Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann
ist noch magisch, was bedeutet, dass das Spiel kein Spiel, sondern Wirklichkeit sei. Zulliger fiel auf, dass Symptome oft verschwanden, noch ehe er sie gedeutet hatte. Zulliger verstand dies als Zeichen, dass bereits im Spiel dem Kind durch das Reagieren des Therapeuten, der mitspielte, Deutungen gegeben werden, die das Kind verarbeitet. Nicht das Spiel wird gedeutet, sondern im Spiel wird in der magischen Denkweise des Kindes eine Deutung gegeben. Die Kinderanalyse ist nach Zulliger immer in der Gefahr der Intellektualisierung, was nur den Widerstand fördert. Er forderte keine reine Spieltechnik, sondern ein flexibles Umgehen mit der Deutung, die unter Umständen auch eine Deutung im Spiel selbst sein kann, indem zum Beispiel der Kasperl dieses oder jenes sagt.
Zulliger ging davon aus, dass bei Jugendlichen weder die Kinder- noch die Erwachsenenanalyse angewandt werden könnte. So entwickelte er seine »Spaziergang-Behandlung« (1966), die er als »klassische Technik« bei Jugendlichen bezeichnete. Er gestand allerdings auch ein, dass es möglich wäre, dass ihm diese Art, Jugendliche auf Spaziergängen psychoanalytisch zu behandeln, besonders liegen würde, ein anderer jedoch weniger Erfolg bzw. »Glück« damit hätte.
Françoise Dolto, geboren 1908, die in Paris von 1938 bis zu ihrem Tod 1988 mit chronisch kranken, psychotischen und früh gestörten Kindern arbeitete (1989a,b), steht in der Tradition Lacans. Behandlungstechnisch geht es bei ihr um die Verbalisierung des Verworfenen, um die Annahme des Vaters, der als drittes Objekt die Dyade mit der Mutter öffnet, um die Annahme der Gesetze der Realität und der verschiedenen Stufen der Kastration, die Akzeptanz des Mangels und Entwicklung des Begehrens, was wir im Rahmen der Psychosetheorie (
Der Buchtitel »Alles ist Sprache« (1989b) war gleichzeitig ein Grundsatz, der sich durch die gesamte psychoanalytische Arbeit mit Kindern zog. Dolto ging davon aus, dass die Psychoanalyse den Beweis erbracht habe, dass das Kind, wie klein es auch sei, das Verständnis des Sinns für Wörter habe, welche sein »Auf der Welt-sein« beträfen. Das Sprechen könne jeden Menschen befreien, wenn es ihm gelänge, dadurch jemanden, der ihm mit Aufmerksamkeit und ohne Werturteil zuhöre, sein Leiden auszudrücken (ebd., S. 168).
Der Einfluss der französischen Schule ist heute vor allem bei der Gruppe um Jochen Stork zu sehen, welche neben Klein und Bion vor allem französische Kinderanalytiker (Dolto, Diatkine, u. a.) mit einbezieht und deren Arbeiten in der von Stork herausgegebenen Zeitschrift »Kinderanalyse«, einem bedeutsamen Forum für die Anwendung der Psychoanalyse des Kindes- und Jugendalters, erscheinen. An dieser Stelle ist auch die Arbeitsgruppe um Hilde Kipp zu erwähnen, die maßgeblich an der Weiterentwicklung der französischen Theorien in der Kinderanalyse in Deutschland arbeitet und dies in der Zeitschrift »Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse« dokumentiert.
Neidhardt (1988) hat dargestellt, dass der Wechsel vom Begriff des Psychagogen zu dem des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Mitte der 1970er Jahre nicht lediglich der Austausch eines Etiketts war, sondern dass die veränderte Berufsbezeichnung einem Fortschreiten der psychoanalytischen Technik Rechnung trug. An den von ihm beschriebenen Entwicklungsschritten wurde aber auch deutlich, dass die internationale Psychoanalyse und ihre Weiterentwicklungen erst in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland wieder an Einfluss gewannen. Neidhardt beschrieb in seiner Arbeit drei Meilensteine dieser Entwicklung: Ganz am Anfang, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, stand die Psychagogik, eine Synthese aus Pädagogik und Psychotherapie; die Ich-Psychologie gab den Anstoß zur Entwicklung der analytischen Kinderpsychotherapie, die sich schließlich zur heutigen Kinderanalyse auf der Grundlage von Übertragungsbeziehungen wandelte (Neidhardt 1988, S. 81 f.).
Konsequente – ausschließlich – selbstpsychologische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wird eher selten durchgeführt, jedoch haben die Arbeiten von Kohut und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch in Deutschland die Ausübung der Kinderanalyse generell beeinflusst, insbesondere im Bereich der Diagnostik. Hilke (2000) hat in einem Beitrag die Perspektive der psychoanalytischen Selbstpsychologie für die Kinderpsychotherapie am Beispiel der Behandlung eines achteinhalbjährigen Jungen dargestellt. Die psychoanalytische Selbstpsychologie sieht als das oberste Ziel jeder Behandlung die Stärkung des Selbst und einen Zuwachs an Struktur. Darum stehen auch im Zentrum einer selbstpsychologischen Behandlung immer der Selbstzustand des Patienten und seine Selbstobjektbedürfnisse. Das Selbstobjekt ist der subjektive Aspekt einer Funktion, die durch eine Beziehung erfüllt wird. Jene Funktionen der Beziehung zu den Pflegepersonen, die im Säugling die Erfahrung seines Selbstseins wecken und aufrechterhalten, werden als Selbstobjektfunktionen definiert. Wesentlich in einer selbstpsychologisch orientierten Behandlung sind darum die Selbstobjektübertragungen, bei denen sich Selbstobjektbedürfnisse auf den Analytiker richten bzw. abgewehrt werden (z. B. Bedürfnis nach Spiegelung und Bedürfnis nach Idealisierung). Von großer Bedeutung ist dabei die Empathie, indem sich der Analytiker in den Patienten hineinversetzt und die Welt aus dessen innerer Perspektive wahrnimmt und interpretiert (ebd., S. 28). Weitere Darstellungen von Kinderbehandlungen aus Sicht der Selbstpsychologie finden sich u. a. bei Seiler (1998).
Der Umgang mit der Übertragung hat sich – auch in der Nicht-Kleinianischen Psychoanalyse – sehr verändert. Mit den Arbeiten von Gill (zit. n. Thomä und Kächele 1985) hat die Deutung der Beziehung im Hier und Jetzt (die lange Zeit vernachlässigt worden war) immer mehr an Einfluss gewonnen, auch in der Kinderanalyse. Die aktuelle Handhabung der Übertragung in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern hat Raue (2000) herausgearbeitet und betont, dass vor allem die Arbeit an den negativen Übertragungen und an den Widerständen von größter Bedeutung ist. Raue hebt auch hervor, dass im Aushalten der negativen Übertragung und späteren Verbalisierung ein wichtiger Beitrag zur Heilung geleistet wird, der viel zu wenig diskutiert wird. Den Stand des Übertragungsbegriffes der Anna-Freud-Schule referieren Fonagy und Sandler (1997). Sie betonen, dass es wichtig sei, dass der Analytiker in der Formulierung der Deutung auch zu verstehen gibt, dass das Kind um Impulskontrolle ringt. Solche Deutungen würden den inneren Konflikt des Kindes zwischen einem Wunsch und dem Versuch, ihn zu bändigen, betonen. Die Autoren unterstreichen, dass auch aktuelle Außenbeziehungen kommentiert werden könnten, zumeist sollten die Beziehungsmuster nach Meinung der Autoren jedoch im Rahmen der therapeutischen Beziehung (also im Hier und Jetzt) gedeutet werden.
Schäberle (1995) hat die Funktion der Sprache in der Kinderanalyse in vielfältiger Weise diskutiert und an eigenem Fallmaterial dokumentiert. Seiner Meinung nach bedeutet zur »Sprache-Bringen« immer auch einen Bruch der Illusion, ganz eingefühlt und befriedigt zu werden (siehe Mutismus). Hieraus erwächst, wie bei Dolto, die Möglichkeit, Wünsche im Spannungsverhältnis von Begehren und Leiden auszudrücken. Sprache hebt aber auch Omnipotenzfantasien auf und sie wirkt triangulierend, denn sie unterbricht den Mechanismus der projektiven Identifizierung.
Eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Konzeptionen von Elternarbeit bei Anna Freud und Melanie Klein findet sich in einem Aufsatz von Windaus (1999). Der Autor erörtert zudem kritisch neuere Ansätze zur Elternarbeit und stellt seine Anwendung von szenischem Verstehen im »Hier und Jetzt« vor. Ahlheim und Eickmann (1999) beschreiben spezielle Wirkfaktoren in der Arbeit mit den Eltern, wobei sie als wesentliche Ziele die Stärkung der elterlichen Position und die Wiederherstellung der elterlichen Allianz sehen. Eine umfassende Arbeit mit den wesentlichen Behandlungszielen und einer Diskussion der aktuellen