Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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befreien musste. Wir sehen es mittlerweile auch als Missbrauch der Kinderanalyse, wenn in der Zeit der Anfänge Analytiker ihre eigenen Kinder analysierten, Sigmund Freud seine Tochter Anna, Melanie Klein zwei ihrer Kinder und Hug-Hellmuth ihren Neffen.

      Da ist bei Anna Freud die Rede von einem Jungen mit »Wut- und Schlimmheitsausbrüchen«, dessen Symptom Anna Freud mit Hilfe eines »hinterhältigen und nicht sehr ehrlichen Mittel« mit dem Wüten eines Geisteskranken gleichsetzte, um ihn einzuschüchtern. Es wurde versprochen, geworben, gelockt, Angst gemacht, alles, um dem Kind die Analyse schmackhaft zu machen, es wurde Anpassung und Unterwerfung eingefordert. Nach Anna Freud muss das Kind erst »analysierbar« gemacht werden. Die Zeit der Vorbereitung, »die Dressur zur Analyse« (ebd., S. 16), dauert umso länger, je weiter das Kind vom idealen erwachsenen Patienten entfernt ist. Manchmal sei es so schwierig, das Interesse für die Analyse zu gewinnen, dass sie »sich wie ein Kinofilm oder ein Unterhaltungsroman benimmt« (ebd., S. 21), der keine andere Absicht hat, als die Zuschauer anzulocken, als sich dem Kinde interessant zu machen. Interessierte sich das Kind für Knoten, bemühte sie sich noch kunstvollere Knoten zu machen als das Kind selbst. Sie strickte und häkelte für die Puppen ihrer Patientinnen und wurde so »brauchbar« für das Kind. »Ich war ihm neben einer interessanten und brauchbaren Gesellschaft zu einer sehr mächtigen Person geworden, ohne deren Unterstützung er nicht mehr recht auskommen konnte« (ebd., S. 22). Erst jetzt sei das Kind in ein vollständiges Übertragungs- und Abhängigkeitsverhältnis geraten. Die Gegenleistung des Kindes ist dann die Preisgabe seiner bisher gehüteten Geheimnisse, mit der erst die wirkliche Analyse einsetzt. »Es muss dem Analytiker gelingen, sich für die Dauer der Analyse an die Stelle des Ichideals beim Kinde zu setzen« (ebd., S. 75). Die Autorität des Analytikers müsse über der der Eltern stehen, der Analytiker müsse den höchsten Platz im Gefühlsleben des Kindes einnehmen, er müsse es völlig beherrschen, damit das Kind die Eltern nicht durch seinen Widerstand veranlasst, die Analyse abzubrechen. Es bestehe die »Notwendigkeit für den Analytiker, das Kind erzieherisch in der Gewalt zu haben« (ebd., S. 80). Der Analytiker muss bei ihr auch die äußere Situation richtig einschätzen, wofür er pädagogische Kenntnisse benötigt, der Analytiker muss erziehen und analysieren.

      Bei den eigentlichen technischen Mitteln wird anstelle der bewussten Erinnerung die Krankengeschichte von den Eltern eingeholt. Einen besonderen Stellenwert nimmt bei Anna Freud die Traumdeutung ein. »Dafür haben wir in der Traumdeutung ein Gebiet, in dem man von der Erwachsenen- zur Kinderanalyse nichts umzulernen hat« (ebd., S. 36). Das Kind stehe dem Traum noch näher als der Erwachsene und so sieht Anna Freud im Traum ein wesentliches Mittel der Kinderanalyse, das selbst »unintelligenten Kindern« (ebd., S. 36) zugänglich sei, da auch sie die Deutungen der Träume verstehen. Neben der Deutung der Träume und Tagträume sah sie die Erzählungen der Fantasien der Kinder oder Kinderzeichnungen als weitere Hilfsmittel. Das große Handicap der Kinderanalyse sei, dass Kinder nur gelegentlich assoziieren. Die Einfallstechnik der Erwachsenen wird bei ihr, hier griff sie auf die Arbeiten von Hug-Hellmuth und Melanie Klein zurück, durch das Spiel ersetzt.

      Anna Freud glaubte, eine positive Übertragung herstellen zu müssen, negative Übertragungen gelte es abzubauen, »die eigentlich fruchtbringende Arbeit wird immer in der positiven Bindung vor sich gehen«, so Anna Freud (ebd., S. 54), daher der ganze Aufwand ihrer Einleitung zur Kinderanalyse. Zudem bildet das Kind bei ihr keine Übertragungsneurose, weil es noch den Eltern ausgesetzt und der Kinderanalytiker alles andere als ein Schatten sei.

      Weil die klassische Technik der Erwachsenenanalyse nicht zur Anwendung kommen konnte, vor allem durch die Weigerung des Kindes, zu Einfällen zu assoziieren, waren Veränderungen in der Technik erforderlich. Zwar könnten sich auch Kinder verbal ausdrücken, sie bekamen jedoch im Laufe der Zeit zusätzlich Möglichkeiten angeboten, zu spielen, zu malen, zu dramatisieren oder zu agieren. Die Kinder wurden auf diese Weise zum Agieren angeleitet, dennoch musste das Agieren wieder eingegrenzt und beherrscht werden, denn die Interpretationen waren nach Meinung von Anna Freud unsicherer und willkürlicher als in der Analyse von Erwachsenen. Darum sollte das Agieren des Kindes von einem ständigen Deuten und Verbalisieren begleitet werden. Die Verbalisierung verleiht dem Ich des Kindes mit der Zeit die Möglichkeit, zwischen Wünschen und Fantasien einerseits und der Realität andererseits zu unterscheiden (Anna Freud 1965, S. 2153; vgl. Katan 1961). Neben dem Verbalisieren erschien die Durcharbeitung von Ich-, Es- und Über-Ich-Widerständen geboten sowie die Arbeit mit der Übertragung (Anna Freud 1965, S. 2157).

      Nach ursprünglicher Meinung von Anna Freud könnten Kinder zwar einzelne Übertragungsreaktionen entwickeln, jedoch keine volle Übertragungsneurose zustande bringen. Diese Tatsache rühre daher, weil das Kind noch in direkten Objektbeziehungen mit seinen Eltern in seinem häuslichen Umfeld lebt und der Analytiker Liebe und Hass mit den Eltern teilen muss. Da sich der Kinderanalytiker zudem viel aktiver in das spielerische Geschehen einlassen müsse, bleibe er natürlich auch nicht – wie der Erwachsenenanalytiker – wirklich abstinent, sondern werde für das Kind eine unverwechselbare Persönlichkeit. Anna Freud gebrauchte in diesem Zusammenhang eine Kinometapher: Ein Bild lasse sich auf eine Leinwand, auf welcher bereits ein Bild sei, nur schlecht projizieren. Diese Überzeugung hat Anna Freud später revidiert (Anna Freud 1965, S. 2157), als die ehemalige einleitende Phase nach Entwicklung der Ich-Psychologie durch eine konsequente Abwehranalyse ersetzt wurde. Hamann (1993) ist der Meinung, dass es im Laufe der Zeit zu vielerlei Veränderungen und zu einer Annäherung im Hinblick auf die Handhabung der Technik an die Vorstellungen von Melanie Klein kam.

      Die von Anna Freud und ihrer Schule entwickelte ichpsychologische Behandlungstechnik wurde in Deutschland – neben ihrem Gesamtwerk »Die Schriften der Anna Freud« (1965) – vor allem in dem von Geleerd (1972) herausgegebenen Band »Kinderanalytiker bei der Arbeit« ausführlich anhand Fallmaterial dargestellt, ebenfalls in dem von der Stuttgarter Akademie edierten Almanach »Psychotherapie bei Kindern« (1971) mit Beiträgen von Ruth Cycon, Rosemarie Berna-Glantz und Jacques Berna. In den von Biermann herausgegebenen fünf Bänden »Handbuch der Kinderpsychotherapie« (1973–1981) erschienen Arbeiten aller damaligen Schulrichtungen, zur ichpsychologischen Schule von Anna Freud, insbesondere ein Beitrag von Jacques Berna über die ichpsychologische Behandlungstechnik. Die Anfänge der Kinderanalyse werden bis ins Detail in dem von Bittner und Heller (1983) herausgegebenen Buch »Eine Kinderanalyse bei Anna Freud« mit allen Notizen und Materialien und mit Erinnerungen von Peter Heller nachgezeichnet. Heller, geprägt von seiner eigenen Psychoanalyse bei Anna Freud und liebevoll verbunden mit ihr, war 50 Jahre nach seiner Analyse dennoch der Meinung, dass Anna Freud und ihrem Kreis die Grundstimmung einer »altjüngferlichen Heiligkeit und Puritanismus« anhaftete (ebd., S. 297 f.).

      Es war dann Melanie Klein, die der Kinderanalyse ihren klaren analytischen Rahmen gab. Sie deutete und bearbeitete negative Übertragungen beispielsweise als Ausdruck von Ambivalenz der Mutter gegenüber, ging davon aus, dass auch kleinste Kinder bereits eine Übertragungsneurose herstellen, da bei ihr Übertragung auf Projektion und Introjektion früher Teilaspekte beruhte, die es zu deuten gilt. Von Beginn an standen alle theoretischen Überlegungen von Melanie Klein konträr zu denen von Anna Freud. Melanie Klein wurde 1882 geboren, legte mit 17 Jahren die Reifeprüfung ab, entschied sich jedoch gegen ein Studium und heiratete bereits mit 21 Jahren. Nach der Geburt des zweiten Kindes verfiel sie in schwere Depressionen. Wegen ihres Mannes nach Budapest umgezogen, lernte sie dort Ferenczi kennen und machte bei ihm eine Analyse (eine zweite später bei Abraham). Während dieser Zeit wurde ihre große Begabung im Verstehen von Kindern deutlich und Melanie Klein begann mit ihrer ersten Analyse des fünfjährigen Kindes Fritz, der – wie wir inzwischen wissen – eigentlich ihr Sohn Erich war (Hamann 1993, S. 17). Die Behandlung führte sie – logischerweise – im Hause des Kindes mit dessen eigenen Spielsachen durch und Melanie Klein sah rückblickend diese Therapie als die Entstehung ihrer psychoanalytischen Spieltechnik an: »Das Kind drückte von Anfang an seine Fantasien und Ängste hauptsächlich im Spiel aus, während ich beständig deutete, mit dem Erfolg, dass neues Material im Spiele auftauchte« (Klein 1962, S. 153). Von Beginn an ersetzte also Melanie Klein eine Analyse von verbalen Äußerungen durch die Analyse des Spiels und deutete konsequent, denn sie war – in Widerspruch zu Anna Freud – unerschütterlich davon überzeugt, dass bereits Kleinkinder vollständige Übertragungen auf den Kinderanalytiker entwickeln und dass ihr Spiel in allen Einzelheiten als der symbolische Ausdruck unbewusster


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