"Gemeinsam wachsen" - der Elternratgeber ADHS. Armin Born
gut ist es Ihnen gelungen, sich auf die Phantasiereise einzulassen?
Das ist nicht einfach. In den Elterntrainingsgruppen gab es immer wieder Mütter, denen es schwer fiel, sich in ihr Kind hineinzuversetzen und die dann in ihre eigene Mutterrolle zurückgerutscht sind. Sie versuchten dann zum Teil zu begründen, warum sie als Mutter auf eine bestimmte Weise auf ihr Kind reagiert haben, so z. B., dass ihr Kind viel Unsinn mache und deswegen geschimpft werden musste.
Wenn dies bei Ihnen auch der Fall war, versuchen Sie noch einmal, die Augen zu schließen, sich in Ihr Kind hineinzuversetzen und ausschließlich in der Perspektive Ihres Kindes zu bleiben.
War es Ihnen jetzt möglich, sich ein bisschen in Ihr Kind hineinzuversetzen?
Wenn es Ihnen gelungen ist, versuchen Sie sich zu erinnern: Haben Sie in den einzelnen Situationen mit den Augen Ihres Kindes etwas sehen können? Haben sie etwas hören können? Was haben Sie als Ihr Kind gedacht? Wie haben Sie sich als Ihr Kind gefühlt?
Bevor Sie weiter lesen, möchten wir Sie bitten zu versuchen, diese Erfahrungen aus dem Blickwinkel Ihres Kindes schriftlich in dem folgenden Bogen festzuhalten. Sie wissen ja, Gedanken und Erinnerungen sind sehr flüchtig. Nur wenn wir sie schriftlich festhalten und nachlesen können, können wir auch bewusst damit arbeiten.
Vorstellungsübung »Ich bin mein Kind«
Arbeitsblatt 1.5: Vorstellungsübung »Ich bin mein Kind«
Möglicherweise ist Ihnen nach dem Ausfüllen und Durchlesen Ihres Bogens etwas bewusst geworden.
Diese Vorstellungsübung ist fester Bestandteil in unseren Elterntrainingsgruppen. Obwohl die Vorgaben neutral formuliert sind, berichten die Eltern durchgängig fast immer nur »Negatives«.
Als Kind sehen sie die großen Erwachsenen, sie sehen einen verärgerten oder gereizten Gesichtsausdruck bei den Erwachsenen. Sie sehen den bösen Blick der Eltern auf sich gerichtet, sie hören die laute Stimme, sie hören das ständige Drängen und Auffordern. Sie hören die gereizte Stimme »Jetzt mach doch endlich!«. Sie hören die vorwurfsvolle Stimme der Mutter »Hör endlich auf!«.
Als Kind denken sie, »was habe ich denn schon wieder falsch gemacht«, »ich bin immer Schuld«, »ich muss immer …«, oder »ich kann doch nichts dazu«. Als Kind fühlen sie Wut, Zorn, Scham, Angst, Hilflosigkeit, Traurigkeit.
Die folgende Abbildung zeigt wieder Plakate aus einer Elterntrainingsgruppe, auf denen die Auswertung der Phantasiereise festgehalten wurde. Vielleicht erkennen Sie nun einiges wieder, was Sie selbst als Ihr Kind gesehen, gehört, gedacht und gefühlt haben.
Stellen Sie sich vor: Sie erleben dies Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Wie würden Sie sich fühlen, wie würde es Ihnen ergehen?
Und, was passiert bei Ihrem Kind?
ADHS-Kinder wirken nach außen hin meist »cool«. Als Außenstehender, d. h. als Vater, Mutter oder als Lehrer und Erzieher hat man oft den Eindruck, dass es den Kindern gar nichts ausmacht, wenn sie geschimpft oder gestraft werden. Vielleicht denken die einen oder anderen Erwachsenen auch, dass ADHS-Kinder diese negativen Rückmeldungen ihrer Umwelt gar nicht so richtig wahrnehmen.
Die Vorstellungsübung hat in unseren Elterntrainingsgruppen sehr viele Emotionen ausgelöst. Manche Mütter haben geweint, da ihnen zum ersten Mal wirklich deutlich wurde, dass ihre Kinder nämlich nicht nur cool sind, sondern, dass sie sich oft sehr schlecht fühlen, dass sie traurig sind, dass sie sich unverstanden fühlen, dass sie sich hilflos fühlen.
An dieser Stelle geht es nicht darum, Ihnen als Müttern und Vätern Schuldgefühle zu machen. Aber diese Vorstellungsübung erscheint uns eine ganz wichtige Grundlage dafür zu sein, sich in die Kinder hineinzuversetzen und wahrzunehmen, dass die vielen negativen Rückmeldungen – die Strafen, das Schimpfen, die Ermahnungen –, die sie erhalten, deutliche Spuren in ihrer Seele hinterlassen. Sie haben Auswirkungen auf das Selbsterleben, das Selbstbild und das Selbstwertgefühl der Kinder. Die Vorstellungsübung hat damit in erster Linie das Ziel, dass Sie als betroffene Eltern die Bedeutung der Form Ihres »Feedbacks« für Ihr Kind besser einschätzen können.
Abb. 1.4: Plakat – Eltern werten ihre Phantasiereise aus
2.3 Die Positivliste: Heute ist mir an … positiv aufgefallen – eine Beobachtungsaufgabe
Mit der Vorstellungsübung haben Sie die Beobachtungsaufgabe, positives und negatives Zuwenden zu zählen, ergänzt. Von der zweiten Woche an können Sie nun mit unserem nächsten Experiment beginnen: dem Einüben einer »positiveren Brille«. Zusätzlich zu Ihrer »Strichliste« notieren Sie täglich, vielleicht am Abend, was Ihnen positiv an ihrem Kind aufgefallen ist.
Protokollbogen
Arbeitsblatt 1.6: Protokollbogen – Was mir heute positiv an meinem Kind aufgefallen ist
2.4 Auswertung der »Strichliste«
Versuchen Sie sich, wenn möglich, wieder über diese Aufgaben auszutauschen. Aber auch wenn Sie allein sind, macht es Sinn, sich Zeit zu nehmen und noch einmal bewusst über die gemachten Erfahrungen nachzudenken.
Kommen wir nun zu Ihrer ersten Aufgabe, dem Zählen der positiven und negativen Rückmeldungen, Ihrer täglichen »Strichliste« (
Wie sehen Ihre Kurven aus? Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich Ihre beiden Kurven anschauen? Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf, falls die Kurve mit dem negativen Zuwenden deutlich über der Kurve mit dem positiven Zuwenden liegt?
Vielleicht sind Sie auch erstaunt, wenn Sie feststellen, dass die Kurve mit den positiven Rückmeldungen »besser« ausfällt als die mit den negativen Rückmeldungen. Vielleicht nehmen Sie auch eine Veränderung der Kurven von der ersten zur zweiten Woche wahr. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie in der ersten Woche deutlich mehr negative Striche gemacht haben als in der zweiten Woche.
Im Folgenden möchten wir Ihnen wiedergeben, wie die Erfahrungen mit dieser Hausaufgabe, der Strichliste, in den Elterntrainingsgruppen waren. In der folgenden Äußerung einer Mutter spiegelt sich ein Bewusstwerdungsprozess wider, der mit dieser Beobachtungsaufgabe auch angestrebt war. »Ich habe genau gewusst, was sie wollten, obwohl sie es nicht gesagt haben. Mit der Aufgabe zielten Sie auf die Selbstkontrolle ab. Ich habe mich dann auch mehr zurückgehalten. Meine Tochter hat daraufhin gemeint: »Mama, du bist ja gar nicht mehr meine Mama« (im positiven Sinne: »Du schimpfst ja nicht mehr so viel.«).
Eine andere Mutter berichtete: »Ich achtete bewusster auf positive Äußerungen – ich wollte mir mehr positive Striche geben können. Von meinem Kind habe ich das Positive dann auch wieder zurückbekommen – es lief deutlich besser.«
Wiederum eine andere Mutter erzählte: »Ich fühle mich jetzt entlastet. Ich habe festgestellt, dass ich mich ja gar nicht so häufig negativ äußere, das Positive überwiegt, aber in meiner Erinnerung bleibt häufig nur das Negative hängen«.
Ein Vater sagte: »Ich war darüber erschrocken, wie häufig negative Äußerungen von mir kamen.«
Im Folgenden seien noch ein paar weitere Zitate wiedergegeben:
• »Die Strichliste hat mich wach gerüttelt, man denkt mehr über das eigene Verhalten nach. Man lobt bewusster. Kleinigkeiten würdigt man jetzt eher. Wenn ich mich positiver verhalte, kommen auch positive Reaktionen vom Kind zurück.«
• »Es läuft besser, wenn man sich selbst mehr Zeit nimmt. Die Augen werden einem geöffnet, man