Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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die Herleitung der Phasen des normalen Autismus und der Symbiose, die Mahler als Fixierungsstellen für den Autismus und die Psychosen (image Kap. VI) geltend macht, d. h. eine Herleitung aus der pathologischen Entwicklung, fragwürdig ist. Diese Phasen stimmen inzwischen nicht mehr mit den Erkenntnissen moderner Säuglingsbeobachtung überein.

      Stern (1983; 1985) spricht von den ersten beiden Monaten als Phase des auftauchenden Selbstempfindens. Der Säugling ist bei Stern von Anfang an auf seine Umwelt bezogen. Er verfügt über angeborene Fertigkeiten zu lernen und ein Gefühl von Regelmäßigkeit und Ordnung herzustellen. Sein visuelles Abtastmuster, sein soziales Lächeln zeigen, dass er Sinneseindrücke miteinander in Beziehung setzt. Er verfügt nicht nur über Triebe, sondern über angeborene Vitalitätsaffekte, Furcht, Angst, Scham, Schuld, Freude und Wut, die er mit anderen austauscht. Er befindet sich in einer dialogischen Hör-, Seh- und Fühlwelt. Entgegen dem Konzept von Mahlers Symbiose gibt es bei ihm im Alter bis neun Monate ein sogenanntes Kernselbstempfinden zweier physisch getrennter Wesenheiten, zweier Körper, die miteinander in Beziehung treten können, ohne miteinander zu verschmelzen. Er sieht einen anfänglichen Zustand einer Trennung von Selbst und Objekt (self-versus-other), der Gemeinsamkeitserlebnisse (self-with-other) möglich macht. Gemeinsamkeitserlebnisse sind auch reichlich vorhanden, aber die Grenzen gehen im Normalfall nicht verloren. Das Selbst ist Urheber von Handlungen und Empfindungen und verfügt über ein spezifisches Gedächtnis. Das Alter von 7–9 bis 18 Monate beschreibt Stern als subjektives Selbstempfinden getrennter Psychen, als Gefühle von Intersubjektivität. Das Kind kann jetzt mit Hilfe von Symbolen kommunizieren.

      Mit den Beobachtungen und Erkenntnissen von Stern ergeben sich fundamentale Kritikpunkte am Mahlerschen Modell. Wir schließen uns hier Dornes (1993, S. 75) an, der dafür plädiert, die Phase des normalen Autismus fallen zu lassen. Auch Mahlers Konzept der Symbiose betrachtet Dornes als nicht haltbar. Der Säugling nehme nicht symbiotisch wahr, nehme an Interaktionen nicht undifferenziert und passiv teil. Das symbiotische Verschmelzungsgefühl geht seiner Ansicht nach einher mit Sterns Konzept von Gemeinschaftserlebnissen zwischen Mutter und Kind, allerdings ohne eine Verschmelzung. Die Grenze zwischen Selbst und Objekt bleibt bei Stern erhalten. Intensive Gemeinschaftserlebnisse sind nicht von Grenzauflösung oder Konfusion begleitet, das sei nur in einer pathologischen Entwicklung so. Der Säugling kann sich weiterhin beim Erleben vom Miteinander abgrenzen. Nur wenn die Eltern die Autonomie behindern, kann die Flucht in eine Symbiose für einen überforderten Säugling entstehen, die Symbiose ist also bereits Abwehrprodukt. Gleichermaßen führt Stern zu einer Revision des Spaltungskonzeptes. Bei ihm kann der Säugling bereits ein ganzes Objekt wahrnehmen, erst affektive Belastungen können zu Beeinträchtigungen der Wahrnehmung und damit zur Spaltung als Abwehrleistung führen. Die Erkenntnisse Mahlers haben damit für die pathologische Entwicklung weiterhin uneingeschränkt Gültigkeit.

      1.5 Ödipuskomplex, Latenzphase und Adoleszenzkrise

      Während die Theorie über die präödipale Zeit einer erheblichen Revision unterliegt, bleiben die Erkenntnisse über den Ödipuskomplex weitgehend erhalten. Im vierten und fünften Jahr erreicht das Kind die Dreierbeziehung und den Ödipuskonflikt. Hatte der Vater während der Individuationsphase bereits als drittes Objekt die Funktion der Triangulierung, d. h. der Unterstützung des kindlichen Loslöseprozesses aus der Dualunion mit der Mutter, so tritt das Kind nun in die Dreierbeziehung Vater – Mutter – Kind ein. Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass der ödipale Konflikt aus dem Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils besteht, der Aufgabe desselben und der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Der Ödipuskonflikt hat zwei wesentliche Aufgaben: Die Geschlechtsidentität zu ermöglichen und die Aufrichtung der Generationenschranke durch das Inzesttabu (die Gesetze der Realität). In diesem Sinne ist der Ödipuskomplex ein universeller Komplex, es gibt aber durchaus andere kulturelle Ausgestaltungen des Konfliktes und dessen Lösung (vgl. Heinemann 1995; 1998). Störungen können auftreten, wenn das Kind an einen Elternteil gebunden ist, es nicht attraktiv ist, sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu identifizieren, wenn Ambivalenz nicht zugunsten der Liebesstrebungen gelöst werden kann, d. h. der Hass auf den Vater beispielsweise zu groß ist, als dass der Knabe sich mit ihm identifizieren kann. Dies gelingt nur, wenn neben der Rivalität, die ein wichtiges Stadium für das Erleben von Konkurrenz und Selbstentwicklung darstellt, auch Gefühle von Zuneigung und der Wunsch, so werden zu wollen wie der gleichgeschlechtliche Elternteil, vorhanden sind. Nicht der ödipale Wunsch, sondern das Tabu stehen im Vordergrund der psychischen Verarbeitung. Freud (1924d) sah in der Kastrationsangst des männlichen Kindes ein stärkeres Motiv, den ödipalen Wunsch aufzugeben und das Über-Ich zu etablieren. Mit der Aufgabe der Theorie des phallischen Monismus hat das Mädchen das gleiche Motiv, den Ödipuskonflikt aufzugeben, nämlich die Genitalbeschädigungsangst, und damit keine vom männlichen Geschlecht verschiedene Über-Ich-Bildung (image Kap. I.3.). Mit der Aufgabe des Ödipuskomplexes kommt es zur entscheidenden Verinnerlichung von Verboten und Geboten, vermittelt durch die Eltern, und der Bildung der eigenen Instanz im Ich, dem Über-Ich. Das Über-Ich ist ein Spezialfall der Verinnerlichung.

      Die Latenzphase ist eine Zeit der Konsolidierung zwischen dem abgeschlossenen Ödipuskomplex und der Pubertät. Sie dient der Bewältigung von Realität und dem Ich-Wachstum. Die Pubertät leitet die sogenannte Adoleszenzkrise ein, in der es im Sinne einer sekundären Individuation zur Wiederbelebung der Loslösungs- und Individuationsproblematik kommt. So wie sich das kleine Kind von der Mutter mit Hilfe des triangulierenden Vaters trennt, trennt sich der Jugendliche mit Hilfe der Peergroup von den Eltern und verinnerlicht die Normen und Werte seiner Generation, das sogenannte Generationen-Über-Ich, das dem elterlichen in vielen Aspekten entgegenwirkt. Neben der Wiederbelebung der Loslöse- und Individuationskrise kommt es durch den Triebschub zur Reaktivierung der ödipalen Konflikte, die mit der Partnerfindung schließlich verarbeitet werden.

      1.6 Die narzisstische Entwicklung

      Die Entwicklung des Selbst wird auch als narzisstische Entwicklung bezeichnet. Ursprünglich ging Freud davon aus, dass in den ersten Wochen und Monaten eine Objektliebe zur Mutter vorhanden ist, dann im Stadium des Autoerotismus eine Abwendung von ihr erfolgt, die dann wieder in eine Zuwendung mündet. »Als die anfänglichste Sexualbefriedigung noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war, hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers in der Mutterbrust. Er verlor es nur später … Der Geschlechtstrieb wird dann in der Regel autoerotisch und erst nach der Überwindung der Latenzzeit stellt sich das ursprüngliche Verhältnis wieder her … Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung« (Freud 1905d, S. 123). Als Freud 1914 das Konzept des primären Narzissmus formulierte, nahm er an, dass am Anfang ein subjektiver Zustand der Unabhängigkeit von der Umwelt vorhanden sei. Im Gegensatz dazu hat Balint (1937) die erste Auffassung Freuds aufgegriffen und den primären Zustand als den Zustand der primären Liebe dargestellt. Keiner zweifelt heute an einer intensiven Abhängigkeit und Beziehung zwischen Säugling und Mutter. Wichtiger scheint die Frage, wie Affekte oder Triebe die Besetzung des Selbst und des Objektes gestalten.

      Narzisstisch werden all diejenigen Fantasien, Tendenzen oder Befriedigungen genannt, die durch eine Bewegung vom Objekt weg zum Selbst hin charakterisiert werden. In dieser »Entweder-oder-« Form ist Narzissmus ein Schutz und Abwehrvorgang. Mit Narzissmus ist aber auch ein System des Selbst gemeint, das alle Befriedigungen, Affekte und Mechanismen, die der Regulation des Selbstwertgefühls dienen, kennzeichnet. Ereignisse, die das Gegenteil bewirken, werden narzisstische Kränkungen genannt. Bei der Triebentwicklung besteht ein Gegensatz von Befriedigung und Frustration, der Narzissmus entwickelt sich innerhalb der Pole einer positiven narzisstischen Spiegelung und der Kränkung. Das Selbst baut sich auf über Spiegelung, dem sogenannten »Glanz im Auge der Mutter«. Die frühesten positiven Selbstrepräsentanzen sind von positiven Objektrepräsentanzen noch ungetrennt. Die narzisstische Zufuhr ist von äußeren Objekten abhängig. Für die Spiegelung des Selbst braucht es Selbstobjekte, die diese Funktion übernehmen. Auch Erwachsene sind in


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