Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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auch im Unterricht, nicht nur in der Therapie, die wesentliche Arbeitsgrundlage ist, setzt ansprechenden und sorgfältig geplanten Unterricht voraus. »Man könnte sagen, dass in Lehrer-Schüler-Beziehungen Liebe gleich Wissen ist, d. h. die Liebe des Lehrers muss die Gestalt des Schenkens von Wissen annehmen« (Herbert 1961, S. 319).

      Freie Aufsätze:

      Das gelegentliche Anfertigen von freien Aufsätzen ist eine gute Möglichkeit, die inneren Konflikte der Schüler zu verstehen. Ich möchte dies an zwei Beispielen veranschaulichen. Der erste Aufsatz ist von einem stotternden, lernbehinderten 10-jährigen Jungen: »Der Cowboy. Es war einmal ein Cowboy. Er hatte einen Colt. Er konnte sehr schnell schießen. Alle Leute hatten Angst vor ihm. Sie sind ihm aus dem Weg gegangen. Er hatte einen Stern. Er musste immer die Räuber einfangen und sie ins Gefängnis sperren. Dann kamen sie auf das Gericht und wurden verurteilt. Sie bekamen eine Strafe. Sie wurden erschossen. Da kamen die anderen Gangster und erschossen den Sheriff. Da kam die Kavallerie und fing die 100 Gangster ein. Die Gangster wehrten sich, aber sie schafften es nicht.«

      Zeigt sich hier nicht die ganze innere Dynamik eines stotternden Kindes (image Kap. 29), der nichtendende Konflikt zwischen aggressiven Impulsen und hemmendem Über-Ich und der Suche nach männlicher Identität?

      Der Aufsatz eines lernbehinderten 12-jährigen Mädchens: »Die grünen Männchen. Die grünen Männchen sind die gefährlichsten Männchen auf der Welt. Ich habe sie gemalt und über Nacht sind sie verschwunden. Sie sind aus dem Papier heraus wirklich geworden. Sie lungerten in der Wohnung herum, bastelten eine Pistole und stellten die Pistole auf den Schreibtisch. Als dann ein Mann vorbeikam, schossen sie. Er duckte sich und die grünen Männchen verschwanden. Der Mann erhob sich langsam wieder. Da kam der Besitzer der Wohnung und fragte: ›Was ist denn los?‹ Der Mann erzählte von den grünen Männchen. Das waren die Männchen, die ich gemalt hatte. Wir suchten sie. Ich suchte im Arbeitszimmer. Im Arbeitszimmer fand ich sie dann.«

      In der Nacht kommen die unbewussten aggressiven Impulse, erschießen den Mann, in der Übertragung die Lehrerin, vielleicht sind Mutter oder Vater gemeint. Der Mann (die Lehrerin) kann sich aber ducken und das Mädchen zusammen mit ihm die Männchen, sicher nicht zufällig im Arbeitszimmer, wiederfinden. Zeigt die Geschichte nicht sehr schön, wie das Mädchen, das mit einem IQ von 100 auf der Sonderschule für Lernbehinderte war, ihre eigenen Produkte aggressiv besetzte und eine Lernhemmung entwickeln musste, solange sie diese Aggression nicht ins Ich integrieren konnte, weil sie befürchten musste, dass ihr Gegenüber diese Aggression nicht überlebt? Ohne den Bezug zum Elternhaus herstellen zu müssen, können solche Interpretationen in Einzelgesprächen oder auch in der Klasse, wenn das entsprechende Klima erreicht ist, besprochen werden.

      Gespräche vor der Klasse:

      Florian war ein Schüler, der anfangs durch sein Übergewicht und sein aggressives Verhalten sowie seiner extremen Lese- und Schreibschwäche Außenseiter war. Er konnte kaum an einem Schüler vorbeigehen, ohne diesen zu boxen. Da er kaum lesen und schreiben konnte, wurde er oft verspottet, was seine Aggression erhöhte. Im Unterricht regredierte er. Er spielte mit Spielzeugautos und rannte bellend durch das Klassenzimmer. Im Gefühl, Hund zu sein, legte er sich auf den Boden, knurrte und biss sogar gelegentlich einen Schüler, was sofort einen Tumult hervorrief. Versuchte ich mit ihm zu reden, bellte er nur als Antwort. Vorsichtig verbalisierte ich sein Verhalten: Er wolle lieber spielen, Hund sein, als lernen zu müssen und erwachsen zu sein. Sein Bellen hörte erst auf, als ich ihm immer wieder kleine Sonderaufgaben im Lesen und Schreiben gab, was ihn freute. Erfreut meinte er einmal, dass er mir etwas zu Ostern schenken wolle. Die anderen Schüler reagierten aggressiv auf die Sonderaufgaben, ich versuchte ihnen aber zu vermitteln, dass es nicht bedeute, dass ich Florian lieber habe, sondern dass er diese Aufgaben brauchte, um besser lesen und schreiben zu lernen. Seine orale Aggression wurde sehr schön deutlich, als ich mit den Schülern in der Schülerbibliothek war, und Florian sich ein Buch über Fische, die Menschen fressen, ausleihen wollte. Als Florian erstmals von einer Kollegin zum Lesekurs abgeholt werden sollte, sprang er entsetzt auf und fauchte mich an: »Gell, das haben Sie verbrochen!« Bellend, knurrend und wild grimassierend ging er schließlich mit. Als er zurückkam, verbalisierte ich im Einzelgespräch seine Ängste, dass er das Gefühl gehabt habe, ich gebe ihn weg, weil ich ihn vielleicht nicht mehr gern hätte und nicht, damit er besser lesen lerne. Das Verbalisieren seiner Ängste reichte aus, ihn wieder zum Sprechen zu bringen. Er erzählte in der nächsten Stunde viel von seinen Hunden zu Hause und lud mich ständig zu seinem Geburtstag ein.

      Wenige Tage später kam er morgens völlig aufgelöst und aggressiv in den Unterricht. Er rannte durch das Klassenzimmer, zog Schülern die Stühle weg, boxte und bellte. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und die Schüler auch, was schon eine enorme Leistung war und die Identifikation mit der verstehenden Haltung des Lehrers zeigte. Ich verbalisierte: »Florian, Du bist heute Morgen sehr wütend. Kannst Du uns nicht sagen, warum Du so wütend bist?« Anstelle einer Antwort rannte er auf mich zu, stand mit drohenden Händen, verzerrtem Gesicht, wild knurrend und bellend vor mir. Ich fragte wieder: »Du bist jetzt auch sehr wütend auf mich. Kannst Du nicht sagen, warum?« Völlig unzugänglich rannte er weiter im Klassenzimmer herum. Ich nahm meinen Stuhl, setzte mich frontal zur Klasse und sagte ruhig: »Florian, ich habe den Eindruck, dass Du – vielleicht zu Hause – etwas sehr Unangenehmes erlebt hast.« Er zuckte sichtlich unter meiner Bemerkung zusammen, setzte sich auf seinen Platz und erzählte mit Tränen in den Augen: »Frau Heinemann, meine Maus, die Tina, ist mir gestern weggelaufen. Die läuft jetzt in der Wohnung rum und ich finde sie nicht.« Die anderen Schüler hörten gespannt zu. Ich sagte: »Du hast das Gefühl, etwas sehr Wertvolles verloren zu haben. Du hast auch oft Angst, mich zu verlieren, vielleicht hast Du ja schon einmal die Erfahrung gemacht, etwas sehr Wichtiges verloren zu haben. (Pause) Und weil Du so unglücklich bist, ärgerst Du die anderen Kinder.« Florian war erleichtert und sagte, dass er mir die Maus malen wolle, worin ich ihn bestärkte. Die Schüler konnten erleben, dass jemand einen Grund hat, wenn er sich so verhält. Diese Erfahrung versuchte ich ihnen bewusst zu machen. Florian war inzwischen mit seiner Zeichnung fertig und übergab sie mir. Ich zeigte das Bild der ganzen Klasse. Es war beeindruckend, mit welchem Eifer Florian den Rest des Vormittags mitarbeitete. Der Verlust der Maus hatte seinen zentralen Konflikt, den Verlust der Mutterliebe, reaktiviert. Durch eine orale Regression (Übergewicht) und Identifikation mit den von der Mutter heiß geliebten Hunden suchte er diese wiederzugewinnen. Das Malen der Maus ermöglichte ein Stück Verarbeitung, nämlich dass etwas, das verloren ist, symbolisch präsent bleiben kann. Bis zu einem gewissen Grad von Intimität sind genetische Deutungen auch in den Gesprächen mit der Klasse möglich, intimere Erlebnisse erfordern selbstverständlich den Schutz des Einzelgespräches.

      Die Regressionsecke:

      Psychoanalytische Pädagogik arbeitet im Widerspruch von Regression und Progression. Die Regression im Dienste des Ich ist eine vorübergehend nötige Wiederbelebung früherer Erlebnisweisen, die in der Übertragung und aufgrund der größeren Reife des Ich durchgearbeitet werden können. Pädagogik dagegen ist an Progression, an Lernen und Ichreifung orientiert. Dieser Widerspruch ist aber nur scheinbar ein Widerspruch. Regression ist gerade dann heilsam, wenn sie im Rahmen von Progression stattfindet, der Patient immer wieder auch zur Progression angeregt wird, was im analytischen Setting in der Regel das pünktliche Stundenende leistet. Einer meiner Patienten mit psychosenahen Ängsten meinte lange Zeit, dass das Schönste an der Analyse der pünktliche Stundenbeginn und das pünktliche Stundenende sei. Auch das analytische Setting hat einen Rahmen, der an Progression, Realität und Sekundärprozess orientiert ist. Dies erklärt vielleicht meine Erfahrung, dass ich gerade im Unterricht der Sonderschule, in der ich als Klassenlehrerin Klassen von 7–15 Schülern über einige Jahre hinweg unterrichtete, besonders gute Rahmenbedingungen für eine psychoanalytische Pädagogik vorfand. Als Supervisorin in außerschulischen sozial- oder sonderpädagogischen Einrichtungen erlebe ich immer wieder, dass sich Pädagogen schwer tun, einen klaren Rahmen einzuhalten. Es wird oft den Wünschen der Heimbewohner nach einem familiären Rahmen nachgegeben, Pädagogen


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