Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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So wurde also einem Jungen von viereinhalb Jahren gesagt, er werde hierher gebracht, damit er und seine Mutter nicht mehr so viel Streit miteinander hätten (Sandler, Kennedy und Tyson 1982, S. 188). Dieser antwortete, er streite gern mit seiner Mami! Hier begegnen wir einem Problem. Der Leidensdruck, der in der Regel auf Eltern lastet, muss keineswegs auch bei einem Kind vorhanden sein. Und Behandlungsziele, welche Eltern anstreben, müssen keineswegs die sein, welche ein Kind erreichen will. Eine andere gängige Variante ist es, einem Kind zu sagen: »Wir werden uns jetzt ein- oder zweimal die Woche sehen und du kannst hier spielen und tun, was du willst.« Ich empfehle Ihnen nicht, so etwas beispielsweise einem Kind mit so genannter ADHS und entsprechenden Symbolisierungsstörungen zu sagen. Es wird vielleicht Ihre gut gemeinte Aufforderung unsymbolisiert-konkretistisch umsetzen und Ihr Praxiszimmer in eine Müllhalde verwandeln. Diese Aufforderung missachtet, dass es – wie bereits diskutiert – einen Rahmen, Regeln, Absprachen, eine Realität gibt. Das Kind soll begreifen, wie seine Mitarbeit in dem künftigen analytischen Prozess aussieht, und das können erfahrungsgemäß auch schon kleine Kinder erfassen. Es existiert eine Fülle von Literatur über die erste Stunde, eine Arbeit stammt von Berna-Glantz (1972). Darin sagt sie zu ihrer elfjährigen Patientin folgendes: »Die Eltern möchten, dass ich Euch helfe. Ich tue das gern. Die Hilfe sieht so aus, dass ich Dir – und den Eltern – helfe, das, was schwierig ist, besser zu verstehen. Dazu ist es am besten, wenn Du mir möglichst viel erzählst, was Dir gerade in den Sinn kommt. Für uns ist alles interessant« (ebd., S. 58). Es fällt auf, dass Berna-Glantz sich mit ihrer Formulierung stark an der Grundregel für Erwachsene orientiert, Träume und Spielen bleiben unerwähnt. Wir sind der Überzeugung, dass immer wieder aufs Neue erspürt werden muss, was oder wie etwas einem bestimmten Kind erklärt werden soll. Wir folgen hier Anna Freud, die festgestellt hat, dass es keine Formel dafür gibt, wie man ein Kind in die Behandlung einführen soll: »Tatsächlich könnte ein standardisiertes Schema für die Durchführung von Anfangssitzungen ohne Rücksicht auf die Natur der Störung des Kindes oder den Grad seines Bewusstseins davon nur die optimale Entwicklung der analytischen Arbeit beeinträchtigen« (Sandler, Kennedy und Tyson 1972, S. 188). Indem wir von Anfang an mit dem Kind analytisch arbeiten, die Szenen verstehen und deutend mit ihnen umgehen, können wir auch sukzessive das Arbeitsbündnis vermitteln und herstellen.

      5.4 Ärztliche Untersuchung, eventuelle Medikation, psychoanalytische Verfahren

      So gut wie alle analytischen Psychotherapien von Kindern und Jugendlichen finden innerhalb des Psychotherapie-Richtlinien-Verfahrens statt, das sich innerhalb von vierzig Jahren bestens bewährt hat. Auch Thomä und Kächele (2006, S. 217) gehen davon aus, dass es insgesamt gute Lösungen mit großem Spielraum für den einzelnen Fall ermöglicht. Das Gutachterverfahren erfordert einen ärztlichen Konsiliar-Bericht, also eine organmedizinische Untersuchung des künftigen Psychotherapie-Patienten. Da fast alle Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche keine Ärzte sind, ist diese Untersuchung verpflichtend und wird von den Behandlern in der Regel hilfreich und entlastend erlebt. In vielen Fällen wird zur kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchung überwiesen. Der konsiliarisch untersuchende und zuweisende Arzt kann sich in Einzelfällen bei Indikation für eine medizinische Mitbehandlung entscheiden. Ideal ist ein dynamischer Umgang mit dem Medikament, mit dem Ziel, es in Nutzung des Behandlungsbündnisses mit dem Patienten und seinen Eltern und in enger Zusammenarbeit mit dem Arzt bei fortschreitender Symptomverbesserung auszuschleichen. Pharmaka haben immer eine Übertragungs- und Gegenübertragungsbedeutung (vgl. Pozzi 2002). Die Wirkung eines Medikaments wird meist aus der jeweiligen individuellen Übertragungs- und Gegenübertragungssituation interpretiert: Das Medikament kann als Geschenk angesehen werden, aber auch als Eingriff in die Autonomie oder gar als Bedrohung des Körperselbst erlebt werden. Meist wird das Medikament durch einen Dritten verordnet, der auf diese Weise in der Dynamik der Behandlungsbeziehung eine Bedeutung bekommt. So können vielfältige psychodynamische Implikationen die Wirksamkeit eines Medikaments, unabhängig von den pharmakokinetischen Beschreibungen, ganz entscheidend bestimmen (vgl. Heinemann und Hopf 2006; Borowski 2007).

      Die Anwendungsformen der psychoanalytischen Verfahren werden in den Psychotherapie-Richtlinien beschrieben. Die dort definierten Anwendungsformen beschreiben inhaltlich Verfahrensmodifikationen psychoanalytischer Arbeit, die auf einem Kontinuum zu verstehen sind. Auf der einen Seite dieses Kontinuums steht die Psychoanalyse, auf der anderen Seite die tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie und im Zwischenfeld die psychoanalytische Psychotherapie (vgl. Borowski 2007).

      Hoch frequente Kinderanalyse (4–5 Wochenstunden) ist kein Richtlinienverfahren und kann darum nicht – auch nicht zum Teil (!) – über eine Krankenkasse finanziert werden. Eine hoch frequente Analyse kann in der Regel tiefgreifende und nachhaltige strukturelle Veränderungen erreichen, während bei der üblichen zweistündigen Frequenz die Behandlung stärker auf die Symptomauflösung und Förderung der Entwicklung konzentriert ist (vgl. Müller-Brühn 1998, 2002). Die kinderanalytischen Ausbildungsanforderungen sollten auch in kommenden – vermutlich schwierigen – Zeiten Ideal und Anspruch bleiben: Zumindest eine vier- oder wenigstens dreistündige Behandlung sollte jeder Kinderanalytiker einmal unter Supervision durchführen. Ein zweistündiges Setting ist allerdings nicht nur notwendiges »Übel«, sondern ein durchaus annehmbarer Kompromiss, wie Ahlheim (1998, S. 131) schreibt: Die therapeutische Beziehung ist dicht genug, um Übertragungsfantasien und Widerstände systematisch zu bearbeiten. Andererseits kann das Kind seinen Alltag noch gut bewältigen und besitzt noch ausreichenden Raum für Spiel und Freizeit.

      Die Häufigkeiten der in Deutschland durchgeführten Analysen mit einer – zeitweiligen – Frequenz von drei Sitzungen liegen seit Jahren bei 1 % und darunter. Offensichtlich wird über hoch frequente Behandlungen häufiger gesprochen, als dass sie durchgeführt würden. Insofern stellt das zweistündige Richtlinien-Setting den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Interessen von Kinderpatient, Behandler und Krankenkasse dar (vgl. Ahlheim 1998). Wie die analytische ist auch die tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie ein von der Psychoanalyse abgeleitetes Verfahren. Interessanterweise geht der Kommentar der Psychotherapie-Richtlinien (Faber und Haarstrick 2005) davon aus, dass eine exakte Unterscheidung der beiden Behandlungsarten in der Kinderpsychotherapie nicht begründet werden kann (ebd., S. 41), so dass auch die gleichen Kontingente gewährt werden. Der Stand der Theorie-Diskussion ist allerdings ein anderer. Wie in der Erwachsenenpsychotherapie können sehr wohl auch für die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Methoden herausgearbeitet werden. Gemeinsam ist den beiden Verfahren

      • das Lehrgebäude der Psychoanalyse,

      • die Annahme eines Unbewussten und einer Neurosenlehre,

      • über Einsicht und positive Beziehungserfahrungen werden Besserung und Heilung erzielt,

      • im Zentrum der Behandlung stehen Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung,

      • Neutralität und Abstinenz müssen gewahrt werden (vgl. Wöller und Kruse 2001).

      An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass für beide Verfahren auch die gleiche umfassende psychoanalytische Ausbildung Voraussetzung sein muss. Tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie ist keine ausgedünnte Anwendung von Psychoanalyse; sie ist ein aus der Psychoanalyse abgeleitetes Verfahren mit modifizierter Behandlungstechnik. Indikationsstellung und Anwendungen der speziellen Technik verlangen sogar besondere Kenntnisse von Behandlerin oder Behandler. Wie sehen die Unterschiede aus?

      • In der Regel ist eine tiefenpsychologisch fundierte Behandlung nieder frequent und zeitlich begrenzt, die Behandlungsziele konzentrieren sich auf die Auflösung der Symptomatik und auf Verhaltensänderungen.

      • Dies wirkt sich natürlich auf die Tiefe der Regression aus, welche gesehen, auch geduldet, aber nicht forciert werden sollte.

      • Konflikte werden fokussiert, das heißt, es werden psychische Störungen mit deutlich abgrenzbaren Konfliktbereichen aufdeckend bearbeitet.

      Dies bedarf erfahrungsgemäß – wie bereits erwähnt – besonderer Erfahrungen und Kenntnisse. Zentraler Unterschied ist die Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung. Die Entstehung einer Übertragungsneurose sollte vermieden werden;


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