Herzheimat. Daniela Mailänder
Und ich begann zu ahnen, dass die Ordensschwester vielleicht recht haben könnte: Ich hatte meine innere Heimat verloren.
HERZHEIMAT
Mein Herz hatte also sein Zuhause verloren. Oder hatte ich nur den Weg dorthin vergessen? Was bedeutet es, heimatlos zu sein? Und gibt es so etwas wie eine Herzheimat? Wie sollte ich wieder zu mir selbst finden, zu einem Ort der inneren Sicherheit und zu einem Gefühl der Geborgenheit? Und was hatte das alles mit Jesus zu tun?
»Du bist nicht in dir zu Hause!« Dieser Satz brodelte in mir und ließ mir keine Ruhe. Die nächsten Tage und Wochen begann ich nachzudenken. Und zu fragen: Wenn ich mein Zuhause verloren haben sollte, was um alles in der Welt bedeutete dann »Heimat«? Ich fragte und las.
Es gibt wohl keine eindeutige Begriffsbestimmung für das Wort »Heimat«. Mir kommen Bilder, Gerüche, Geräusche, vertraute Stimmen, der Geschmack vom Lieblingsessen in den Kopf. Heimat kitzelt unsere Sinne. Schon alleine das Knarren des Gartentores, die vertrauten Biegungen an der Straße, der Geruch von reifen Äpfeln erinnern mich an mein Zuhause.
Freunde aus Eritrea, die fliehen mussten, lieben die vertrauten Gewürze aus der Heimat. Kaffee aus dem Herkunftsland. Bekannte Gerüche, die durch die Küchen ziehen.
Heimat ist der Rhythmus der Stadt. Den Takt geben die Straßenbahn, die anfahrenden Autos an der Kreuzung und das Klappern der Rollläden am Abend vor.
Syrische Freunde schwärmen von den großen Kulturstätten ihres Landes. Mit glänzenden Augen erzählen sie von Bilderbuchlandschaften, freundlichen Menschen und bunten Basaren. Von Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Kunst. Sie berichten von Festen und Feiern. Und von den Früchten der Landwirtschaft, Spezialitäten und dem Wetter zu Hause. Es sind ihre Sinneserinnerungen, die sie mit der Heimat verbinden.
So oft vergessen, verdrängen wir die negativen Erinnerungen. Vielmehr denken wir an die heile Welt und »die gute alte Zeit«. Große Gefühle wie Vertrautheit, Sicherheit und Geborgenheit werden in uns wach. Ich ahne, dass deshalb auch in Deutschland die Trachtenmode, Dialekte und Heimatgefühle wieder groß in Mode sind.
Und dann fallen mir Gesichter ein. Heimat sind die Menschen, die mir Vertraute sind. Heimat ist, wenn ich die Haustüre aufmache und mir meine Kinder in die Arme springen und mir das neueste Kindergarten-Kunstwerk unter die Nase halten. Heimat ist es, mit meinen besten Freunden zum Tanzen zu gehen. Heimat ist, wenn ich mit meinem Mann bei Sonne und Schnee auf einem Gipfel stehe und wir die Ski ans Gipfelkreuz lehnen. Heimat ist mein Lieblingsvater und meine Lieblingsmutter. Heimat ist die Kollegin, der Kletterpartner und der Vereinskamerad.
Heimat sind Menschen, unabhängig von dem Ort, an dem ich mich befinde. Ich muss mich ihnen nicht erklären. Keine Rolle spielen. Da gibt es Leute, die mich kennen und wissen, wer ich bin. In meinem Heimatdorf war ich immer »die älteste Tochter des Schreiners«. Menschen, die gerne Zeit mit mir verbringen, muss ich nicht erklären, wann es Zeit zum Gehen ist. Rollen sind zugewiesen. Wer ich bin, ist diesen Menschen klar. Und mir in ihrer Gegenwart auch. Darin finde ich mich wieder. Ich kann »ich« sein.
Manche Rollen werden zu eng. Meine Identität ist dann festgelegt. Das kann sich auch festfahren. Aber das große Gefühl bleibt: Identität. Wissen, wer ich bin und wohin ich gehöre. Begrüßt werden. Einen Namen haben.
Heimat ist es, die »Muttersprache« zu sprechen. Heimat ist dort, wo man mich versteht. Ich verstehe andere. Und ich kann Worte benutzen, wie sie mir in den Sinn kommen. Wenn ich tagelang in einer Fremdsprache reden muss, merke ich, wie ich müde werde. Mir gehen die Worte aus. Oder ich benutze immer dieselben. Ich kann nie genau das ausdrücken, was ich wirklich meine. Dagegen ist Dialekt: Ur-Heimatsprache.
Heimat ist, wenn die Worte fließen, mir leicht über die Lippen gehen und ich am Blick des anderen völlig selbstverständlich erlebe, dass er weiß, was ich meine. Und wenn es nur der Wunsch um eine Scheibe Gelbwurst beim Metzger ist.
Heimat ist Kultur. Warum schmatzen Chinesen beim Essen, warum schaufeln dir Pakistaner den Teller mit Essen voll, warum fasten Muslime an Ramadan, warum feiert die Braut bei uns in Weiß? Woher kommt der Schuhplattler und wie viele Begrüßungsrituale gibt es eigentlich?
Heimat ist dort, wo ich diese Fragen beantworten kann. Oder sie für mich keine Fragen sind. Weil sie Selbstverständlichkeiten sind, die zum Leben gehören. Sie geben den Rhythmus vor und sie verbünden Menschen. Rituale, Begrüßungsformen, Musik, Feste und Gepflogenheiten schaffen Sicherheit, Zugehörigkeit und sie bringen beides: Ruhe und Farbe ins Leben.
Heimat ist außerdem geografisches Wissen. Ich weiß, welcher der beste Bäcker ist, wann der Gottesdienst beginnt, wo das nächste Auswärtsspiel des Heimatvereins stattfindet. Heimat ist die Selbstverständlichkeit, ins Auto oder in die U-Bahn zu steigen und zu wissen, wohin ich fahren muss. Ohne Navi. Einfach, weil ich mich auskenne. Die Straßennamen, Öffnungszeiten und wohin welcher Weg führt, sind mir vertraut. Heimat ist, dass Selbstverständlichkeiten den Alltag prägen.
Heimat ist also mehr als nur ein Ort auf der Landkarte. Sie ist Identität, Selbstverständlichkeit, Sprache, Rhythmus, Rituale, Sicherheit, Menschen, Zugehörigkeit, Wissen, Vertrautheit, Kenntnis, Sinnlichkeit, Ruhe und gleichzeitig Farbe im Leben. Und genau das alles hatte ich offensichtlich verloren. Ich war zur Heimatlosen geworden. Innen drin.
WAS IST DAS HERZ?
Was ist das »Innendrin«? Immer noch in der kleinen Kammer bei der Ordensschwester wollte ich wissen: »Was ist das Herz?« Mal abgesehen davon, dass das körperliche Organ das Blut hin- und herpumpt. Was ist das Herz in der anderen, der weiteren Hinsicht? Wie kann man dort die Heimat verlieren?
Sie wiegte ihren Kopf hin und her: »Dein Herz ist die Tiefe deines Wesens. Wir leben aus dieser Tiefe. Was dein Herz prägt, das prägt dich. Wie du mit deinem Herzen, deinem tiefsten Wesen, umgehst, entscheidet über alles andere: dein Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden, Wollen. Dein Herz hat Einfluss auf deine Seele und sogar auf deinen Körper.«
So ähnlich sagte sie das. Ich habe in der folgenden Zeit noch mehr entdeckt und Geheimnisse gelüftet. Mein Herz ist der »geistliche Kern«1, der Mittelpunkt. Was in unserem Herzen ist, das hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wer wir sind, wer wir werden und was aus uns wird. Sonderbar. In vielen Jahren Theologiestudium und Predigten, die ich überall hielt, war mir das nie so deutlich vor Augen gewesen.
Die weisen hebräischen Denker sehen im Herz den Sitz der Gefühle, das Wohnzimmer der Vernunft und die Schlafstätte des Wünschens und des Wollens. Das alles wird von dort aus gesteuert. Wie es um mein Herz bestellt ist, prägt alles an mir: Identität, Charakter, Persönlichkeit. Mein Herz bin im tiefsten Wesen ich selbst. Die Tatsache, dass ich meine Heimat in meinem eigenen Herzen verloren hatte, traf mich jetzt umso härter.
HERZENSFLÜCHTLING
Ich war zu einem Flüchtling geworden. Zu einem Herzensflüchtling. Ich war auf der Flucht. Vor mir selbst. Vor Entscheidungen. Vor Ruhe. Vertrieben hatte mich die Angst. Die Angst, etwas Falsches zu tun. Oder etwas Wichtiges nicht zu tun. Ich hatte mich zwischen den Bildern über mich selbst und den Bildern, die andere von mir hatten, verloren. Und deshalb war mein Denken, Fühlen, Handeln, Wollen ein pures Chaos geworden.
Ich habe Menschen kennengelernt, denen es genauso geht. Auch sie sind Herzensflüchtlinge. Sie sind vertrieben aus ihrer Herzheimat. Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Platz in dieser Welt? Bin ich auf dem richtigen Weg? Wie finde ich das Gefühl der Geborgenheit? Warum bin ich innerlich getrieben? Warum komme ich nie an? Habe ich mich richtig entschieden? Warum weiß ich, was zu tun ist, bringe es aber doch nicht fertig? – All diese Fragen bewegen sie.
Das Gefühl, etwas Entscheidendes im Leben zu verpassen, bestimmt sie. Sie sind nie an dem Ort, an dem sie eigentlich sein wollen. Sie tun Dinge, die sie eigentlich nicht wollen. Oder zweifeln an den Dingen, die sie tun. Auch sie sind Vertriebene der Angst. Der Angst, auf dem falschen Weg zu sein oder eine wichtige Sache im Leben zu verpassen.
Sie haben sich selbst verloren. Ihre Identität. Sie wissen nicht,