Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Evelyn Heinemann
organische Minderwertigkeit und die der Frau schlechthin. Die Liebe des Mädchens galt der phallischen Mutter, die Entdeckung, dass auch die Mutter kastriert ist, entwertet diese in den Augen des Mädchens. Zudem macht das Mädchen sie für die eigene Penislosigkeit verantwortlich. Aus dem Kastrationskomplex gibt es bei Freud drei Entwicklungen für das Mädchen: die Ablehnung von Sexualität, der Männlichkeitskomplex und der Weg in die normale Weiblichkeit. Es ersetzt den Wunsch nach einem Penis durch den Wunsch nach einem Kind, um die Weiblichkeit herzustellen. »Die weibliche Situation ist aber erst hergestellt, wenn sich der Wunsch nach dem Penis durch den nach dem Kind ersetzt, das Kind also nach alter symbolischer Äquivalenz an die Stelle des Penis tritt« (ebd., 1933a, S. 137).
Während der Kastrationskomplex des Mädchens den Objektwechsel und Ödipuskomplex einleite, beende der des Knaben den Ödipuskomplex und führe zur Bildung des Über-Ich. Bei Freud hat das Mädchen kein analoges Motiv, den Ödipuskomplex aufzulösen, es bleibe auf den Vater fixiert. Das Über-Ich des Mädchens ist nach Freud stärker personen- und situationsbezogen. »Man zögert es auszusprechen, kann sich aber doch der Idee nicht erwehren, dass das Niveau des sittlichen Normalen für das Weib ein anderes wird. Das Über-Ich wird niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern« (ebd., 1925j, S. 29).
Wir denken, dass Freud dezidiert die seiner Zeit zugrunde liegenden Fantasien analysiert hat, der Fehler, den er machte, war, diese Fantasien nicht als kulturbedingt, sondern als anatomisches Schicksal zeit- und kulturunabhängig zu postulieren. Bereits das grausame, seit Jahrhunderten bestehende Phänomen der Klitorisbeschneidungen in Afrika zeigt, dass hier ähnliche Fantasien die männliche Dominanz sicherstellen. Auch dort gilt die Klitoris als männliches, aktive Sexualität ermöglichendes Organ, das entfernt werden muss, damit die Frau weiblich wird. Bevor wir auf kulturelle Aspekte eingehen, möchten wir nun zuerst die Diskussion um Freuds Theorien zur Geschlechterdifferenz historisch nachzeichnen. Bereits in den 1930er Jahren lösten Freuds Theorien eine rege Diskussion aus. Unterstützt wurde Freud vor allem von Lampl de Groot, Marie Bonaparte und Helene Deutsch.
3.2 Befürworter zu Freuds Zeiten
Bonaparte (1935) sah in der Aufgabe der »männlichen« Klitoriserotik und der Hinwendung zur passiven, empfangenden weiblichen Vaginalerotik die Grundlage der Weiblichkeit. Sie führt diesen Vorgang wie Freud auf die größere Passivität der Frau zurück, die sie aus dem weiblichen Kastrationskomplex begründet. »Die Klitoris, ein verstümmelter Phallus, kann tatsächlich niemals, nicht einmal in der Fantasie, zu jener Aktivität gelangen, auf die der Penis nach seiner ganz anderen Anlage Anspruch hat« (ebd., S. 29). Lampl de Groot (1927) und Deutsch (1925; 1930) sprachen sogar von der Notwendigkeit der Wendung der Triebe ins masochistische. Erst, wenn sich das Mädchen immer wieder der Kastration unterwirft, sei eine Beziehung zum Vater möglich. Mit der Wahrnehmung der eigenen Penislosigkeit wird bei Deutsch die aktiv-sadistische Klitorislibido ins masochistische gewendet und mündet in den Wunsch, vom Vater kastriert zu werden. Diese Wendung ins Masochistische ist bei Deutsch vorgezeichnet und bildet die erste Grundlage zur endgültigen Entwicklung der Weiblichkeit. Schwangerschaft und Geburt können nur mit Hilfe des Masochismus als lustvoll erlebt und deshalb angestrebt werden. Das Triebleben der Frau diene nicht nur dem Lustprinzip, die Frau müsse auch die durch Menstruation und Geburt mit Schmerzen durchsetzte Sexualität akzeptieren.
Eine Zwischenstellung zwischen Kritikern und Befürwortern nimmt Müller-Braunschweig (1936) ein. Einerseits argumentiert er wie Freud, dass die Mutter ein inadäquates Objekt für das Mädchen ist. Das Mädchen unterdrücke seine weiblichen Strebungen und überbetone seine qua Bisexualität existierenden, männlichen Strebungen. Das Gefühl, mangelhaft zu sein, resultiere aus dem Gefühl, kein adäquates Genital für die Mutter zu haben. Müller-Braunschweig geht im Gegensatz zu Freud aber von einer primär weiblichen, allerdings gleichfalls passiv-masochistischen vaginalen Sexualentwicklung aus, die das Mädchen zuerst unterdrücken müsse. Er sprach von einer primären Anziehungskraft der Geschlechter und erklärte den Objektwechsel nicht mit dem anders gearteten Kastrationskomplex. »Dieses Äquivalent (zur Kastrationsangst des Knaben, E. H., H. H.) sehe ich in der infantilen Weiblichkeit des kleinen Mädchens und der damit, im Gegensatz zum Knaben, von vornherein gegebenen größeren masochistischen und passiven Einstellung« (1926, S. 375).
3.3 Kritiker zu Freuds Zeiten
Bereits früh in den 1930er Jahren regte sich Widerstand gegen die Freud‘schen Theorien zur Geschlechterdifferenz. Es waren vor allem Melanie Klein, Ernest Jones und Karen Horney, die eine der männlichen Entwicklung analoge primäre weibliche Entwicklung postulierten. Horney (1932; 1933) ging in ihrer Kritik am weitesten, sie wurde allerdings wenig beachtet. Sie sah in den verschiedenen sexuellen Ängsten des Knaben und Mädchens, die sich aus den anatomischen Geschlechtsunterschieden ergeben, entwicklungsbeeinflussende Faktoren, die aber nicht zugunsten des einen oder anderen Geschlechtes ausgehen. Horney widersprach der Vorstellung, die Vagina werde erst in der Pubertät entdeckt. »Das Mädchen will auf Grund ihrer biologisch gegebenen Natur empfangen, in sich aufnehmen; sie fühlt und weiß, dass ihr Genitale zu klein ist für den väterlichen Phallus und muss darum auf ihre eigenen genitalen Wünsche mit direkter Angst reagieren, mit der Angst nämlich, dass die Erfüllung ihrer Wünsche ihr oder ihrem Genitale Zerstörung bringen würde. Der Knabe dagegen, der fühlt und instinktiv abschätzt, dass sein Penis viel zu klein ist für das mütterliche Genitale, reagiert mit der Angst, nicht zu genügen, abgewiesen, ausgelacht zu werden« (1932, S. 13).
Die Angst des Mädchens ist bei Horney eine Beschädigungsangst, die des Knaben eine Bedrohung des Selbstwertgefühls. Horney widersprach Freud, indem sie aufzeigte, dass frühe Fantasien, Ängste, Träume und Verhaltensweisen bei Mädchen belegen, dass es ein Empfinden vaginaler Sensationen in der frühen Kindheit gibt. Besonders starke Ängste führen aber zur Verleugnung der Vagina. »Es scheint mir also nach alledem vieles für die Annahme zu sprechen, dass dem ›Unentdecktseinfi‹ der Vagina eine Verleugnung der Vagina zugrunde liegt« (1933, S. 384). Die Unsichtbarkeit der Vagina erschwere es dem Mädchen, sich durch Nachprüfen ihrer Integrität zu versichern.
Auch Klein (1928) und Jones (1928, 1933) gingen beide von einer primär weiblichen, vaginalen Entwicklung aus. Das Mädchen übertrage seinen oralen Wunsch nach der Mutterbrust auf den Penis. Das Mädchen wendet sich dem Vater zu, um seinen Penis in die Vagina aufnehmen zu können, es bedarf also keines Kastrationskomplexes für den Objektwechsel des Mädchens. Bei Klein und Jones bildet sich die Sexualentwicklung entlang der Vorstellungsreihe Mund-Anus-Vagina beim Mädchen, beim Knaben entlang der Vorstellungsreihe Brustwarze-Kotsäule-Penis. Starke orale Versagungen führen zur Überbewertung des Penis. Das Primat des Phallus ist dabei ein Abwehrprodukt auf beiden Seiten. Durch intensive Kastrationsängste aufgrund der Rivalität mit dem Vater nimmt der Knabe die Vagina als Wunde wahr, verleugnet er die Vagina und überbesetzt seinen Penis. Für das Mädchen sei der Penis die potentere Brust. Sadistische Strebungen gegen die Brust wandeln sich in die Angst vor dem eindringenden Penis. Auch das Mädchen verleugnet die Vagina. Mit der Annahme einer primär weiblichen Entwicklung hat das Mädchen das gleiche Motiv, den Ödipuskomplex aufzugeben, nämlich den Schutz seines Genitals. Jones (1928) sah die Kastrationsangst als Spezialfall der beide Geschlechter betreffenden Angst vor völliger Vernichtung der Sexualität, der sexuellen Genussfähigkeit, der Aphanisis. Der Mann stelle sie sich typischerweise in Form der Kastration vor, die Frau hat Angst vor dem Verlassenwerden.
Bei Jones bleibt die Vagina passiv. Den Widerspruch, dass der Mund aktiv an der Brust saugt, die Vagina entlang dieser Vorstellungsreihe auch aktiv sein müsste, sah er nicht. Klein (1928) sah die genitalen Ängste des Mädchens als aktive Zerstörungs- und Beschädigungsfantasien, welche aus der Angst vor Vergeltung der Mutter resultieren. »Die sehr intensive Angst des Mädchens für ihre Weiblichkeit ist in Analogie zu bringen zur Kastrationsangst des Knaben, da sie sicher auch eine Rolle für den Abbruch der Ödipusstrebungen seitens des Mädchens spielt. Die Kastrationsangst des Knaben für den sichtbar vorhandenen Penis verläuft aber doch anders, man könnte sagen akuter, als die mehr chronische des Mädchens für ihre weniger gut bekannten inneren Organe« (ebd., S. 74). Mit der Annahme einer primär weiblichen Sexualentwicklung und den entsprechenden Genitalbeschädigungsängsten wurde auch