Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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vom Strukturniveau des Patienten gut, wenn der Analytiker eine wachstumsfördernde Haltung einnimmt. Deutet er zu aktiv, macht er den Patienten abhängig und schränkt vor allem seine autonome Entdeckerfreude sowie die eigene Deutungskompetenz ein. Wenn möglich, sollte deshalb ein Patient dazu ermuntert werden, zu seinen eigenen Deutungen zu kommen, wozu vorbereitende Schritte, z. B. in Form von Fragen, feststellenden Hinweisen und Klärungen von Seiten des Analytikers gehören.

      Ich kann gezielt durch die Auswahl des Unterrichtsstoffes solche Deutungskompetenz fördern, meist ereignen sich aber spontan im Unterricht Situationen, in denen das Kind, für den Lehrer unvorhergesehen, einen Unterrichtsstoff für die Verarbeitung seiner Probleme verwendet. Ein 12-jähriger Schüler der Sonderschule für Verhaltensgestörte, der wegen extremer Aggression gegenüber der Grundschullehrerin in die Sonderschule überwiesen wurde, war in meinem Unterricht lange Zeit extrem gehemmt. Als wir im Geschichtsunterricht über die Französische Revolution sprachen und er das Bild der Guillotine im Buch sah, war er hochgradig erregt, malte in den nächsten Wochen täglich eine Flut von Bildern, auf denen ich unter der Guillotine lag und der Kopf gerade in den Korb fiel. Mit rotem Stift malte er Aufschriften auf das Bild wie: Der Tod der Frau Heinemann. Seine Kastrationsängste konnten jetzt in der Übertragung bearbeitet werden. Ein anderes Beispiel ist die Geschichte von Sebastian (Heinemann 2003), der über das Sehen des Filmes »101 Dalmatiner« von Walt Disney mit der ganzen Klasse sein Trennungstrauma spielerisch und handelnd im Unterricht bewältigte.

      Diese Beispiele mögen einen Eindruck vermitteln, wie wichtig es im pädagogischen Alltag ist, die Konflikte der Kinder zu verstehen und über die wachstumsfördernde Einstellung eine pädagogische Haltung zu erlangen, die unbewusste Prozesse reflektiert und nicht abwehrt. Von einer solchen Praxis profitieren nicht nur die Kinder, sondern auch die Pädagogen selbst, denn der Alltag wird durch die psychoanalytische Reflexion des Geschehens auch zu einer Erforschung des Unbewussten, des eigenen wie des fremden. Wir hoffen, mit diesem Buch einen kleinen Beitrag für eine solche Praxis leisten zu können. »Die bewusste Anwendung massenpsychologischer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der Psychoanalyse können … dem Lehrer im Amt brauchbare Hilfen bei der Disziplinierung, Leitung und Förderung einer Schulklasse geben und so aus Krise und Kampf zu friedlicher, allseitig aufbauender Arbeit verhelfen« (Jordan 1929, S. 124). Neuere Beispiele einer gelungenen psychoanalytischen Pädagogik finden sich bei Heinemann und Hopf (2010).

      5.1 Rückblick

      Abgesehen von Freuds Schrift »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (1909, image Kap. 4 und image Kap. 10), die wir als ersten im engeren Sinne psychoanalytisch-pädagogischen Erziehungsversuch beschrieben haben, blieb Freud auf jeden Fall skeptisch, was eine Analyse von Kindern anging, da er keine therapeutischen Mittel sah, welche die Sprache ersetzen könnten. Der Versuch einer Bewältigung dieses zentralen Problems – der Kampf um die Technik – zog sich durch alle kinderanalytischen Versuche der Anfangszeit. Ferenczi schien ganz nahe an der Bewältigung dieses Problems zu sein. 1913 stellte er in seiner Fallgeschichte »Ein kleiner Hahnemann«, parallel zum »kleinen Hans«, wie zu vermuten ist, den vierjährigen Arpád vor, dessen eigenartiges Symptom des ständigen Krähens er als Folge von Kastrationsdrohungen wegen seiner Onanie und der Wut auf den Hahn bzw. den Vater interpretierte. Interessant ist, dass Ferenczi dem Jungen Bleistift und Papier gab, damit er seine Ängste in Gestalt des bedrohlichen Hahns aufzeichnen könnte. Ein psychoanalytisches Gespräch »langweilte« den kleinen Patienten jedoch rasch, und er wollte »zu seinen Spielsachen zurück« (1913, S. 166). Jene deutlichen Hinweise auf eine dem Kind gemäße Sprache und seinen Wunsch nach Kommunikation konnte Ferenczi damals weder erkennen noch aufgreifen: Er ging im Anschluss daran davon aus, dass eine direkte psychoanalytische Untersuchung des Arpád nicht möglich gewesen sei.

      Als erste Kinderanalytikerin gilt die 1871 geborene Hermine Hug-Hellmuth. Nach dem Studium der Naturwissenschaften und einem Lehrerstudium ließ sie sich bereits 1910 vorzeitig pensionieren, um sich ausschließlich ihren psychoanalytischen Interessen zu widmen. 1913 wurde Hug-Hellmuth Mitglied der Wiener psychoanalytischen Vereinigung und für Sigmund Freud eine begehrte Bezugsperson, die ihm unermüdlich Fallmaterial zur Bestätigung seiner Sexualtheorien lieferte (Stephan 1992, S. 115). Bereits 1920 publizierte sie einen Aufsatz über »Die Technik der Kinderanalyse«, der noch stark unter pädagogischem Einfluss stand. Die Psychoanalyse des Kindes ist bei ihr »heilerziehliche Analyse«. Die jungen Patienten sollen unter der erzieherischen Führung des Analytikers zu zielbewussten, willenskräftigen Menschen erstarken. Hug-Hellmuth ging von Anfang an davon aus, dass das identische Ziel von Erwachsenen wie Kinderanalyse die Herstellung der psychischen Gesundheit sei. Unterschiede resultierten ihrer Meinung nach allerdings aus der noch nicht vorhandenen Reife der Kinder, die weder aus eigenem Antrieb zur Behandlung kommen, noch an ihrer Vergangenheit leiden oder sich gar ändern möchten. Als bedeutendste Neuerung führte Hug-Hellmuth ein, neben den Träumen auch auf das Spiel der Kinder einzugehen. Sie war der Auffassung, dass sich in den Spielformen manche Symptome, Eigenheiten und Charakterzüge erkennen ließen; bei jugendlichen Patienten (diesen Sieben-Achtjährigen, E. H., H. H.) würde mitunter das Spiel seine herausragende Rolle während der ganzen Behandlung behaupten (ebd., S. 17). Inwieweit und wann freie Assoziation überhaupt anwendbar sei, ließ sich ihrer Meinung nach nur von Fall zu Fall entscheiden.

      In einer Würdigung ihres Lebens und ihrer Arbeit betonen Geissmann und Geissmann (1994), dass Hug-Hellmuth als erste die dem Traum oder der freien Assoziation gleichgestellte Verwendung des Spiels in die Kinderanalyse eingeführt hat (ebd., S. 50). Stephan (1992) meint allerdings, dass viele Aussagen von Hug-Hellmuth, insbesondere die Analyse ihres Neffen betreffend, aus heutiger Sicht eher als abschreckendes Dokument einer »Schwarzen Pädagogik« zu werten seien. In der Tat hatte Hug-Hellmuth ihren Neffen, nichteheliches Kind ihrer Schwester, als kleines Kind selbst analysiert. Im Alter von 18 Jahren hatte er schließlich seine 53-jährige Tante, welche seit seinem 9. Lebensjahr die gesamte Erziehungsverantwortung für ihn übernommen hatte, überfallen, beraubt und erdrosselt. Dieser tragische Vorfall bedeutete einen erheblichen Rückschlag für die gesamte Psychoanalyse, weil er zunächst alle damaligen Vorurteile bestätigte, welche Schäden es bewirken könnte, die Psychoanalyse in der Kindererziehung anzuwenden.

      Unangefochten gelten Anna Freud und Melanie Klein als die eigentlichen Begründerinnen der Kinderanalyse. Anna Freud wurde 1895 als sechstes Kind von Martha und Sigmund Freud geboren. Nach Gay (1989) wurde sie Sekretärin, Vertraute, Kollegin und Krankenschwester Freuds, und vor allem zu einer glühenden Verfechterin und Verteidigerin seiner Theorien. Nach dem Abitur absolvierte Anna eine pädagogische Ausbildung und arbeitete von 1917 bis 1920 als Lehrerin (Stephan 1992, S. 280). Ihre ersten Überlegungen zur Technik der Kinderanalyse trug Anna Freud in vier Vorträgen 1926 vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung vor. Zusammen mit einem fünften Vortrag, den sie 1927 hielt, sind diese Vorträge in dem Buch »Einführung in die Technik der Kinderanalyse« (1973) publiziert. Die vier Vorträge erschienen bereits 1929 in Buchform, gleichzeitig wurde ein Seminar für Kinderanalyse in Wien gegründet, dem u. a. Berta und Steff Bornstein, Edith Sterba, Jenny Waelder, Dorothy Burlingham, Edith Buxbaum, Erik H. Erikson, das Ehepaar Hoffer, Anna Katan, Marianne Kris und Margaret Mahler angehörten (Hamann 1993, S. 39), allesamt später bedeutende Vertreterinnen und Vertreter der Kinderanalyse.

      Anna Freud entwickelte wesentliche Grundeinsichten der Kinderanalyse und eine spezielle Technik, die sie darauf gründete, dass das Kind im Gegensatz zum Erwachsenen noch ein unreifes und unselbständiges Wesen sei und der Entschluss zur Analyse nicht vom Patienten selbst, sondern von den Eltern oder seiner sonstigen Umgebung kommt: »So fehlt uns in der Situation des Kindes alles, was in der des Erwachsenen unentbehrlich erscheint: die Krankheitseinsicht, der freiwillige Entschluss und der Wille zur Heilung« (1973, S. 16). Ihre Ausführungen zur Einleitung der Analyse und Äußerungen zum Erziehungsverständnis muten


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