Ulrike Woytich. Jakob Wassermann

Ulrike Woytich - Jakob Wassermann


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Er war unter Alexander Bach öffentlicher Zensor gewesen, hatte dabei täglich vor Augen gehabt, wessen die zuchtlosen Geister sich erfrechen, wenn man sie über Papier und Druckerschwärze unbehindert schalten lässt, und dem Literaten- und Zeitungsschmiererpack den Nerv abzuschneiden, war ihm Wonne gewesen.

      Es gab nur einen einzigen Menschen in der Welt, der sich rühmen durfte, einen gewissen Einfluss auf ihn erlangt zu haben: Ulrike. Wodurch es gekommen war, wusste er nicht zu sagen, oder er hatte es vergessen; auch gestand er sichs nicht ein. Wenn er bloss ihre Schritte hörte, wurde ihm unbehaglich zumute, und am liebsten hätte er sich versteckt. Unter ihrem heftigen und durchbohrenden Blick befiel ihn eine Schwäche, deren er nicht Herr zu werden vermochte; ihr Auftreten, ihre Sprache, ihre boshaften Anspielungen, ihre unbekümmerte, ja unverschämte Kritik erregten seinen stummen, aber wirkungslosen Grimm. In ruhiger Gelassenheit hätte er seine Tage hinbringen können, wäre sie nicht gewesen; auch wenn sie fern war, erbitterte ihn der Gedanke an sie, an ihr respektloses Einbrechen in seine Existenz, an die Möglichkeit ihres plötzlichen Auftauchens, an die Störung, die sie in seinen Lebensabend gebracht hatte.

      „Was ist nun wieder los?“ knurrte er sie an, als sie mit ihrer frech-gefälligen Fratze, wie er es im stillen nannte, vor ihm sass; „überfällt man einen alten Menschen bei nachtschlafender Zeit? Wozu treibst du dich noch in Wien herum? Befreie mich endlich von deinen lästigen Scherereien und Quertreibereien; mach dass du mir aus den Augen kommst; du hast um vier Wochen Frist gebeten, die sind um, die Mansarde wird am Ersten vermietet.“

      „Ich brauche Ihre Mansarde nicht, Onkel, ich werde mich wo anders einquartieren“, antwortete Ulrike gleichmütig.

      „Wo anders? Was soll das heissen? Willst am Ende hier bleiben? nicht nach Paris gehn?“

      Sie nickte freundlich.

      „Daraus wird nichts,“ brauste er auf, „du musst fort, schnür dein Bündel und schau, dass du fortkommst.“

      „Echauffieren Sie sich nicht, ich bleibe hier,“ erwiderte Ulrike kühl; „in Ihrer Nähe, Onkel, unter Ihrem Schutz. Die Familie Mylius wird mich höchstwahrscheinlich bei sich aufnehmen. Sie wissen ja von meiner Beziehung zu den Leuten, ich hab Ihnen ja davon erzählt. Inzwischen hat sich mancherlei ereignet, und besonders was heute passiert ist, möcht ich Ihnen nicht vorenthalten, in Ihrem eigenen Interesse nicht.“ Auf einmal lachte sie vor sich hin, ergriff den mit Silbergeld gefüllten Beutel und schleuderte ihn mit ganzer Kraft gegen die Tür. Draussen ertönte ein unterdrückter Schrei.

      Der Hofrat fuhr zusammen. Er wollte zornig werden, aber der klirrende Klang des Wurfgeschosses machte ihn betroffen. „Es scheint, du hast da einen Beutel voller Geld“, sagte er und sein pergamentgelbes Gesicht zeigte Argwohn und Erstaunen.

      Ulrike hob den Beutel auf, schüttete die achtundvierzig Silbergulden auf den Tisch, ordnete sie in zwei Reihen, zog die Dose mit dem Smaragd hervor, die sich ebenfalls in dem Beutel befand, und legte sie an die Spitze der Kolonne. „Wie hoch schätzen Sie das Döschen, Onkel?“ fragte sie; „Sie verstehen sich doch auf dergleichen.“

      Der Hofrat nahm die Dose, betrachtete sie von allen Seiten, öffnete sie, roch hinein, wog sie, faltete die Stirn und entgegnete: „Zwei- bis dreihundert mag sie wert sein; zweihundert gut und gern. Woher hast du sie? Vom alten Mylius etwa? Hast vielleicht ein Techtelmechtel mit dem alten Mylius? Wär gar nicht so dumm. Wär wirklich gar nicht so dumm.“ Er lachte das lautlose Lachen, bei dem sich die Muskeln des Unterkiefers schmerzhaft verzerrten.

      „Können Sie dreissigtausend Gulden flüssig machen, Onkel?“ fragte Ulrike, die rüde Anzüglichkeit nicht beachtend; „haben Sie Lust, zehn Prozent dafür einzustreichen, also dreitausend glatt zu verdienen, ohne den Finger zu rühren?“

      Der Hofrat riss die Augen auf. „Ich? Dreissigtausend Gulden? Ich? Mich dünkt, meine liebe Nichte, du bist schwachsinnig geworden. Dreissigtausend Gulden! Ich!“

      „Hören Sie mir zu, bevor Sie mich anblasen,“ sagte Ulrike stirnrunzelnd; „es sind meine verwandtschaftlichen Gefühle, die mich veranlassen, Ihnen als erstem das Geschäft vorzuschlagen; wo ein so sicherer Gewinn in Aussicht steht, find ich Geldgeber soviel ich will.“

      „Was hat sie da wieder ausgeheckt, heilige Mutter Gottes“, brummelte der Hofrat verstört.

      „Hören Sie zu.“ Flüsternd begann sie zu berichten. Sie beugte sich hüben über den Tisch, der Hofrat beugte sich drüben über den Tisch. Die Hängelampe beschien den braunen Scheitel und den eisgrauen. Bisweilen knackte ein Möbel, bisweilen rieselte Kalk hinter der schlottrigen Tapete. Es war eine lange Erzählung. Der Hofrat lauschte mit steinernen Mienen und erloschenen Augen, doch bei der Gipfelung mit dem Testament und den neun Millionen am Schluss sprang er vom Sessel empor. Er drehte sich ein paarmal um seine Achse, was einen schauerlich-komischen Anblick bot, denn der grüne Schlafrock umflatterte ihn dabei und die Pantoffeln klappten wie bei einem Geistertanz. Er stiess unartikulierte Laute aus und brachte endlich die Worte hervor: „Entweder lügt sie wie der Satan, oder das ist die tollste Geschichte, die man je vernommen hat, seit die Welt erschaffen ist.“

      „Dass Sie mich wieder verdächtigen, tut mir nicht weh und ich trags Ihnen nicht nach,“ sagte Ulrike; „toll ist die Geschichte ohne allen Zweifel. Fazit: die Frau wird von mir erfahren, wie es steht. Sie wird sich keinen Augenblick besinnen, ihr Leben den Verhältnissen entsprechend einzurichten, schon wegen der Kinder. Der Alte findet sich vor einer vollzogenen Tatsache, und ich stell ihm eine Falle, eine richtige Fuchsfalle, aus der es kein Entkommen gibt. Er wird sich entschliessen müssen, seine Schatzkammer aufzusperren, aber bis dahin brauchen wir Geld, viel Geld.“

      Der Hofrat starrte stumm. Von solchen Vermögen war ihm kaum eine sagenhafte Kunde geworden. Es war das Unwahrscheinliche und das Unbegreifliche. Er wusste von Rothschild; aber Rothschild war eben Sage, etwas sehr Fernes, teuflisch Grossartiges und letzten Endes Unglaubhaftes. Die reichsten Leute, die er kennen gelernt, verfügten höchstens über eine Viertelmillion. Zu seiner Zeit war man mit einer Viertelmillion ein bestaunter Krösus gewesen. Die Zahl, die Ulrike genannt hatte, verursachte ihm Schwindel. Er schaute das junge Mädchen immerfort an, mit einem strengen und bösen Blick, und erwartete, dass sie unversehens in ihr herausforderndes Gelächter ausbrechen würde. Es wäre ihm beinahe lieb gewesen. Als es nicht geschah, fing er an, leise und seltsam zu stöhnen. Er habe kein Geld, sagte er; wie sie auf den frevlerisch unnatürlichen Gedanken gerate, dass er soviel Geld habe, er mit seinen dreitausend Gulden Pension und den Zulagen, die nicht der Rede wert seien. Schändlich, dass sie ihm mit solchem Ansinnen komme, schändlich, seinen Frieden mit so frivolen Hirngeburten zu stören.

      Ulrike stand auf, wie um zu gehen, und antwortete schnöde, er möge sein Geld ihretwegen in den Rauchfang hängen. Da fuchtelte er mit den Armen, schritt um den Tisch herum und verlangte mit drohender Stimme, dass sie schwöre. Sie solle schwören, es sei die reine Wahrheit, die sie berichtet, schwören, sie habe das Testament und die genannte Zahl mit eigenen Augen gesehen. Ulrike erhob die Hand zum Schwur. „Halt!“ rief er, „halt! schwöre bei der Seele deiner Mutter, schwöre Silbe für Silbe, was ich dir vorsage.“ Er sagte ihr den Schwur vor und sie sprach ihn nach, indem sie auf die Zimmerdecke schaute, als betrachte sie eine Fliege. Trotz dieses Schwurs verfiel der Hofrat wieder in sein seltsames Stöhnen: er habe das Geld nicht; wo solle er dreissigtausend Gulden hernehmen? wo um Christi willen, das möge sie ihm sagen.

      Aber Ulrike schien weiteren Erörterungen abgeneigt; sie wünschte dem Greis mit einem kleinen Knix gute Nacht und verliess schnell die Stube. Ihr genügte sein verzweifeltes Schnappen nach der Angel; sie wusste, dass sie den aufgeregt zappelnden Fisch fangen würde. Geld; Hexenwort; es brauchte nur ausgesprochen zu werden, und die armen Menschlein wurden rabiat, die Unerbittlichsten, die Prinzipienfestesten. Kein Charakter war so umpanzert, dass er gegen die giftig-süsse Trunkenheit gefeit war. Verächtliche Welt; leicht durchschaubare.

      Kaum hatte sie sich in der kalten und zugigen Dachkammer entkleidet, als sie vorsichtiges Pantoffelschlurfen auf der steinernen Stiege vernahm. Sie lauschte, lachte in sich hinein, schlüpfte eidechsenflink ins Bett und zog die Wolldecke bis ans Kinn. Der Hofrat schlich an ihre Tür. Er hüstelte, krabbelte ein wenig mit den Fingern, dann wisperte er ihren Namen. „Wer da?“ fragte sie grob.


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