraus folgt, dass Reproduktion einen geringeren Anteil an der Bewertung aufweist als Analyse und Reflexion.627 Im Gegensatz dazu lässt die RPVO keine Gewichtung erkennen. Die Reproduktion steht auf der gleichen Stufe mit z. B. der Urteilsbildung. Daher raten Kühberger und Öhl dazu, „[…] eine Leistungssteigerung in den Aufgaben mittels Operatoren zu gestalten“.628 Dem leitenden Prüfungsorgan bleibt es jedoch überlassen, ob es dem Rat der Fachdidaktik folgt und seinen Beurteilungsvorschlag am Grad der Eigenständigkeit der Lösung der TA misst oder ob es andere Parameter zur Urteilsfindung629 heranzieht. Damit ist die These zu formulieren, dass mit dem Reifeprüfungsdesign eine adäquate Messung der Kompetenzbereiche, die im Unterricht erworben und entwickelt werden sollen, nicht sichergestellt ist.

      Die Entscheidung der österreichischen Bildungspolitik dem Geschichtsunterricht und der Politischen Bildung das FUER-Modell zugrunde zu legen ist erfolgt, obwohl eine Modellierung der Kompetenzprogression ausständig gewesen ist. Dieses Theoriedefizit kann als Einwand gegen das Ansinnen ins Treffen geführt werden, fachliche Kompetenzentwicklung an einem Punkt des Implementierungsprozesses zu untersuchen, an dem ein anerkanntes didaktisches System zum Kompetenzaufbaus noch nicht zur Verfügung steht. Dem sind fünf Argumente entgegenzuhalten. Zum Ersten findet, ungeachtet des Fehlens eines Progressionsmodells, (kompetenzorientierter) Geschichtsunterricht statt. Kompetenzen werden mit Schüler*innen eingeübt und gefördert. Das geschieht durch individuelle, von den Lehrpersonen selbst konzipierte Progressionspläne. Es ist daher von Interesse, Nachschau zu halten, ob es dem Unterricht gelingt, den Erwartungen der Wissenschaft und der Gesellschaft zu entsprechen. Zum Zweiten ist eine kompetenzorientierte Reifeprüfung mit dem Ziel verordnet worden, die Evidenz fachlicher Kompetenzen einzuholen. Wenn Fähigkeiten und Fertigkeiten dargestellt werden, ist es eine logische Folge und ein berechtigtes wissenschaftliches Interesse zu fragen, auf welcher Niveaustufe dies geschieht. Obwohl das AFB-System eine Kompetenzmessung nach FUER nicht im Fokus hat, existieren unterschiedliche Qualitätsstufen der Leistungen in den drei Bereichen. Laut Körber ermöglich auch diese Art der Aufgabenstellung es, „[…] taxonomisch komplexere Denkformen einzufordern.“630 Zum Dritten existiert eine Graduierungstheorie zum FUER-Modell und somit wissenschaftlich explizierte Vorstellungen davon, welche Kriterien zu beachten sind, um festzustellen, wie weit jemand auf dem Weg der Kompetenzentwicklung vorangekommen ist.631 Viertens entspricht es dem Selbstverständnis von FUER, dass der Prozess der Kompetenzprogression nicht an Schulunterricht gebunden ist. Kompetenzen werden ein Leben lang entwickelt, mitunter trotz Unterrichts. Schließlich können die Ergebnisse einer Kompetenzanalyse gerade im Implementierungsprozess wertvolle Erkenntnisse für die Konzeption von Systemen eines zielgerichteten Kompetenzaufbaus und der Messung der Fähigkeiten liefern. Die erhobenen Daten können Aufschlüsse darüber liefern, ob das gewählte Kompetenzmodell als theoretische Grundlage der Unterrichtsarbeit in Österreich taugt.

      Daher erfasst das Forschungsinteresse fünf Aspekte: (1) Zu klären ist, ob sich das verordnete Prüfungsdesign dafür eignet, fachspezifische Kompetenzen sichtbar zu machen. (2) Zu erfassen sind jene Fähigkeiten und Fertigkeiten des FUER-Modells, die unter den Bedingungen der Reifeprüfung evident werden können. (3) Die Niveaus der Fähigkeiten sind zu bestimmen. (4) Weiters ist zu ergründen, ob sich das von FUER entwickelte Graduierungsmodell als Orientierungshilfe für den Unterricht eignet. (5) Da es sich bei der Reifeprüfung um eine mündliche Form von Kompetenzanalyse handelt, ist dem Aspekt der bildungssprachlichen Fertigkeiten (Umgang mit Mündlichkeit in der Manifestation historischen Bewusstseins) analytisches Interesse zuzuwenden. Diese Gesichtspunkte münden in zwei Forschungsfragen:

      • Welche (Teil-)Kompetenzen des FUER-Modells werden in der Reifeprüfung sichtbar?

      • Erreichen die Kompetenzausprägungen das von der Wissenschaft erwartete intermediäre Niveau?

      Die von der Fachdidaktik bislang ausprobierten Verfahren, um Kompetenzen bzw. historische Denkprozesse zu untersuchen, eignen sich für die Beantwortung der Forschungsfragen dieser Studie nur bedingt. Es angezeigt gewesen, ein eigenes Methodeninstrumentarium zu entwickeln.

      Ausgangspunkt für die Konstruktion des Forschungsdesigns ist die Überlegung, dass bei komplexen Forschungsfeldern weder die aus dem Positivismus erwachsene quantitative Forschung noch die dem Konstruktivismus entstammende qualitative für sich allein genommen zielführend ist, sondern dass es des komplementären Einsatzes beider Dimensionen bedarf, um zu brauchbaren Resultaten zu kommen. In welcher Konfiguration (sequenziell, parallel, triangulativ, transferierend o. ä.) das Design entwickelt wird, hängt vom Erkenntnisinteresse und vom Datenmaterial ab. Prinz et al. halten den Einsatz von Mixed-Methods für vielschichtige Phänomene, wie sie historisches Denken und Kompetenzen darstellen, als den angemessenen methodischen Zugang, weil er die Möglichkeit eröffnet, ein auf den Forschungsgegenstand ausgerichtetes, maßgeschneidertes Design zu entwickeln, das in einem höheren Maß erfolgversprechend ist,632 als es bei einer, streng an wissenschaftliche Theorien gebundenen Methodenwahl der Fall wäre. Für die vorliegende Studie wurde ein Multi-Phase-Verfahren gewählt, das die Verknüpfung von qualitativen und quantitativen Methoden in mehreren Abschnitten des Forschungsprozesses ermöglicht und es gestattet, je nach Ziel des jeweiligen Forschungsschritts, unterschiedliche Datentypen ineinander zu transferieren.633 In der ersten Phase (Untersuchung der Bedingungen der Reifeprüfung) werden anhand von statistischen Daten Aussagen zum Forschungsgegenstand gemacht, um ein Verständnis der Prämissen, die der Studie zugrunde liegen und der Beschaffenheit des Forschungsgegenstands zu erzeugen. Das ist nach dem Explanatory Design konzipiert.634 Es folgt die Auswertung der Reifeprüfungsperformanzen gemäß der qualitativen Inhaltsanalyse. Dieses Verfahren kommt


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