Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann
Mitarbeit der Eltern eine wesentliche Rahmenbedingung, deren Klärung von Beginn an von zentraler Wichtigkeit ist, beispielsweise, wie beide Eltern zur künftigen Therapie stehen und mitarbeiten wollen. Alle erforderlichen Rahmenbedingungen werden mit Eltern und Patienten erarbeitet, der Therapeut darf sie sich jedoch nicht aus den Händen nehmen lassen, denn sie sind sein Werkzeug, und er allein trägt die Verantwortung für den Verlauf und Erfolg einer Therapie. Details wie Frequenz, Dauer, Ferienplanung, Stundenausfall etc. müssen immer vorrangig von psychodynamischen Notwendigkeiten geleitet werden, nicht von realen Wünschen oder Rationalisierungen der Eltern oder des Patienten. Gelegentlich kann eine sorgfältige Klärung sogar dazu führen, dass eine Therapie nicht zustande kommt; diese würde jedoch auch bald scheitern, würden die Eltern die Bedingungen vorgeben. Stehen keine Eltern zur Verfügung, so müssen professionelle Helfer die Einhaltung des Settings gewährleisten.
Die elterliche Konfliktdynamik ist immer maßgeblich mit den neurotischen Konflikten eines Kindes verknüpft. Bereits in den ersten Lebensmonaten kann es zu Entgleisungen des präverbalen Affektaustausches kommen, zum Versagen des Containments. In jeder Entwicklungsphase können nicht bewältigte Konflikte bei den Eltern wiederbelebt werden und ihre eigenen Neurosen wirksam werden lassen. Die Umstellungsfähigkeit und Bereitschaft der Eltern, sich in psychodynamische Prozesse zu begeben und diese zu verstehen, ist ein wesentlicher Aspekt für die Prognose einer geplanten Behandlung. Sie wird auch davon abhängig sein, wie chronifiziert eine pathogene Familiendynamik bereits ist und ob Veränderungen möglich sind. Zentrale Behandlungsziele sind die Auflösung von Projektionen oder Delegationen und damit jener pathologischen intrapsychischen Bereiche der Eltern, die eine gesunde Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen hemmen oder verhindern. Dabei soll der Vater immer als Dritter einbezogen werden, damit ein Kind unerlässliche Dreieckssituationen internalisieren kann. Dem ist bereits innerhalb der Psychotherapie-Richtlinien Rechnung getragen, dass immer beide Eltern eine Therapie beantragen müssen und dies durch ihre Unterschriften dokumentieren.
Es ist immer im Auge zu behalten, dass es nicht um eine grundlegende Aufarbeitung der elterlichen intrapsychischen Konflikte, auch nicht der Paarkonflikte gehen kann, so verführerisch sich das gelegentlich anbieten mag. Ein bedeutsames Teilziel kann es aber sein, Eltern für eine eigene Therapie oder Paartherapie zu motivieren und vorzubereiten. Im Fokus der Gespräche mit den Eltern steht immer ihre Beziehung zum Kind: »Wie fühlt sich ein Kind bei den Beziehungserwartungen dieser Eltern!« Bereits in einem ersten Elterngespräch wird jeder Teilnehmer versuchen, die Szene unbewusst so zu gestalten, wie es seinen inneren Objektfantasien und Beziehungsentwürfen entspricht. Aufmerksames Beobachten der Gegenübertragung bewahrt den Therapeuten davor, unbemerkt eine Rolle in der Inszenierung der Familie zu übernehmen. Wichtige Ziele sind es, elterliche Position und Allianz anzustreben. Ersteres meint die Fähigkeit und Bereitschaft von Erwachsenen, ihren Kindern einigermaßen unbelastet durch eigene infantile Konflikte sicher und liebevoll zur Verfügung zu stehen und die Frustrationen, die die Auseinandersetzung mit der Realität unvermeidlich mit sich bringt, altersangemessen, einfühlend und relativ frei von Angst zu vertreten; elterliche Allianz wiederum ist nach Ahlheim getragen von gemeinsam entwickelten Fantasien über das Kind, wie es ist und wie es werden kann, und von dem Entschluss, miteinander die Verantwortung für das Gelingen gemeinsam zu tragen (2007, S. 257). Beide Ziele sollten auch mit getrennt lebenden Eltern zumindest angestrebt werden.
Bei Jugendlichen, vor allem solchen mit sehr belastender Familiendynamik, ist oft ein getrenntes Setting zu empfehlen, Eltern und Patient haben verschiedene Therapeuten. Wolff (1999) beschreibt am Beispiel eines solchen Falles dessen Vor- und Nachteile. Sie sieht vor allem eine Erleichterung der psychoanalytischen Haltung und dass Eltern in ihrer Not und mit ihren Problemen oft besser verstanden werden können. Die größere Möglichkeit, sich auf die Welt der inneren Objekte und Beziehungen der Eltern konzentrieren zu können, zieht nach Wolff auch die Gefahr nach sich, die Grenze der begleitenden Elternarbeit zu verlieren und regressive Prozesse zu fördern, eine Gefahr, die immer besteht. Überhaupt wird Elternarbeit bei Jugendlichen zu lange durchgeführt, oft bis in das Erwachsenenalter. Dies kann durchaus eine autonome Entwicklung erschweren, so dass es besser ist, älteren Jugendlichen ein abgegrenztes Therapieerleben zu ermöglichen.
Die Beendigung einer psychoanalytischen Therapie muss mit dem Patienten und seinen Eltern langfristig vorbereitet werden, denn es besteht – wie zuvor verdeutlicht – immer ein doppeltes Behandlungsbündnis. Freud hat bekanntlich gemeint, dass eine Psychoanalyse erst dann beendet werden kann, wenn sie vom Patienten als endlich erlebt wird. Die Beendigung ist allerdings nicht nur eine Abmachung zwischen Analytiker, Patient und Eltern, die Endlichkeit einer Behandlung wird auch durch die Höchstgrenzen der Psychotherapie-Richtlinien mit bestimmt. Somit müssen zum einen Abschlusstermine festgelegt werden, zum anderen müssen sich die Parteien darüber verständigen, was noch durchgearbeitet werden muss und kann. Endlichkeit ist immer auch eine Auseinandersetzung mit Trennung und Tod. Dies kann sowohl beim Patienten, als auch bei den Eltern und beim Analytiker alte Ängste mobilisieren, verlassen und von der Mutter getrennt zu sein (Sandler, Kennedy und Tyson 1982, S. 304). Also müssen verstärkt Objektverlustängste durchgearbeitet und Übertragungen langfristig aufgelöst werden. Solche Ängste können auch in unterschiedlicher Weise verleugnet werden: Vorzeitiger Abbruch kann gewünscht werden, die häufig wieder aufflammenden Symptome können auch bedeuten, dass der Patient der gleiche wie am Anfang wäre und eine Behandlung nie stattgefunden hätte (ebd., S. 303 f.). Aber auch der Therapeut kann versuchen, Endlichkeit zu verleugnen. Er kann immer neue Verlängerungen einer Therapie beantragen. Er kann, wie das oft geschieht, Beendigungen vor Ferien legen, um Trennung nicht wahrzuhaben und er kann die Frequenz immer mehr verdünnen, um einen klaren Schnitt zu vermeiden und die Trennung hinaus zu zögern. Die rezidivierenden Symptome sind natürlich nicht nur ein Versuch, die Behandlung zu verleugnen, sie sind nicht selten ein Ergebnis von Erschütterungen der Symbolisierungsfähigkeit unter dem Einfluss der anstehenden Trennung, so dass die Fähigkeit, Getrenntheit auszuhalten, wieder geringer wird.
In diesen Tagen hat mir ein 12-jähriger Junge zum Abschluss seiner Behandlung einen Brief geschrieben. Über bewegende, gefühlhafte Dinge wollte er nie gerne sprechen, aber er konnte sie immer auf seine Art vermitteln, und er schrieb: »Es war eine tolle Zeit, aber irgendwann endet immer etwas. Ich hoffe, dass Sie gesund bleiben und noch mehr Spaß am Leben haben.« Ich habe den Eindruck, dass er über Vergangenes trauern kann, dass er Trennung aushält und dass er sicher ist, dass wir beide die Trennung überleben werden. Fast hätte ich glauben mögen, er hätte Winnicott gelesen, der einst geschrieben hat: »Ich habe meine Freude daran, Analyse zu betreiben, und ich freue mich immer auf das Ende jeder Analyse. Analyse um der Analyse willen hat für mich keinen Sinn. Ich betreibe Analyse, weil es das ist, was mit dem Patienten gemacht werden muss, und weil es das ist, was der Patient hinter sich bringen muss. Wenn der Patient keine Analyse braucht, dann mache ich etwas anderes« (Winnicott 1984, S. 217).
5.6 Ausblick – Brauchen wir andere Behandlungstechniken?
Wir stellen fest, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund veränderter soziokultureller Verhältnisse erheblich gewandelt haben: Externalisierende Störungsbilder (hyperkinetische Störungen und Störungen des Sozialverhaltens) gehören mittlerweile zu den am häufigsten diagnostizierten Auffälligkeiten bei männlichen Kindern und Jugendlichen. Es kommt häufiger zu Störungen der Symbolisierung sowie der Mentalisierung. Hierzu gehören auch die hyperkinetischen Störungen. Externalisierende Störungen nehmen zu, auch weil der gesellschaftliche Rahmen nicht ausreichend haltend und begrenzend ist. Reale Angst und Scham scheinen sich rückzubilden. Viele Väter sind zunehmend »unsichtbar« und besitzen keine ausreichende triangulierende Funktion. Die Jungen geraten zunehmend in Schwierigkeiten mit ihrem Umfeld. Ihre Kommunikationsfähigkeiten sind störanfälliger – es zeigen sich bei ihnen durchgehend höhere Raten von hyperkinetischen Störungen, von dissozialen Störungen, Störungen durch Substanzgebrauch sowie monosymptomatische Störungen wie Tics und Enkopresis (Ihle und Esser 2002). Viele Kinder, die heute in analytische Psychotherapie kommen, haben neben Symbolisierungsstörungen auch Spielstörungen. Sie erleben Spielen nicht symbolisch, nicht überwiegend »als ob« und in einem Zwischenbereich von Fantasie und Realität angesiedelt (Streeck-Fischer 2006). Das Spiel kann bei ihnen leicht konkretistisch, real werden und blitzschnell