Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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Pathologie. Wir leben in einer Welt von gestörten Beziehungen, von Elterntrennungen und Rückzugstendenzen.

      Autistische Züge können aber auch leicht mit anderen Merkmalen verwechselt werden, bei Bindungsstörungen, bei schizoiden Tendenzen, narzisstischen Störungen oder bei depressiven Rückzügen. Oft werden einzelne Diagnosekriterien herausgegriffen und verabsolutiert, auch werden Differenzialdiagnosen nicht immer gründlich erörtert. Es besteht die Gefahr, dass die Autismus-Spektrum-Störung in ähnlicher Weise ausgeweitet werden könnte wie bereits die ADHS. Seit der Diagnostizierung von ADHS haben wir den Eindruck, als sei eine gewisse Furchtsamkeit, zumindest Irritation entstanden, vermeintlich biologische Störungsbilder psychosomatisch zu verstehen. Wir brauchen selbstbewusste Psychoanalytiker, die Kinder, ihre Konflikte und ihre Beziehungen verstehen. Ärztliche Diagnosen und Diagnosen gemäß ICD sollen selbstverständlich immer erwähnt werden. Doch für die Erstellung eines Therapieplans benötigen Psychoanalytiker eine eigene schlüssige Psychodynamik und eine Diagnose nach neurosenpsychologischen Aspekten. Der Reichtum der Psychoanalyse kann Schubladen-Diagnosen in Frage stellen. Wir sind davon überzeugt, dass wir die Leserinnen und Leser mit unserem Buch bei der Erstellung von Diagnosen hilfreich begleiten können.

      Ein kleiner Hinweis noch zu den im Buch besprochenen Diagnosen nach ICD-10: Die ICD -11 wird voraussichtlich am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Sie ist völlig neu aufgebaut und gegliedert; ohne genaue Kenntnis des Werkes kann eine Einarbeitung der neuen Diagnosen in diesem Buch leider noch nicht erfolgen.

      Frankfurt a. M. und Mundelsheim

      im Herbst 2020

      Evelyn Heinemann und Hans Hopf

      Einleitung

      Das vorliegende Buch möchte Anregungen für die pädagogische und therapeutische Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen geben. Im ersten Kapitel werden Grundkenntnisse der psychoanalytischen Theorie zusammengefasst und die Bedeutung des Verstehens der Psychodynamik psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in den Arbeitsfeldern von Pädagogik und der stationären und ambulanten analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie aufgezeigt. Die Autoren bemühen sich, psychoanalytische Theorie am Verstehen konkreter Situationen aus dem pädagogischen und therapeutischen Alltag verständlich zu machen. Das Ziel ist dabei immer, zu einem besseren Verstehen des Verhaltens der Kinder und Jugendlichen zu gelangen. Die Fallbeispiele sind authentisch, auch wenn Namen oder konkrete Hinweise auf die Personen geändert wurden.

      Entlang der klassischen Einteilung der Psychoanalyse behandelt das Buch Neurosen, narzisstische Störungen, eine Auswahl der häufigsten psychosomatischen Störungen, Borderline-Störungen und Psychosen sowie Sprachstörungen und Störungen der sexuellen Entwicklung. Auch wenn einzelne Störungsbilder im Kindesalter nur temporär auftreten können oder an Intensität großen Schwankungen ausgesetzt sind, so bleibt die zugrunde liegende Psychodynamik doch ähnlich. Dies berechtigt unserer Meinung nach zu dem Versuch, über ein solches Buch zum Verstehen der Kinder und Jugendlichen beitragen zu wollen. Die Tabelle auf der folgenden Seite gibt einen Überblick über die im Text befindlichen Fallbeispiele (image Tab. 0.1). Jedes Kapitel beinhaltet einen theoretischen Teil, mindestens ein Fallbeispiel und die Interpretation des Fallbeispiels im Hinblick auf Psychodynamik und Behandlungstechnik.

      Es ist nicht immer einfach, Theorie und Praxis in dieser Form zu verbinden, möchten wir doch nicht zu einer Kategorisierung oder schablonenartigen Diagnostik beitragen, sondern das Kind und den Jugendlichen und dessen Verständnis in den Mittelpunkt stellen. Dabei ist Theorie nützlich und hilfreich. Unsere Falldarstellungen sollen nicht zur Verifikation oder Falsifikation von Theorie benutzt werden, keine Vignetten sein, denen so oft ein eigenständiges Leben fehlt. Aus der langjährigen ambulanten und stationären Arbeit von Hans Hopf sind die Falldarstellungen, mit Ausnahme des Falles zum Autismus und die Fälle zu sexuellem Missbrauch bei geistiger Behinderung. Evelyn Heinemann erarbeitete und schrieb die Theorie zu den einzelnen psychischen Störungen sowie das erste Kapitel, mit Ausnahme des Teils zur Kinder- und Jugendpsychotherapie. Theorie und Praxis wurden dann ausführlich diskutiert und die Fälle gemeinsam interpretiert.

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      NameDiagnoseAlter zu Beginn der TherapieGeschlechtSeiten

I Psychoanalytische Theorie

      1 Psychische Entwicklung und Struktur

      1.1 Strukturmodell

      Während Freud in seinen ersten Vorstellungen vom seelischen Apparat, dem sogenannten topischen Modell, lediglich zwischen unbewusst, vorbewusst und bewusst unterschied, sprach er in seinem späteren Modell, dem sogenannten Strukturmodell, schließlich von den Instanzen Es, Ich und Über-Ich (Freud 1923b). Das Es ist dabei die psychische Repräsentanz der Triebe, die als Drang oder Wünsche psychisch in Erscheinung treten. Im Es herrscht das Lustprinzip, das Ziel der Triebe ist die Bedürfnisbefriedigung. Im Es gibt es keine Zeitvorstellung, keine Wertungen, keine Moral und Widersprüche bestehen nebeneinander. Es herrscht der Primärprozess mit assoziativen Verknüpfungen. Im Verlauf der Anpassungen an die äußere Realität entwickelt sich das Ich. Wir gehen heute davon aus, dass bestimmte Ich-Kerne bereits bei der Geburt vorhanden sind, eine primäre Autonomie des Ich besteht (Hartmann u. a. 1946). Die Instanz des Ich entsteht nicht nur aus dem Es, wie bei Freud. Das Ich reguliert die Anpassung an die Umwelt, im Ich herrscht das Realitätsprinzip und der Sekundärprozess, es vermittelt zwischen Es, Über-Ich und Realität. Für diese Arbeit stehen dem Ich die Abwehrmechanismen zur Verfügung (image Kap. 2.). Das Ich organisiert Lernen, Erfahrung und Gedächtnis. Das Über-Ich stellt eine Unterstruktur des Ich dar, die ständig verbietend, auffordernd, drohend und belohnend auf das Ich einwirkt. Das Über-Ich entsteht aus der Auflösung des Ödipuskomplexes um das 6. Lebensjahr, Vorläufer gibt es allerdings schon aus der prägenitalen Zeit (vgl. Klein 1928; Grunberger 1974). Als Teil des Über-Ich bildet sich das Ich-Ideal, in dem die Wunschvorstellungen vor sich hergetragen werden.

      Hartmann (1939) führte den Begriff des Selbst ein, aus dem die Theorie der Selbststruktur, einer vierten Instanz, entwickelt wurde. Aus der Kritik am Dreiinstanzenmodell, das Neurosen lediglich aus einem Konflikt zwischen den drei Instanzen erklären konnte, und damit sogenannte narzisstische Störungen, die mehr Störungen im Selbsterleben betrafen, wie beispielsweise die Depression, nicht ausreichend verstanden werden konnten, wurde die Theorie des Selbst entwickelt. Das Selbst entsteht aus der Verinnerlichung von Interaktionserfahrungen, die sich als Selbst- und Objektrepräsentanzen im Selbst niederschlagen. Psychische Struktur entwickelt sich aus der Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen. Reale und fantasierte Erfahrungen mit der Umgebung werden in innere Charakteristika und Regulationen verwandelt. Mentzos (1984, S. 43) fasst zusammen:

      • Es geht nicht um die objektiven realen Beziehungen als solche, sondern um die Erfahrungen, die das Subjekt mit ihnen gemacht hat, also auch um Fantasien über die Beziehungen.

      • Gemeint sind nicht nur kognitive Abbilder der Umwelt und im Gedächtnis, sondern durch sie bedingte Veränderungen in der Struktur des Selbst.

      • Es geht nicht nur um eine Verinnerlichung von Charakteristika des Objektes, sondern um die Internalisierung von Interaktionen. Internalisiert werden ganze Objekte oder Teilaspekte. Der Mensch führt ein Leben lang einen inneren Dialog mit den verinnerlichten Objekten.

      Wir sprechen von den Selbst- und Objektrepräsentanzen als innerpsychischem Niederschlag von Erfahrungen. Verinnerlichung findet entlang der Entwicklungslinie von Inkorporation – Introjektion – Identifikation statt, von archaischeren zu differenzierteren Formen der Verinnerlichung. Während bei der Inkorporation in Anlehnung an den oralen Modus ein


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