Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann
unbewussten Fantasien des Kindes. Die unbewusste Fantasie ist für Klein psychischer Repräsentant oder Korrelat von Triebregungen. Und da Triebe bekanntlich von Geburt an wirksam sind, setzte sie auch ein primitives Fantasieleben von Geburt an voraus. Dies bedeutete gleichzeitig, dass von Anfang an erste Objektbeziehungen bestehen, was ebenfalls zu Meinungsverschiedenheiten führte, da das neugeborene Kind lange Zeit lediglich als »Reflexwesen« angesehen wurde (ebd., S. 144). Damit wird auch verständlich, warum Melanie Klein eine vollständig andere Definition und Vorstellung von Übertragung haben musste als Anna Freud und auch an Übertragungen von Beginn der Analyse an glaubte, zumal sie ödipale Strukturen weitaus früher vermutete als bis dahin angenommen. Die Übertragung ist bei Melanie Klein nicht mehr nur eine Repräsentanz des verdrängten Unbewussten, sondern stammt – wie bereits erwähnt – aus dem steten Wirken der unbewussten Fantasie, welche alle Triebregungen begleitet (Hamann 1993, S. 64). Diese Erkenntnis bestimmte ihr Vorgehen in der Analyse ganz entscheidend. Mit der konsequenten Deutung auch der Aggression und archaischer Fantasien legte sie zudem den Grundstein für die Behandlung psychotischer Kinder und so bedeutender Konzepte wie das des »Containings« von Bion (
Von 1923 an stellte Melanie Klein dem Kind in der Analyse ausgewählte Spielsachen zur Verfügung, die speziell für jedes Kind in einer Schachtel aufbewahrt wurden (hölzerne Frauen und Männer, Autos, Tiere, Bäume, Bleistifte, Buntstifte, Leim, Kugeln und Bälle etc.). Ihr Spielzimmer war nur mit dem Nötigsten ausgestattet, u. a. jedoch mit fließendem Wasser. Ob direkt über das Spiel oder indirekt, richtete Melanie Klein ihr Augenmerk primär auf die Ängste des Kindes und versuchte sie durch Deutung zu vermindern (Klein 1962). Alle nicht-analytischen nicht-deutenden Methoden, alle »Erziehungsmaßnahmen« wurden vermieden, es wurde keine Ermutigung, keine Versicherung oder Gratifikation gegeben, um die Übertragungen nicht zu beeinflussen.
Kritisch wird bei Melanie Klein oft angemerkt, ob sie nicht die Rolle der Fantasie zu stark betone und die Realität vernachlässige, ob sie nicht zu aktiv deute. Tatsächlich wirkt manche Deutung sehr intrusiv, was Hamann (1993, S. 84 ff.) aber einer großen Sensibilität im Umgang mit dem Material gegenüberstellt. Jacques Berna spricht sogar von »diktatorisch aufgezwungenen Deutungen« (1967, S. 329).
Während Anna Freud mehr Wert auf die Analyse der Ich-Strukturen und der Abwehr legte und im Bewussten arbeitete, suchte Melanie Klein sofort und schnell Kontakt zu den unbewussten Strukturen ihrer Patienten herzustellen (Hamann 1993, S. 78). Die Unterschiede zwischen den Techniken von Anna Freud und Melanie Klein sind eklatant, vor allem was den Umgang mit der Übertragung und den Stellenwert der kindlichen Sexualität angeht. Stephan hat in diesem Zusammenhang sehr zugespitzt formuliert: »Die Arbeiten von Melanie Klein stellten deshalb eine große Provokation für Anna Freud dar, weil in ihnen all das zur Sprache kam, was sie selbst auf ihrem mühsamen Weg zur väterlichen Psychoanalyse hinter sich gelassen hatte« (1992, S. 298).
Die kleinianischen Annahmen, vor allem die Bedeutung der Projektiven Identifizierung und der Symbolbildung, wurden von ihren Schülerinnen und Schülern fortgeführt und erweitert, insbesondere von Paula Heimann, Wilfred R. Bion und Hanna Segal (
Einen originären Beitrag zur Kinderanalyse hat Bick (1968) geliefert. Ihre These war, dass Persönlichkeitsanteile in ihrer primitivsten Form so empfunden werden, als müssten sie zusammengehalten werden, um die Katastrophe des Auseinanderfallens zu verhindern. Im frühkindlichen, unintegrierten Zustand kann ihrer Meinung nach ein bewahrendes Objekt ganz konkretistisch als Haut erfahren werden, als hielte es die Teile der Persönlichkeit zusammen.
Der heutige Stand der Psychoanalyse von Kindern und die technische Anwendung dieser theoretischen Neuerungen, insbesondere die Handhabung der Gegenübertragung, wird ausführlich von Harris, Bick, O’Shaughnessy und Eskalinen de Folch in den von Bott-Spillius (1990) herausgegeben zwei Bänden »Melanie Klein Heute« dargestellt. Wie die projektive Identifizierung und Gegenübertragung zur Psychodiagnostik von Jugendlichen in Erstinterviews genutzt werden kann, hat Salzberger-Wittenberg in einem Vortrag verdeutlicht, der 1994 veröffentlicht wurde. Ebenso erscheinen regelmäßig Arbeiten zur kleinianischen Kinderanalyse in der Zeitschrift »Kinderanalyse« sowie in der Zeitschrift »Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie«.
Donald W. Winnicott wurde 1896 geboren, studierte in Cambridge Medizin und arbeitete als Kinderarzt in einem Londoner Kinderkrankenhaus. 1923 begann er eine Lehranalyse bei James Strachey und arbeitete von da an als Kinderarzt und Analytiker. Winnicott hat viele Gedanken Melanie Kleins aufgenommen, der er dennoch zeitlebens kritisch gegenüberstand; sein Denken zeichnet sich vor allem durch Originalität, Unkonventionalität und Spontaneität aus (vgl. Stork, 1976, S. 152). Abgesehen von der Erfindung des sogenannten Schnörkelspiels, bei dem abwechselnd Kind und Analytiker einen Schnörkel beginnen und ausmalen, was die Fähigkeit zur Assoziation anregen soll, liegt Winnicotts (1973; 1984) Beitrag zur Technik der Kinderanalyse vor allem in seinem Konzept des »Haltens« (
Khan (1977), einer seiner Schüler, meinte, dass Winnicott zu einer wesentlichen Erweiterung und Vertiefung des klassischen Begriffsrahmens der Psychoanalyse beigetragen und so viele neue Begriffe geschaffen habe, dennoch keine Schule begründete, weil vieles, was er über seine spezifische Behandlungstechnik berichtet, auf ihn selbst zugeschnitten und nicht übertragbar war. Die psychotherapeutische Behandlung eines gerade zweijährigen Mädchens, deren 14 Sitzungen sich über drei Jahre erstreckten, beschreibt und kommentiert Winnicott in seiner Falldarstellung »Piggle« (1980), in welcher Ähnlichkeiten mit der Klein‘schen Psychoanalyse, aber auch Unterschiede zu ihr deutlich werden.
Ein bedeutender Vertreter der Kinderanalyse im deutschen Raum war der 1911 in Zürich geborene Jacques Berna. Obwohl er später die ich-psychologische Behandlungstechnik von Anna Freud ausübte und lehrte, konnte er sich den Inhalt ihrer frühen Schriften zur Kinderanalyse nie aneignen (Hermann 1992). Auch Melanie Kleins Position konnte Berna nicht akzeptieren, weil ihm ihre frühe und tiefgehende Deutungsarbeit fremd blieb. Seine therapeutische Arbeit hat er in vielen Aufsätzen in der Psyche dargelegt, insbesondere jedoch in seinem 1973 erschienenen Buch »Kinder beim Analytiker«. Seine wichtigsten Arbeiten wurden noch einmal 1996 mit dem Titel »Liebe zu Kindern – Aus der Praxis eines Analytikers« neu aufgelegt, u. a. »Der Fall eines zwangsneurotischen Jugendlichen«.
Hans Zulliger, 1893 geboren, ehemals Volksschullehrer, wies in seiner Arbeit »Heilende Kräfte im kindlichen Spiel« (1975), die 1951 erschien, auf einen wichtigen Aspekt bei der Frage der Deutung im Kinderspiel hin. Das Spiel ist bei Zulliger die Sprache des Kindes, es ersetzt sie jedoch nicht einfach. Um Kinder verstehen