Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


Скачать книгу
gebundene Kinder, unsicher-ambivalent gebundene Kinder und Kinder mit desorganisiertem Verhaltensmuster beruht auf standardisierten Beobachtungen und macht die Theorie auch außerhalb der psychoanalytisch orientierten Entwicklungstheorie akzeptabel (vgl. Fonagy 2009).

      Das Konzept der Feinfühligkeit der Mutter ist aus psychoanalytischer Sicht problematisch, da die Gefahr der »Schuldzuweisung« an die Mütter besteht. Eine Kritik am Konzept der Feinfühligkeit wird durch die Studie von de Wolff und Ijzendoorn (1997, zit. nach Brisch 1999, S. 49) auch aus bindungstheoretischer Sicht reflektiert. Die Studie führt nur 12 % der Varianz der kindlichen Bindungsmuster auf mütterliche Feinfühligkeit zurück. So wird aus Sicht der Bindungstheorie die Suche nach äußeren Traumatisierungen bedeutsam, da eine Konzentration auf eine, wenn auch erworbene, defizitäre Haltung der Mütter, bzw. Bezugspersonen zu problematischen pädagogischen und therapeutischen Haltungen führen kann.

      Die Bindungstheorie spricht heute von sogenannten Schutz- und Risikofaktoren, die zu Bindungsstörungen führen können: Das Risiko einer Frühgeburt kann unsicher gebundene Kinder hervorrufen, besonders bei extrem kleinen Frühgeborenen (Brisch 1999, S. 75). Desorganisierte Bindung wird häufiger bei misshandelten Kindern beobachtet. Wenn Eltern unter Depressionen oder Schizophrenie leiden, besteht ein Trend für unsicher gebundene Kinder. Unsichere Bindung wird häufiger bei Borderline-Persönlichkeitsstörung, Agoraphobie, sexuellem Missbrauch, suizidalem Agieren in der Adoleszenz, Depression, psychiatrischen Erkrankungen und verschiedenen psychosomatischen Erkrankungen diagnostiziert (ebd., S. 76). Im Säuglingsalter werden Ess-, Schrei- und Schlafstörungen sowie Wachstumsretardierungen mit der mütterlichen Ambivalenz in Verbindung gebracht (ebd., S. 90).

      Desorganisiertes Bindungsverhalten wird bei Kindern mit ADHS (Brisch 2002, S. 48) diskutiert, aber auch bei Autismus (Bergmann 2009). Kinder mit Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch zeigen zu 80 % desorganisierte Verhaltensweisen, bei psychosozial unbelasteten Eltern zeigen dagegen nur 15 % desorganisiertes Bindungsmuster. Mütter, die selbst schwerwiegende Traumata wie Missbrauch und Misshandlung erlitten haben, zeigen häufiger desorganisiertes Bindungsverhalten.

      Armut und Gewalt als Belastungen können feindseliges und hilfloses elterliches Verhalten bewirken und damit ein unsicher-desorganisiertes Bindungsmuster bei Kindern (Brisch 2002, S. 51). Klinische Erfahrungen zeigen, dass Kinder mit Bindungsstörungen gehäuft traumatische Erfahrungen gemacht haben und desorganisierte Verhaltensweisen zeigen. Desorganisiertes Bindungsverhalten führt oft zu sozialen Interaktionsstörungen und emotionalen Ablehnungsreaktionen. Längsschnittstudien in Deutschland, in den USA und in England zeigen, dass sicher gebundene Mütter mit etwa 70 % Übereinstimmung auch sicher gebundene Kinder haben. Zwischen der Bindungshaltung der Väter und den Kindern besteht nur 65 % Übereinstimmung (ebd., S. 55). Eine sichere Bindung erhöht die psychische Vulnerabilitätsschwelle (Brisch 1999, S. 77). Eine ausführliche Diskussion über Bindungsverhalten in den verschiedenen psychischen Störungen findet sich bei Strauß (2008).

      6.1 Behandlungsansätze

      Im Rahmen der psychoanalytischen Theorie möchten wir folgende Punkte kritisch hervorheben:

      • Die Problematik des Konzepts der Feinfühligkeit der Mutter, wie bereits oben von Brisch selbst einschränkend vermerkt.

      • Die Kategorisierung der Bindungsstörungen beruht auf äußeren Beobachtungen und sagt nur begrenzt etwas über das innere Erleben der Kinder aus.

      • Dass bei allen psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten auch Bindungsstörungen zu finden sind, ist unumstritten und auch in der klassischen Psychoanalyse in allen Theorien enthalten (Narzissmustheorie, Objektbeziehungstheorie etc.).

      • Die Bindungstheorie war lange einseitig auf die Mutter-Kind-Beziehung reduziert, wird heute aber kritisch erweitert durch das Konzept der komplexen triadischen Beziehungen vom Anfang des Lebens an. Hier erhält auch die Vater-Kind-Beziehung einen bedeutenden Stellenwert in Bezug auf Bindungssicherheit und Exploration (von Klitzing 2002b; 2002a).

      Brisch betont: Bei jeder Symptomatik und bei jedem Störungsbild können bindungstheoretische Überlegungen angestellt werden (1999, S. 276).

      Die Konsequenzen der Bindungstheorie für die Behandlung enthalten ebenfalls nicht wirklich neue Aspekte. Bei der Therapie liegt der Fokus auf der Bindungsqualität der Therapeut-Patient-Beziehung (ebd., S. 97). Feinfühligkeit und Empathie sollen erfahren und in der Übertragungsbeziehung reaktiviert werden (ebd., S. 98). Im Übertragungskonzept der klassischen Psychoanalyse (z. B. Containing nach Winnicott) ist der Aspekt der Verinnerlichung der mit dem Therapeuten reinszenierten und durch seine Reaktionen und Deutungen veränderten Repräsentanzen gleichermaßen enthalten.

      Die Konsequenzen für die Kindertherapie (Brisch 1999, S. 100) werden aufgeführt:

      • Sichere Bindungsbeziehung,

      • Symbolspiel,

      • Bindungsrelevante Interaktionen werden gedeutet,

      • Ermöglicht neue sichere Bindung,

      • Behutsames Lösen des therapeutischen Bündnisses.

      Die therapeutische, sichere Bindungsbasis ermöglicht einen affektiven Neubeginn im Sinne einer korrigierenden Erfahrung (ebd., S. 106).

      Unsere kritische Einschätzung der Bindungstheorie ist, dass sie einen fundamentalen und wichtigen Aspekt der Entwicklung betont, der nicht oft und intensiv genug betont werden kann. Sie ist eine Brücke der Psychoanalyse zu psychologisch (qua empirischer Methodik) und physiologisch (qua genetische Verhaltenssysteme) orientierten Ansätzen (vgl. Fonagy 2009). Mit der Betonung der Eltern-Kind-Beziehung und des Bindungsaspektes wird jedoch für die Theorie und Behandlung im Sinne der klassischen Psychoanalyse kein wesentlich neuer Aspekt hinzugefügt. Insofern werden wir auch bei den verschiedenen Störungsbildern nicht explizit hinzufügen – soweit überhaupt vorhanden – welche Bindungsmuster hier gehäuft zu finden sind. Uns geht es bei der Darstellung der verschiedenen Störungen um die Qualität der inneren Bilder und Erfahrungen, die sich äußerlich nur reduziert in den Klassifikationssystemen der Bindungstheorie wiederfinden.

      Eine besonders wertvolle Konsequenz der Bindungstheorie ist unserer Einschätzung nach vor allem ihr vielfältiges Anwendungsgebiet im therapeutischen und pädagogischen Feld. Sie regt an zu Informations- und Aufklärungsarbeit über die Konzepte der Bindung beim Eintritt in den Kindergarten und in die Schule. Sie stellt Zusammenhänge zwischen Schul- und Lernprozessen her. Sie richtet im Sinne der Prävention ihr Augenmerk auf Problemsituationen wie die Eingewöhnung in eine neue Umgebung: Tagesmutter, Krippe, Wechsel von Schulen, Umzug (Brisch 1999, S. 268). Schwellensituationen wie Abschied und Trennungsprozesse sollten begleitet werden (ebd., S. 269). Dabei wertschätzt die Bindungstheorie die Pädagogik und Therapie gleichermaßen. Bei der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gelten die gleichen Grundsätze wie sie für bindungsorientierte Psychotherapie formuliert werden. Sie müssen den jeweiligen Gegebenheiten des pädagogischen Settings angepasst und bei Bedarf modifiziert werden. Lehrer gelten auch als wichtige sekundäre Bindungspersonen (ebd., S. 276). Es gibt ein Feinfühligkeitstraining für werdende Eltern und videounterstütztes Wahrnehmungstraining (1999, S. 44) sowie die Elterntrainingsprogramme »SAFE« (Brisch 2010).

      Inspiriert vom Gedanken der Prävention von Bindungsstörungen führten wir ein Forschungsprojekt durch, in dem die Notwendigkeit von Hausfrühförderung, wie sie in der Sonderpädagogik angeboten wird, gezeigt werden sollte. Eltern frühgeborener Kinder wurden in regelmäßigen Abständen zu Hause besucht und über szenisches Verstehen und analytische Gespräche zur Verbalisierung und Mentalisierung der Affekte angeregt. Bindungsstörungen sollten präventiv durch psychoanalytisch-pädagogische Hausfrühförderung verhindert werden. Ähnliche Konzepte gibt es bereits in den NIDCAP-Modellen (Als und Butler 2008).

      Ich (E.H.) möchte eine kurze Vignette aus einem Besuch bei einem Elternpaar beschreiben. Die Mutter ist erst eine Woche vor meinem Besuch zusammen mit ihrem frühgeborenen Säugling – nennen wir ihn Tim – nach Hause entlassen worden. Wir sitzen gemeinsam auf der Couch-Landschaft in einem gepflegten, gemütlichen Reihenhaus. Liebevoll steht das Kinderbett


Скачать книгу