Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann

Psychische Störungen in Kindheit und Jugend - Evelyn Heinemann


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dafür ist die Kultur durchsetzt von der Gleichsetzung von Essen und Sexualität. Das Tabu des Verzehrs des Totemtieres sichert die Exogamie. Die Geschlechtsorgane von Mann und Frau werden mit Nahrungsmitteln benannt und nichts zu essen zu haben, heißt, keinen Sexualpartner zu haben. Sexualität wird bezeichnet als »Essen von demselben Teller« und Männer und Frauen dürfen nicht gemeinsam miteinander essen. So wird die Geschlechtsidentität durch äußere Trennung der Geschlechter aufrechterhalten (ebd., 1995, S. 58).

      Anstelle der Kastrationsangst tritt beim Mann die Angst, sexuell nicht zu genügen, ähnlich wie dies Horney beschrieben hat. Folgender Mythos erzählt von dieser Angst des Mannes: »Ein Mann, der im Norden von Babeldaob lebte, war unfähig, seine Frau, die viel größer war als er, zu befriedigen. Da er seine Frau liebte und wollte, dass sie Lust empfand, überredete er sie, in ganz Palau nach einem Mann zu suchen mit dem Namen Melechotchachau … Sie fand Melechotchachau und fragte ihn, ob seine legendäre Ausstattung der Wirklichkeit entspreche. Der Mann sagte ihr, sie solle nur seinem Glied folgen, wie es sich einige Meilen zwischen den Felseninseln südlich von Ngerkebesang hinauswinde. Die Frau fand schließlich die Spitze des enormen Gliedes, und sie bestieg es sofort. Sie wurde sogleich in die Luft geschleudert und zur Insel Peleliu in der Nähe des Dorfes Ngerdelolk geworfen. Bis zum heutigen Tag gibt es einen Felsen in der Nähe dieses Dorfes mit dem Namen Ngetkoang, was bedeutet ›geworfen zu werden von einer hockenden Stellung‹. Der Fels hat die Figur der total befriedigten Frau, die Melechotchachau fand« (ebd., S. 50 f.).

      Die Angst des Mannes vor der Sexualität der Frau wird mit der Drohung der Versteinerung, vielleicht ähnlich des Konzeptes der Aphanisis (Jones), beantwortet. Im Zentrum aller Riten steht in Palau die Zeremonie der Geburt des ersten Kindes, mit der die Frau einen quasi »göttlichen« Status erhält. Gebärneid auf Seiten der Frauen drückt sich im Ritus aus, wenn die junge Mutter 10 Tage mit kochend heißem Wasser und Rutenhieben von Frauen zur Vorbereitung der Zeremonie behandelt wird. Symbolisch wird ihr Geschlechtsorgan im Essen des Taro, der unter ihrer Vagina gedämpft wurde, kannibalistisch verzehrt. Der Gebärneid des Mannes drückt sich aus, wenn Männer nach der früher stattfindenen Kopfjagd den erbeuteten Kopf in einer der Zeremonie des ersten Kindes analogen Weise präsentierten.

      Fantasien um Geschlechtsorgane und Geschlechterdifferenz sind abhängig von der realen Macht und Position der Geschlechter in einer Kultur, bzw. stehen in einem dialektischen Prozess und tragen als unbewusste und bewusste Fantasien zur Erhaltung der Machtstrukturen bei.

      Psychische Störungen und Geschlechterdifferenz

      Wenn wir die in diesem Buch beschriebenen psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter unter geschlechtsspezifischen

Images

      JungenMädchen

      Aspekten betrachten, so fallen deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf, die uns unter Umständen Aufschluss geben können über unbewusste und bewusste Macht- und Sozialisationsverhältnisse in unserer Kultur. »Die Pathologie hat uns ja immer den Dienst geleistet, durch Isolierung und Übertreibung Verhältnisse kenntlich zu machen, die in der Normalität verdeckt geblieben wären« (Freud 1933a, S. 129).

      Psychische Störungen bei Knaben konzentrieren sich auf das Alter der Kindheit, grob gesagt, die Schulzeit, während die Störungen der Mädchen hauptsächlich die Adoleszenz betreffen.

      Die Geschlechterverteilung der in diesem Buch beschriebenen psychischen Störungen zeigt die Tabelle 3.1 (image Tab. 3.1).

      Eine repräsentative Untersuchung von Hirschmüller, Hopf, Munz und Szewkies (1997) zeigt bei einer Stichprobe von 449 Kindertherapien und 160 Therapien mit Jugendlichen, dass bei Kindern bis 12 Jahren die Jungen 64 % der Therapieplätze in Anspruch nehmen, bei den Jugendlichen sind die männlichen Patienten nur noch mit 32 % vertreten. Die wichtigsten Symptome bei Behandlungsbeginn entsprechen in der Geschlechterverteilung etwa unseren Ausführungen (image Abb. 3.1).

      Jungen wenden Aggression eher nach außen, Mädchen wenden sie gegen sich selbst. Jungen werden durch geschlechtsspezifische Erwartungen und Erziehung eher in körperlichen Aktionen narzisstisch bestätigt, sie beantworten innere Unruhe bald mit narzisstischen Größenfantasien, Aggression und motorischer Unruhe. Depressionen kommen bei Jungen nicht seltener vor als bei Mädchen, die depressiven Affekte werden nur stärker mit Hilfe einer Aggressivierung abgewehrt. Erstaunlich ist, dass Hyperaktivität kaum zur psychotherapeutischen Behandlung führt (Jungen 2 %, Mädchen 0,5 %, bei Jugendlichen beiderlei Geschlechts 0 % der Behandlungen). Die Abwehr der Anerkennung psychischer Ursachen und die Bevorzugung medikamentöser Behandlung

      Abb. 3.1: Wichtiges Symptom bei Behandlungsbeginn. Aus: Hirschmüller u. a., 1997, S. 24

      scheint noch immer sehr wirksam, trotz des Wissens um die Gefährlichkeit des Medikamentes Ritalin.

      Die Störungen der Jungen dokumentieren die von Chodorow und Greenson beschriebene Identitätskrise des Knaben. Um männlich zu werden, muss er sich von der verführerischen Mutter abgrenzen und mit dem Vater oder einem Ersatzobjekt identifizieren. Der Knabe ist von der Verfügbarkeit eines solchen Objektes abhängig. Wenn der Vater schwach, nicht vorhanden oder als Identifikationsobjekt unattraktiv ist, wächst die Bedrohung für den Knaben, mit der Mutter symbiotisch und inzestuös verstrickt zu bleiben und die Geschlechtsidentität zu verlieren. Aggression und Hyperaktivität zeugen vom Versuch, sich von der Mutter abzugrenzen. Im Zwang, Stottern und Stammeln drückt sich die Ambivalenz aus, Aggression gegenüber der Mutter, aber auch Schuldgefühle und Zuneigung ihr gegenüber zu empfinden. Die sexuellen Identitätsstörungen, das Einnässen und Einkoten wehren Aggression der Mutter gegenüber im Sinne einer Perversion oder psychosomatisch ab, d. h. Aggression ist nicht mehr bewusst und die Ängste um die eigene Geschlechtsidentität stehen unbewusst im Vordergrund. In der Psychose ist die Abgrenzung und Triangulierung schließlich gescheitert.

      Ganz im Sinne von Chodorow scheinen die Mädchen das Kindesalter unbeschadeter zu überstehen. Vielleicht ermöglicht die Schule den Mädchen, mit der Mutter in sublimierter Weise zu rivalisieren und sich so von ihr abzugrenzen. Die Mädchen durchlaufen keine mit der männlichen Entwicklung vergleichbare frühe Identifikationskrise. Sie scheinen eher unter Schuldgefühlen zu leiden, ihr Über-Ich ist, im Gegensatz zu Freuds Hypothese, rigider und führt zur Wendung der Aggression gegen das Selbst. Mertens (1992, S. 95) sieht in der frühen Identifikation des Mädchens mit der Mutter eine Ursache für ein strengeres, aber auch konsolidierteres Über-Ich als das des Knaben. Bei den Mädchen ist vermutlich die Verselbständigung komplizierter und löst mehr Schuldgefühle der Mutter gegenüber aus.

      Die weibliche Entwicklung scheint in unserer Kultur in der Adoleszenz verstärkten Belastungen ausgesetzt zu sein. Vielleicht gelingt es den Knaben in der Adoleszenz über die Identifizierungen im Beruf, die Ablösung von der Mutter und die Sicherung männlicher Identität zu erreichen. Eggert-Schmid Noerr (1991) fand in gruppenanalytischen

      Gesprächen bei männlichen, arbeitslosen Jugendlichen die Angst zu verweiblichen. Die Mädchen geraten in der Adoleszenz jedoch in eine Krise, sich nun endgültig von der Mutter ablösen zu müssen, was offenbar mit starken Schuldgefühlen und Verlustängsten behaftet ist (vgl. Bell 1996), und sie müssen Sexualität integrieren. Hysterie, Bulimie und Magersucht zeugen von der Angst, weiblich und sexuell aktiv zu werden. Über die bekannte Gleichsetzung von Essen und Sexualität wird der Kampf um sexuelle Autonomie auf das Essen verschoben oder ins Körperliche konvertiert und so maskiert. Die Rivalität, die durch den Reiz des Penis ausgelöst wird, weckt und reaktiviert


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