Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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Aspekten des Lebens beschäftigt, um das Emotionale besser verdrängen zu können.

      • Die Affektualisierung ist das Gegenstück zur Intellektualisierung. Durch eine Art Überemotionalisierung und Dramatisierung sollen Inhalte oder Affekte, meist entgegengesetzte Emotionen, abgewehrt werden.

      • Die Rationalisierung liefert sekundäre Rechtfertigungen von Verhaltensweisen durch Scheinmotive, um so von dem eigentlichen Wunsch oder Impuls abzulenken. Das sadistisch motivierte Verhalten eines Pädagogen kann beispielsweise mit pädagogischen Theorien begründet und rechtfertigt werden.

      • Die Affektisolierung trennt Inhalt und Affekt, wobei der Inhalt bewusst bleibt, der Affekt dagegen wird verdrängt. So kann jemand scheinbar affektlos über einen begangenen Mord reden, nicht, weil er keine Affekte wie Schuldgefühle und Hass hat, sondern weil diese verdrängt sind.

      • Das Ungeschehenmachen macht einen Impuls durch entgegengesetzte Gedanken oder durch einen magischen symbolischen Akt ungeschehen.

      • Die Reaktionsbildung ist ein dem Ungeschehenmachen ähnlicher Mechanismus, allerdings werden die unerwünschten und unerlaubten Impulse durch entgegengesetztes Verhalten und Haltungen auf Dauer und habituell abgewehrt. Die Mutter eines behinderten Kindes kann ihre Todeswünsche dem Kind gegenüber durch besonders überfürsorgliches, überbehütendes Verhalten abwehren. Im Unterschied zur Fürsorge aus Liebe ist das Verhalten eher zwanghaft und unflexibel.

      • Die Verschiebung ist eine Loslösung emotionaler Reaktionen von ihren ursprünglichen Inhalten und die Verknüpfung mit anderen, weniger wichtigen Situationen oder Gegenständen. Klassisches Beispiel ist die Phobie, wenn beispielsweise ein Kind beim Anblick des gerade geborenen Brüderchens in den Armen der Mutter die Angst, die Liebe der Mutter verloren zu haben, auf einen Aufzug verschiebt und nun Angst hat, Aufzug zu fahren.

      • Die Verlagerung richtet unerwünschte oder unerlaubte Impulse, meist Aggression, auf ein anderes als das eigentliche Objekt. Die Wut auf den Chef wird auf die Ehefrau verlagert.

      • Die Wendung gegen das Selbst kann eingesetzt werden, wenn Aggression nicht nach außen gegen ein Objekt gerichtet werden kann, meist weil das Objekt fehlt oder weil die Schuldgefühle zu groß sind.

      • Die Wendung von der Passivität in die Aktivität ermöglicht die Abwehr angstvoller, passiv erlebter Situationen durch eigenes aktives Verhalten. Das Kind spielt beispielsweise nach einem Zahnarztbesuch, dass es selbst die Zähne der Puppen untersucht.

      • Die Verdrängung im engeren Sinne dient der Unbewusstmachung, wobei bei fast allen Abwehrmechanismen der dritten Ebene Verdrängung im weiteren Sinne eine Rolle spielt.

      Auf der vierten Ebene werden Vorgänge wie Sublimierung und Neutralisierung angesiedelt. Bei der Sublimierung werden verdrängte Triebimpulse in sozial positiv gewertete Tätigkeiten verwandelt. Diese Form der gelungenen Anpassung ermöglicht dann sowohl Triebabfuhr als auch Anpassung. Neutralisierung meint dagegen auf einer allgemeineren Stufe den Wechsel libidinöser und aggressiver Triebenergie zu einem nichttriebhaften Modus. Die Frage, ob Sublimierung immer Triebverzicht voraussetzt, wurde von Freud bejaht, ist aber heute umstritten.

      Wir möchten den klassischen Abwehrmechanismen noch diejenigen anfügen, die speziell der Abwehr narzisstischer Konflikte dienen.

      • Die Sexualisierung dient der Abwehr schmerzhafter Affekte, zum Beispiel Schamgefühlen, indem die ganze narzisstische Konfiguration sexualisiert wird. Durch aktive, sexuelle Handlung kann die Situation dann toleriert werden.

      • Die Regression in den primären Zustand ist gekennzeichnet durch Rückzug von äußeren Objekten und Sich-Verlieren in Verschmelzungsfantasien.

      • Die Verleugnung durch Größenfantasien in Form eines Größen-Selbst dient der Aufrechterhaltung eines narzisstischen Gleichgewichts, das durch Angst, Hilflosigkeit oder Kränkung in Gefahr gerät.

      • Die Kompensierung durch Idealisierung dient gleichermaßen der Aufrechterhaltung des narzisstischen Gleichgewichts, nur greift das Subjekt zur Idealisierung äußerer Objekte, die zu allwissenden und omnipotenten Objekten werden, mit denen das Subjekt sich dann identifizieren kann.

      2.3 Symptombildung

      Symptome entstehen durch die Verwendung spezifischer Abwehrmechanismen. Sie stellen Kompromiss- oder Ersatzbildungen dar. Sie ermöglichen in gewisser Hinsicht Triebabfuhr, befriedigen aber auch das Über-Ich, die Außenwelt oder die Selbstregulation. Das Kind mit der Aufzugsphobie kann beispielsweise seinen Angstaffekt äußern, aber auch die Beziehung zur Mutter konfliktfrei halten. Indem die Symptome sowohl das Abgewehrte als auch die Abwehr enthalten, dienen sie auch der Mitteilung des unbewussten Konfliktes, der Wiederkehr des Verdrängten, dem Wunsch, den Konflikt doch noch zu lösen. Diese Symptomsprache sucht die Psychoanalyse zu verstehen. Die Wege der Symptombildung und deren Verständnis werden wir anschließend an den einzelnen Störungen aufzeigen.

      Es wird ferner zwischen Symptombildung und Charakterbildung unterschieden, wobei die Symptombildung in der Regel als Ich-dyston, d. h. Ich-fremd, empfunden wird, die Charakterneurose bzw. der neurotische Charakter dagegen erlebt seine Verhaltensweisen als Ich-synton, d. h., dem Ich zugehörig.

      3.1 Freuds phallischer Monismus

      Freuds Theorien (1924d; 1925j; 1931b; 1933a) zur männlichen und weiblichen Entwicklung gehen von einem biologisch bedingten Vorteil des Knaben aus und »ver-herr-lichen« die männliche Entwicklung. Die stärkere Anlage der Frau zur Bisexualität gehe aus der weiblichen Sexualentwicklung hervor, die bis in die phallische Phase hinein männlich sei, da sie unter dem Primat der Klitoris, d. h. einem dem männlichen Glied analogen Organ stehe. Freud zufolge beginnt das Primat der Vagina erst in der Pubertät. Die Frau hat nach Freud ein passives, weibliches und ein männliches, aktives Geschlechtsorgan. Die Weiblichkeit sei durch die Bevorzugung passiver Ziele, die Männlichkeit durch aktive Ziele gekennzeichnet. Ein weiteres zentrales Moment in der weiblichen Entwicklung sei der Penisneid, den Freud als primär betrachtet und der ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl in der Frau hinterlasse. »Irgendeinmal macht das kleine Mädchen die Entdeckung seiner organischen Minderwertigkeit, natürlich früher und leichter, wenn es Brüder hat oder andere Knaben in der Nähe sind« (ebd., 1931b, S. 524). Und: »Es bemerkt den auffällig sichtbaren, groß angelegten Penis eines Bruders oder Gespielen, erkennt ihn sofort als überlegenes Gegenstück seines eigenen, kleinen versteckten Organs und ist von da an dem Penisneid verfallen« (ebd., 1925j, S. 23). Beim Knaben löse der Anblick des weiblichen Genitals die Vorstellung einer Wunde, einer vollendeten Kastration aus. Kastrationskomplex und Penisneid sind bei Freud ein phylogenetisches Erbe, das mittels Erinnerungsspuren bewahrt geblieben ist. Der ursprüngliche Penisneid des Mädchens und die Kastrationsangst des Knaben werden allerdings auch bei Freud später durch Regression und Reaktionsbildungen verstärkt. Freuds Theorie wird als phallischer Monismus bezeichnet: »Auf der nun folgenden Stufe infantiler Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kastriert« (ebd., 1923e, S. 297).

      Neben den Fantasien über die unterschiedliche organische Ausstattung machte Freud noch auf einen anderen, wesentlichen Unterschied zwischen Knaben und Mädchen aufmerksam. Am Ausgang menschlicher Entwicklung gibt es einen fundamentalen Unterschied: das erste Liebesobjekt des Kindes ist für das Mädchen ein gleichgeschlechtliches, für den Knaben ein gegengeschlechtliches. Freud sah im Penisneid der Mutter die Ursache für deren positivere Haltung dem Jungen gegenüber. »Nur das Verhältnis zum Sohn bringt der Mutter uneingeschränkte Befriedigung; es ist überhaupt die vollkommenste, am ehesten ambivalenzfreie aller menschlichen Beziehungen« (ebd., 1933a, S. 143).

      Neben dem Wechsel der erogenen Zone, von der aktiv-männlichen Klitoris zur passiv-weiblichen Vagina muss das Mädchen bei Freud nicht nur den Wechsel von der Aktivität zur Passivität bewältigen, sondern auch noch sein Liebesobjekt wechseln. Der Abwendung von der Mutter gehe eine Lockerung des Verhältnisses durch Versagungen voraus. Der entscheidende


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