Inferno. Siege und Niederlagen - Tatsachenroman. Will Berthold

Inferno. Siege und Niederlagen - Tatsachenroman - Will Berthold


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Hanson W. Baldwin. »Sie erzielen nach ihren Berichten die meisten Abschüsse der Schlacht; 185 feindliche Maschinen wurden zerstört. Die Deutschen geben 43 Abschüsse eigener Maschinen zu, verloren in Wirklichkeit aber 60. Ihre Bombenangriffe sind militärisch wirkungslos; selbst Görings Rezept ›fünf Jäger pro Bomber‹ konnte die Hurris und Spits nicht ausschalten.«

      Am Abend jagen Siegesmeldungen durch London. Zwar sind die Abschußzahlen wieder einmal gewaltig übertrieben, aber es steht fest, daß alle Anstrengungen Görings, die Insel sturmreif zu bomben, vergeblich bleiben. Er bindet seinen Me 109 250-Kilo-Bomben unter den Rumpf – die Flugzeugführer nennen es verächtlich Dodelschleppen – und macht aus Jagdflugzeugen Bluffbomber, aber er kann die Briten damit nur ein einziges Mal überraschen und muß künftige Angriffe in die Nacht verlegen.

      London liegt im Bombenhagel. »Business as usual«, spotten die Engländer, oder sie sagen: »London can take it« – London kann es verkraften.

      Wenn es dunkel wird, ziehen Tausende von Familien, ausgestattet mit Decken, Matratzen und Thermosflaschen, von den Slums des Eastends in den Westen, weil sie annehmen, daß in den Vierteln der Reichen die Mauern den Bomben besser trotzen würden. Zu vielen Tausenden quellen die Menschen in die U-Bahn-Schächte, Frauen und Kinder, mit Katze und Hund, ohne Panik, fast stumm. Die Aufrufe zur Evakuierung verhallen meistens unbefolgt. Keiner will vor den »lausigen Jerrys« flüchten. Auch die königliche Familie bleibt im Buckingham-Palast, der prompt getroffen wird. Bomben rauschen auf den Tower, in Madame Tussauds Kabinett schmelzen die Wachsfiguren. Alle Bahnhöfe der Stadt werden zerstört. Old Bailey, das berühmte Schwurgericht, und Guildhall, das Rathaus, fallen in Trümmer. Fleet Street, die Pressestraße, brennt aus. Die Ruinen der City überragt die mächtige Kuppel der St.-Pauls-Kirche. Im Hafen und in den Docks bleibt kein Stein über dem anderen.

      Die Luftschlacht um England wird sich weit in das Jahr 1941 hineinziehen; ihre Wucht freilich nimmt ab, auch wenn beide Seiten laufend ihre Überlebensrekorde brechen. Ein R.A.F.-Pilot übersteht siebzehn Abschüsse heil; ein anderer springt nackt aus der Badewanne in eine »Spit«, wird von einer Me 109 abgeschossen und gleitet am Fallschirm über Londons Eastend auf die Ruinen zu, kommt inmitten einer Schar aufgebrachter Frauen auf, die ihn mit Nudelhölzern und anderem Küchengerät lynchen wollen. Nur eine Suade ordinärer Cockney-Flüche läßt die Aufgebrachten erkennen, daß es sich bei dem Bruchpiloten im Adamskostüm um einen der Ihren handelt.

      Auf Buckhurst in Sussex, dem Gut des Grafen de la Ware, meldet der Butler: »Ein Offizier der deutschen Luftwaffe wartet im Salon und möchte mit Ihnen sprechen, Mylord.« Auf der Cadborough Farm bei Rye findet ein Landarbeiter einen halb im Ziegeldach des Klosetthäuschens eingebrochenen und steckengebliebenen Bruchpiloten. Während der Brite ihn gefangennimmt, sagt der Deutsche in fehlerlosem Englisch: »Ich bin da wohl von einer Scheiße in die andere geraten.«

      Die Luftwaffe verliert in 23 Tagen 467 Jäger. Leutnant Erich Hohagen stellt fest: »Der Kanal ist eine Blutpumpe, er saugt immerzu an der Kraft.« Oberleutnant Hans von Hahn, Führer der ersten Gruppe im Jagdgeschwader 3, berichtet: »Es gibt nicht viele bei uns, die nicht mit total zusammengeschossener Maschine oder ohne Propeller im Kanal notgelandet sind.«

      Hauptmann Helmut Wick, eine Zeitlang der erfolgreichste deutsche Jagdflieger, konnte keine feste Nahrung mehr vertragen und lebte nur noch von schwarzem Kaffee und englischen Zigaretten. Unteroffizier Delfs lieferte einer eigenen Maschine einen rabiaten Luftkampf, stieg mit dem Fallschirm aus und verfing sich in den Weichen eines Rangiergeleises bei Calais. Sein Staffelkapitän Priller griff einen herannahenden Zug, der Delfs zu zermalmen drohte, frontal an und stoppte ihn mit seinen Bordkanonen.

      Kaum einer konnte noch schlafen. Oberleutnant Schäfer, ein Zerstörerpilot, kreiste unentwegt über seinem E-Hafen und wartete auf das Einschalten der Randbeleuchtung; er hatte vergessen, die Sonnenbrille abzunehmen. Oberleutnant Ludwig Franzisket trank jeweils vor dem Einsatz eine kleine Flasche Rum aus, und Eduard Neumann, ein schon im ersten Weltkrieg bewährter Pilot, führte seinen Verband 300 Kilometer in die falsche Richtung, ohne zu bemerken, daß sein Kompaß versagte.

      Die neuen Geschwaderchefs waren alle unter dreißig und auch bereits legendär; sie hießen Werner Mölders, Adolf Galland, Hannes Trautloft, Wolfgang Schellmann oder Günter »Franzl« Lützow. Mit Helmut Wiek avancierte dann ein Fünfundzwanzigjähriger binnen drei Monaten vom Staffelkapitän zum Kommodore. Über der Insel Wight besiegte er seinen 56. Gegner. Minuten später wurde er von dem englischen Oberleutnant John Dundas – vierzehn Luftsiege – selbst abgeschossen, der bereits ein paar Sekunden danach Opfer von Wicks Rottenflieger Rudolf Lanz wurde, der wiederum später über Abbéville fiel.

      Dies alles wirft ein Schlaglicht auf die Lebenserwartung der Jagdflieger; sie kämpfen auf verlorenem Posten, sterben auf einem Kriegsschauplatz, den ihr Führer längst zugunsten eines anderen, noch weit grausameren abgeschrieben hat. Die Verlegung des Luftkrieges in die Nacht macht die Tagesjäger auf diesem Kriegsschauplatz weitgehend arbeitslos. An ihrer Stelle zahlen jetzt die Kampfflieger den Blutzoll.

      Über die zerfahrene Befehlsgebung, über den mehrfachen Zielwechsel, über das drohende Scheitern der Luftschlacht über England erfährt die deutsche Zivilbevölkerung nichts. Immer wieder ertönen die Fanfaren der Sondermeldungen im Reichsrundfunk, vermelden die Sprecher mit gehobener Stimme »Bomben auf En-gel-land«. Noch immer verkündet das Propagandaministerium, daß die Kapitulation der Insel unmittelbar bevorstünde, und werden, wie die US-Nachrichtenagentur »United Press« aus Berlin meldet, in der Reichshauptstadt hektische Wetten über das baldige Kriegsende abgeschlossen: Wehrmachtsoffiziere setzen auf Anfang Oktober, die internationale Presse, etwas zurückhaltender, gesteht der englischen Widerstandskraft zwei Wochen mehr zu.

      Zu diesem Termin freilich, am 12. Oktober, wird von Hitler die »Operation Seelöwe« auf unbestimmte Zeit – das bedeutet praktisch für immer – aufgeschoben. Während der Diktator bereits stur auf den Osten fixiert ist, rollt die zwecklose Offensive über Südengland weiter.

      »Beginnend mit dem 1.11.1940 nahm die Luftwaffe ihren letzten Zielwechsel vor«, schreibt in seinem Buch »Der Luftkrieg über Deutschland« Franz Kurowski. »Von nun an sollten sämtliche größeren und wichtigeren Industrie- und Hafenstädte bis zur Eindringtiefe der Bomber zum Schwerpunkt der Nachtangriffe werden. Das bedeutet für die Kampfflugzeuge, oftmals zwei, manchmal auch drei Einsätze in einer Nacht zu fliegen.«

      Das bedeutet aber auch, daß der zweite Weltkrieg dabei war, die letzte Hemmschwelle eines schrankenlosen Luftkrieges gegen die Zivilbevölkerung zu überschreiten. War die Zielansprache bei Tagesluftangriffen schon problematisch, schlossen sie nächtliche Angriffe praktisch aus. Wer mit massierten Kräften Industriewerke am Stadtrand angriff – noch dazu bei den miserablen Navigationsmöglichkeiten im Herbst 1940 –, führte Krieg gegen Frauen und Kinder, wie er zum Beispiel von der Washingtoner Konferenz des Jahres 1922 ausdrücklich verboten worden war.

      Noch vor einem Jahr hatten sich die kriegführenden Parteien dazu bekannt. Dann waren auf beiden Seiten versehentliche Bombardierungen mit Vergeltungsangriffen beantwortet worden. Die Eskalation der Unmenschlichkeit wurde weder auf deutscher noch auf britischer Seite von humanitären Skrupeln, sondern ausschließlich von der mangelnden Schlagkraft der jeweiligen Bomberpulks begrenzt. Und das hieß im Klartext: Wer einsatzfähige Kampfflugzeuge zur Verfügung hatte, war der Vergelter; der Angegriffene trat dann als Opfer der Barbarei auf. Es war ein blutiges Spiel mit ständig wechselnden Rollen.

      Dabei gab es keine schuldige Seite – es gab ausschließlich Schuldige.

      »Ein Krieg besteht fast nur aus Handlungen, die in Friedenszeiten als kriminell eingestuft werden müßten«, stellt der britische Autor Alastair Revie fest, der am zweiten Weltkrieg als Offizier teilgenommen hatte. »Demzufolge war die ganze Vorstellung, man könnte das Verbrechen im Krieg vermeiden oder zumindest reduzieren, schon immer absurd. Was Kriegsverbrechen sind, wurde über die Jahre hin immer von neuem definiert. Und selbst 1940 versuchte man noch solche Daten mit Hilfe von internationalen Komitees und Erklärungen ›nichtbeteiligter‹ Staatsmänner kontrollieren zu können ... Nachdem also Angriff und Gegenangriff aufeinander folgten und man erkannt hatte, daß der Bombenwurf aus großer Höhe und bei Nacht auf Ziele wie Fabriken, Eisenbahnanlagen, Docks und ähnliches


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