Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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dass der Therapeut aktiver und direkter mit dem Material der Stunden umgeht. Ob andere Interventionsformen einbezogen werden können, hängt vom Geschick und Können der Behandlerin, des Behandlers ab, wahrzunehmen, was solche Techniken bei dem Patienten und seiner Übertragungsbeziehung bewirken. Zusammengefasst heißt das, die Psychoanalyse und die analytische Psychotherapie beziehen sich auf die Herstellung und Gestaltung eines analytischen Prozesses, beide Verfahren rücken die Bearbeitung der Übertragungsneurose in den Vordergrund und verbinden damit die Möglichkeit der Veränderung der neurotischen Struktur. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie beachtet wohl Übertragung und Gegenübertragung, fühlt sich jedoch, bezogen auf die psychoanalytische Haltung, an die Herstellung einer analytischen Atmosphäre und analytischen Erfahrung gebunden (s. u.), verzichtet aber auf die Entfaltung der Bearbeitung der Übertragungsneurose, unter Einschränkung regressiver Prozesse. Das Behandlungsziel ist nicht eine Veränderung der neurotischen Struktur, sondern die Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Selbstregulierung und Beziehungsgestaltung. Damit fokussiert sich die Wahrnehmung des Therapeuten auf die Ebene psychosozialer Konfliktkonstellationen (Borowski 2007).

      Eine Sonderstellung nimmt die Kurzzeittherapie, eine analytische Fokaltherapieein. Nach Windaus (2007b, S. 546) ist sie bei passageren Entwicklungsproblemen, neurotischen Konflikten und reaktiven Störungen auf der Basis einer sonst hinreichend guten Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen indiziert. Sie wird auch bei Kriseninterventionen eingesetzt und kann bei schweren Störungsbildern der Einleitung einer Langzeittherapie im Sinne einer Probebehandlung dienen. Voraussetzung für eine Indikationsstellung zur Fokaltherapie sind mögliche Fokalisierung auf einen zeitnahen und abgrenzbaren Problembereich und die verbale Ausformulierung eines Fokus. Ein Fokus ist ein bewusstseinsfähiger aktualisierter Kernkonflikt, der in einer Formulierung festgehalten werden kann (Windaus 2007b, S. 541).

      5.5 Übertragung – Gegenübertragung – Deutung – Arbeit mit den Eltern – Beendigung

      Bekanntlich haben Anna Freud und Melanie Klein hinsichtlich der Übertragung von Kindern unterschiedliche Haltungen eingenommen. Beide gingen davon aus, dass bei Kindern eine spontane Übertragungsbereitschaft besteht und positive und negative Übertragungen möglich sind. Nach Melanie Kleins Beobachtungen bildet sich allerdings beim Kind eine Übertragungsneurose, die der des Erwachsenen völlig analog ist. Anna Freud ging dagegen davon aus, dass Kinder eine ständige, durch Abhängigkeit gekennzeichnete Beziehung zu ihren Eltern in der Gegenwart haben, was die Ausbildung einer Übertragungsneurose wie beim Erwachsenen erschwert (Sandler, Kennedy und Tyson 1982, S. 103). Dadurch erfährt der Analytiker eine geringere Bedeutung als die Eltern. Sie unterscheidet darum zwischen einer Übertragung von üblichen Beziehungsweisen, Übertragung gegenwärtiger Beziehungen und schließlich einer Übertragung früherer Erlebnisse, was der eigentlichen Definition von Übertragung entspricht. Damit bestätigt Anna Freud, dass es während einer Kinderpsychoanalyse durchaus auch Phasen gibt, in welcher sich wiedererweckte Wünsche, Erinnerungen, Fantasien auf den Behandler richten können (Sandler, Kennedy und Tyson 1982, S. 112).

      Die Gegenübertragung war einst stringent als eine unbewusste Reaktion auf unbewusste Übertragungen des Patienten gesehen worden und war darum eine lästige Störquelle im psychoanalytischen Prozess (siehe auch Abschnitt vorher). Die pathologischen Anteile des künftigen Analytikers, seine blinden Flecken, mussten also in einer Lehranalyse behoben werden. Heimann hat die Gegenübertragung in das wichtigste Arbeitsmittel des Psychoanalytikers verwandelt, indem sie unter ihr alle Gefühle verstand, die der Analytiker seinem Patienten gegenüber erlebt. Die Annahme, dass die Gegenübertragung das A und O einer analytischen Beziehung und die Schöpfung des Patienten ist, brachte entscheidende Veränderung auch in der analytischen Kinderpsychotherapie mit sich. Eine ausführliche kritische Würdigung und Wege, aber auch ihrer »Entmystifizierung« finden sich bei Thomä und Kächele (2006). Auf unbewusst bleibende spezifische Gegenübertragungsreaktionen bei Kindern, die den analytischen Prozess stören können, weist Windaus hin (2007a, S. 236), wie etwa Rivalität um das Kind mit den Eltern, einseitige Loyalitätsverteilungen zwischen Kind und Eltern, therapeutische Größenfantasien etc. Es muss also auch weiterhin sorgfältig differenziert werden, ob es sich bei der Gegenübertragung um neurotische Anteile des Analytikers handelt oder um nicht neurotische Anteile als Resonanz auf die Übertragungen des Patienten. An dieser Stelle wird die große Bedeutung von Supervision erkennbar.

      Ich gehe mit Stork (2001) davon aus, dass Deutung und Deutungsarbeit das wesentliche Spezifikum und Charakteristikum der Psychoanalyse darstellen. Laplanche und Pontalis (1972/73, S. 117) definieren Deutung als eine »Aufdeckung der latenten Bedeutung der Worte und Verhaltensweisen eines Subjekts durch die analytische Untersuchung«. Deutung ist also eine Bewusstmachung von unbewussten psychischen Inhalten mittels Verbalisierung und in der Fortführung das Bestreben, einem unbewussten Geschehen, das bewusst geworden ist, »Bedeutung, Verständnis und Sinn zu geben« (Stork 2001, S. 352). Hinsichtlich der Deutungsziele gibt es geringe Unterschiede zwischen Erwachsenen- und Kinderanalyse, es ist allerdings darauf zu achten, dass die Formulierung einer Deutung kognitiv und emotional auf den Entwicklungsstand eines Kindes Rücksicht nimmt (Windaus 2007a, S. 241). Deutung dient bei Kindern nicht nur der Bewusstmachung von Unbewusstem, sondern auch der Entwicklungsförderung.

      Die Deutungsarbeit ist entscheidend von der schulischen Zugehörigkeit geprägt. Gemeinsam ist allen Psychoanalytikern, dass Deutungen in das Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen im Hier und Jetzt eingebettet sein sollten. Berns (2000) unterscheidet die psychoanalytischen Schulen »deutungstechnisch« an Hand zweier Merkmale: Das eine Merkmal ist die jeweilige Konzeption des Primärprozesses als Bildner der Derivate des Unbewussten, so wie es heutige freudianische Psychoanalytiker verstehen. Anhänger der kleinianischen Schule begreifen unbewusste Fantasien als primäre Triebabkömmlinge und nutzen deutungstechnisch sämtliche Mitteilungen des Patienten konsequent als Derivate des Unbewussten, aus einer innerseelischen Objektbeziehungsperspektive heraus, die genetisch konzipiert ist (ebd., S. 133 f.). Darauf werde ich kurz im Zusammenhang mit der Diskussion des Containments zurückkehren.

      Jede Deutung kann auch eine narzisstische Kränkung sein, selbst wenn sie dem Patienten langfristig psychische Erleichterung verschafft. Die Bewusstmachung unbewusster Inhalte ist immer ein schmerzhaftes Ereignis. Kinder machen das oft sehr deutlich, wenn sie sich die Ohren zu halten oder den Analytiker zum Schweigen bringen wollen, weil ihnen seine Worte weh tun. Darum sollten Deutungen immer in »nicht-deutende« Aktivitäten eingebettet sein; dies sind gemäß Stork »Ermutigungen, Beruhigungen, Rückversicherungen, allgemeine Erklärungen, Aufforderungen, Konfrontationen, Suggestionen, Ratschläge, die Vermittlung von Sicherheit, das Setzen von Grenzen und vieles mehr« (2001, S. 354), was natürlich andererseits eine konsequente aufdeckende Arbeit nicht verhindern darf. Der deutenden Funktion steht somit eine haltende (holding function) gegenüber. Winnicott (1984, S. 317) versteht unter dem Halten eines Patienten, dass der Analytiker dem Patienten im richtigen Moment etwas mitteilt, das zeigt, dass der Analytiker die tiefe Angst, die erlebt wird oder deren Erleben erwartet wird, kennt und erlebt. Will (2006) formulierte dies so, dass eine abstinente Zurückhaltung gleichzeitig eine »warmherzige, offene und entwicklungsfördernde Atmosphäre« braucht (ebd., S. 37). Dolto hat zudem gemeint, dass Deutungen am besten als Frage formuliert werden sollten, dann bleibt die Deutungskompetenz beim Patienten (Dolto 1989a, S. 74).

      Es ist hier nicht der Raum auf die Problematik von Deutungen einzugehen, ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Berns, Stork, Windaus und andere. Deutungsversuche sind immer von vielerlei Gefahren begleitet. Kurts (2001) hat in einer Arbeit auf eine zentrale Gefährdung hingewiesen: Die unbewussten Repräsentanzen und Wünsche, die in den Spielen und Zeichnungen von Kindern erkannt werden, können sehr faszinieren. Dies kann leicht dazu verleiten, Deutungen über unbewusste Fantasien zu geben, als ob es sich bei ihnen um denkfähige Fantasien handelte. Dabei werden die Abwehrbedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt – in einer solchen Situation kann der Analytiker für das Kind invasiv und verfolgend werden.

      Kinder sind von ihren Eltern noch in vielen Bereichen – auch – real abhängig. Wird eine Kinderpsychotherapie geplant, so ist die künftige Zusammenarbeit mit den Eltern ausschlaggebend. Ein Kind kann weder die Notwendigkeit einer Behandlung erkennen, noch kann es die erforderlichen äußeren Bedingungen erfüllen. Das Behandlungsbündnis


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