Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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rel="nofollow" href="#ulink_2294b469-9837-551e-bb1c-c0499b976acd">Kap. 23). Überrascht schaute sie mich an und sagte: »Da fällt mir ein, dass Florian, als sein Vater neulich eine Woche nicht da war, überhaupt nicht einnässte.« In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass ein Zusammenhang zwischen Florians Enuresis und seiner Angst vor dem Vater besteht. Sie erzählte jetzt viele Einzelheiten der Familie. Plötzlich erschien einer der Hunde hinter der Balkontür. Sie sprang auf, ging zur Balkontür, zog den Vorhang zur Seite und zeigte mir stolz den Hund. In überaus zärtlichem Ton sagte sie, wie zu einem Säugling sprechend: »Ei, da ist er ja, der Gute.« Während sie über den Hund redete, war ihr Tonfall wesentlich herzlicher als wenn sie vom »Dicken« redete. Sie erzählte, dass sie den Hunden manchmal Bratwürste kaufe, damit sie nicht nur Frolic essen müssen. Florian würde dann hinrennen und den Hunden die Bratwurst wegessen. Florian wäre so gierig. Einmal hätte er sich das halbe Ohr abgerissen, als ein Stück Fleisch unter den Schrank fiel und er es unbedingt haben wollte. Ich sagte: »Nun, vielleicht möchte Florian auch so viel Gutes von Ihnen bekommen, wie die Hunde.« Meine Bemerkung traf sie sichtlich. Ihr wurde klar, dass sie über orale Vernachlässigung an Florians Schwierigkeiten Anteil hatte.

      Als ich mich verabschiedete, forderte sie mich nachhaltig auf, bald wieder zu kommen. Wie sehr selbst ein einzelnes Gespräch zum Verstehen der Konflikte beitragen kann und bei den Eltern Veränderungen in Gang gesetzt werden können, lässt zumindest die Reaktion von Florians Mutter hoffen. Am folgenden Montag fragte mich Florian, ob ich am Samstag bei ihnen geschellt hätte. Erstaunt fragte ich, wie er denn darauf komme. Er erzählte, dass seine Mutter am Samstag mein Auto vor dem Haus sah. Da dies unmöglich war, sagte ich, dass es ja viele Autos wie meines gebe. »Nein«, erwiderte er, »meine Mutter hat gesagt, dass das Auto Ihre Nummer hatte.« Florians Mutter musste also versucht haben, sich meine Autonummer zu merken und im Sinne einer Wunschprojektion gehofft haben, dass ich am Samstag bei ihnen schelle. Sie bestellte mir durch Florian noch schöne Grüße und dass ich bald wiederkommen solle. Die Bedürftigkeit Florians ist auch bei der Mutter zu spüren. Warum Florian sich manchmal wünscht, Hund zu sein, machte mir der Besuch drastisch klar.

      Einzelgespräche:

      Die 13-jährige Manuela blieb seit ihrer Einschulung regelmäßig vom Unterricht fern, so dass sie in die Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen wurde. Im ersten Halbjahr war sie bei mir lediglich 25 Tage anwesend. Im Unterricht störte sie nicht, sie weigerte sich aber zu lesen und zu schreiben. Sie war immer sehr auffällig zurecht gemacht, so dass sie die Eifersucht der anderen Mädchen heraufbeschwor. Ich bat sie zu einem Einzelgespräch. Ich begann das Gespräch mit den Worten: »Ich habe den Eindruck, dass Du nicht gerne in die Schule kommst.« Manuela (verlegen): »Na ja, es macht mir halt keinen Spaß. Ich kann ja auch schon alles.« E. H.: »Du meinst, Du bist schon erwachsen, kannst schon alles und brauchst deshalb nicht mehr in die Schule zu gehen? Du möchtest nicht mehr zu Deinen Klassenkameraden gehören?« Manuela: »Na ja, Frau Heinemann, ich sehe doch auch schon viel älter als die anderen aus. Das sagen meine Freundinnen auch.« E. H.: »Du hast also Angst, zu den Klassenkameraden dazugerechnet zu werden; Angst, dass die Leute Dich nicht für erwachsen halten. Gell, deshalb hast Du Dich auch neulich die ganze Stunde geschminkt und gekämmt, als wir die Referendare zu Besuch hatten?« Manuela: »Ja, ich sehe doch schon viel älter aus.« E. H.: »Deswegen hast Du auch keine Lust zu arbeiten, weil Du schon erwachsen sein möchtest und als Erwachsener kann man halt schon lesen, schreiben und rechnen. Deshalb möchtest Du auch nicht wie hier in der Schule erleben, dass Du das noch gar nicht kannst, dass Du vielleicht doch noch nicht so bist, wie Du gerne sein möchtest.«

      Manuela begann von ihrem Elternhaus zu erzählen, von der Mischung aus körperlicher und sexueller Gewalt, dessen Bedrohung sie nur abwehren konnte über ein sexualisiertes Verhalten (image Kap. IV). Verführerisch zu sein, gab ihr ein Gefühl von Autonomie und Macht, zu lernen dagegen hieß Kind sein, ohnmächtig und hilflos ausgeliefert sein. Manuela hatte keine Schulphobie (image Kap. 10), sondern schwänzte die Schule, weil sie Lernen mit Abhängigkeit und sexualisiertes Verhalten mit Autonomie gleichsetzte.

      Nachdem ich versucht hatte, Manuela diese Situation bewusst zu machen, sagte ich: »Du schämst Dich für das, was Du erlebt hast und weil Du noch nicht so bist, wie Du gerne sein möchtest. Ich sollte denken, dass Du schon alles kannst, dass Du schon erwachsen bist. Deshalb wolltest Du auch nie etwas vorlesen.« Manuela (lächelnd): »Ja.« E. H.: »Ich verstehe jetzt Deine Angst. Wir können ja mal sehen, ob Du nicht vielleicht doch etwas lernen kannst, was Du brauchst, um Dich nicht mehr zu schämen. Dafür musst Du natürlich in die Schule kommen.« Manuela: »Doch, ich komme jetzt in die Schule.« E. H.: »Das freut mich. Wenn es Dir noch so schwer fällt, vor den anderen zu lesen, kannst Du mir ab und an allein etwas vorlesen.« (Ich hatte eine Stunde pro Woche für Einzelsituationen zur freien Verfügung). Manuela (erfreut): »Ich verspreche Ihnen, dass ich jetzt immer in die Schule komme. Bestimmt. Ganz bestimmt.« E. H. (lächelnd): »Fein.«

      Manuela kam nach diesem Gespräch tatsächlich regelmäßig in die Schule und konnte am Schuljahresende aus pädagogischen Gründen eine Klasse überspringen, so dass sie vom Äußeren her nicht mehr so auffällig war. Manuela benötigte den geschützten Rahmen eines Gespräches und einiger Einzellesestunden, um die Erfahrung von Intimität ohne Missbrauch zu machen, so dass sie ihren Schamkonflikt, den sie vom Elternhaus auf die Klassensituation übertrug, bewältigen konnte.

      Deutungen durch den Unterrichtsstoff:

      Der 6-jährige autistische (image Kap. 27) Schüler Holger meiner Klasse in der Sonderschule für Geistigbehinderte aß fast nur Pfannekuchen und trank lediglich Kakao. Er aß weder Obst noch Gemüse. Wurde er aufgefordert, andere als die gewohnten Speisen zu essen, reagierte er mit heftigen Todesängsten. Um ihn vor Angstüberflutung zu schützen, tolerierte ich anfangs seine Vermeidungshaltung. Nach etwa 11/2 Jahren sprach er selbst häufiger vom Essen und so beschloss ich, das Thema aufzugreifen. Ich führte eine Unterrichtseinheit zum Thema Ernährung mit den Materialien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung durch. Diese Materialien enthielten die Geschichte der »kleinen Lok, die alles weiß«. Diese Lokomotive bringt Kinder in ein Ferienlager, wo sie feststellen, dass ihr Essen vergessen wurde. Die Lokomotive fragte die Kinder, welche Speisen sie holen soll. Die Kinder bestellten Süßigkeiten, die Lokomotive kam aber vollgeladen mit den verschiedenen Ernährungsbausteinen zurück. In einem Wagen befanden sich Obst und Gemüse, im nächsten Fette etc. Während der nächsten Unterrichtsstunden hängten die Schüler die Bilder mit den Wagen auf, ordneten Lebensmittel den Wagen zu und stellten ausgewogene Speisepläne für den Tag zusammen. Als Hausaufgabe sollten die Schüler ankreuzen, aus welchen Wagen sie tagsüber Nahrung zu sich genommen hatten. Die Bedeutung einer ausgewogenen Nahrung wurde den Schülern handelnd und kognitiv vermittelt.

      Für Holger war die Unterrichtseinheit eine Gratwanderung. Einerseits glaubte er, bestimmte Nahrung bringe Tod, andererseits war die Gefahr aber nun, dass er die Unterrichtseinheit so verarbeitete, dass es lediglich zur Umkehr der Spaltung kam: Wenn er kein Obst und Gemüse isst, muss er sterben. Durch Verbalisierungen versuchte ich, diese Verarbeitung zu verhindern. In der Geschichte symbolisiert die »kleine Lok, die alles weiß«, die freundliche, gute Lehrerin, die ja auch scheinbar alles weiß. Holger arbeitete mit Interesse mit, wurde von mir nicht gedrängt, jetzt unbedingt dies oder jenes zu essen. Er begann von sich aus zu Hause Obst und Gemüse zu essen, als er sah, dass bei ihm bei einigen Wagen immer Leerstellen blieben. Die Inadäquatheit seiner Todesangst wurde ihm durch eigenständige Konfrontation mit der Realität bewusst.

      Der Vorteil der Deutung durch den Unterrichtsstoff ist, dass das Kind eine eigene, aktive Auseinandersetzung mit der Realität als drittem Objekt führt. Es entwickelt eigene Deutungskompetenz und Autonomie, was gerade die Selbst-Entwicklung fördert und


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