Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann
und über Schuldgefühle gegen das Selbst gewendet. Mutismus, Ängste und Phobien im Kindesalter sind bereits in der weiblichen Entwicklung Ausdruck dieser Trennungs- und Ablösekrise von der Mutter, Aggression wird auf die Außenwelt projiziert und die Beziehung zur Mutter regressiv stabilisiert. Auch die weibliche Entwicklung scheitert dann letztendlich an fehlenden nicht-mütterlichen, phallischen Identifikationsmöglichkeiten, phallisch nicht im Sinne eines Männlichkeitskomplexes, den Penis besitzen zu wollen, sondern im Sinne eines aktiven Begehrens.
4 Psychoanalyse und Pädagogik
4.1 Die Anfänge der psychoanalytischen Pädagogik
Die Geschichte der Psychoanalyse ist von Anfang an eng mit Pädagogik verbunden. Behandelte die Psychoanalyse neurotische Störungen auf dem Hintergrund der genetischen Theorie, d. h. der Annahme einer Entstehung psychischer Störungen durch Erlebnisse, die bis in die Kindheit zurückgehen, so ist die Erforschung des Unbewussten gleichzeitig auch Erforschung der Psychologie des Kindes. Da die Psychoanalyse in ihren Anfängen Interessenten ganz verschiedener Berufszweige offenstand, waren es naturgemäß psychoanalytisch ausgebildete Pädagogen, denen die Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik zu verdanken ist. Diese Diskussion aus der »Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik« fand in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik (1926–1937) ihren publizistischen Niederschlag.
Den ersten im engeren Sinne pädagogischen, d. h. auf das Kind gerichteten Erziehungsversuch unternahm Freud selbst. In seiner Schrift »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (1909,
4.2 Die Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik
Die Zeit von 1920 bis 1938 gilt als die Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik, wobei die Zeit bis 1932 von uneingeschränktem Optimismus zeugt, das Kind mit Hilfe der Psychoanalyse befreien zu können und Neurosenprophylaxe durch eine an der Psychoanalyse orientierte Erziehung betreiben zu können. »Eine diesen Lehren entsprechende rationellere Kindererziehung wird einen großen Teil der drückenden psychischen Lasten wegräumen« (Ferenczi 1908, S. 17). Zu Beginn war das Engagement der psychoanalytischen Pädagogen für die Befreiung des Kindes von der Leugnung und Unterdrückung seiner Sexualität, von der Missachtung seiner affektiven und sozialen Bedürfnisse und seiner Ansprüche auf Selbstverwirklichung gekennzeichnet. 1932 setzte dann eine kritische Sichtung von Missverständnissen und übersteigerten Hoffnungen ein und führte zur Revision der psychoanalytischen Pädagogik, die 1937 in einem Symposium in Budapest zu diesem Thema ihren Höhepunkt fand. Im Zuge der Revision wurde nun gewarnt, vor lauter Verstehen müssen das natürliche Benehmen zu verlieren, und es wurde die wichtige Rolle der Versagungen für die kindliche Entwicklung hervorgehoben (Bornstein-Windholz 1937). Die pädagogische Zielsetzung verschob sich von der Befreiung des Kindes zu einer an Ich-Stärkung gerichteten positiven Erziehungslehre. Dieser Wechsel vollzog sich parallel zur Etablierung der Ich-Psychologie innerhalb der psychoanalytischen Theorie (Füchtner 1979). Die psychoanalytische Pädagogik entwickelte in ihrer Blütezeit drei Schwerpunkte, nämlich den Bereich der Kindertherapie (
Die Psychoanalytiker, die zugleich Pädagogen waren, hatten einen neuen Anwendungs- und Forschungsbereich geschaffen, die Kindertherapie. Mit Ausnahme von Melanie Klein haben die Pioniere der Kinderanalyse – Anna Freud, Nelly Wolffheim, Hermine Hug-Hellmuth, Hans Zulliger – dem pädagogischen Engagement des Psychoanalytikers in der Kindertherapie einen festen Platz zuerkannt. Vor allem in der Ausarbeitung der Kinderanalyse durch Anna Freud sind die Einflüsse der Sozialarbeit und Pädagogik der Entstehungszeit anzumerken. Sie begründet die pädagogische Dimension der Kinderanalyse mit der Unfertigkeit des Kindes und der Unselbständigkeit des Über-Ich. Das Über-Ich des Kindes müsse sowohl durch die Therapie korrigiert als auch durch Schaffung neuer Eindrücke in der Erziehung beeinflusst werden. »Die Arbeit am kindlichen Über-Ich aber ist eine doppelte: analytisch in der historischen Zerlegung von innen her, soweit das Über-Ich schon Selbständigkeit erlangt, aber außerdem erzieherisch beeinflusst von außen her durch Veränderungen im Verhältnis zu den Erzieherpersonen, durch die Schaffung neuer Eindrücke und durch die Revision der Anforderungen, die von der Außenwelt an das Kind gestellt werden« (A. Freud 1926, S. 96). Bittner (1967, S. 183 ff.) zeigt auf, dass Anna Freud die pädagogischen Elemente der Therapie in späteren Arbeiten nicht mehr als pädagogische reflektieren wollte. Auch sie unterlag dem Sog der Abgrenzung und, damit auch meist verbunden, der Abwertung der Pädagogik.
Die Versuche einer psychoanalytischen Heimerziehung waren revolutionär, scheiterten aber nach meist nur wenigen Jahren an den institutionellen und gesellschaftlichen Widerständen. Wera Schmidt (1923) gründete 1921 in Moskau ein Heim für dreißig Kinder