MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken. Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken - Robert Mccammon


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erwiderte Tully, entweder mit Tränen oder geschmolzenen Schneeflocken auf den Wangen, »was für ein Pirat eine Ladung Zucker stiehlt und alles andere völlig unberührt lässt?«

      »Wie bitte?«

      »Welcher Pirat«, wiederholte Tully, »stiehlt Zucker? Meinen Zucker. Die dritte Ladung in drei Monaten. Aber Dinge, von denen man denkt, dass jeder Gauner der Meere sie in seinen bodenlosen Topf der Gier werfen würde, bleiben unberührt da, wo sie sind! Wie das Silbergeschirr des Kapitäns oder die Pistolen und Pulver, und alles andere, das einen Wert hat und nicht an Deck festgenagelt ist! Nein, dieser Freibeuter raubt einzig und allein meinen Zucker! Fässerweise! Und ich bin nicht mal der Einzige davon Betroffene! Micah Bergman in Philadelphia ist es ebenfalls passiert, und den Pallister-Brüdern in Charles Town auch! Also denkt für mich darüber nach, Gentlemen … Warum ist eine Ratte des Meeres darauf aus, mir zwischen Barbados und New York meinen Zucker zu stehlen? Und nur den Zucker?«

      Außer einem Schulterzucken hatte Greathouse keine Antwort zu bieten. Deshalb sprang Matthew in die Bresche. »Vielleicht, um ihn weiterzuverkaufen? Oder um …« Jetzt war es an Matthew, die Achseln zu zucken. »Einen gewaltigen Geburtstagskuchen für den König zu backen?« Kaum, dass er es gesagt hatte, wusste er, wie dumm das gewesen war. Greathouse erlitt einen plötzlichen Hustenanfall und musste sich abwenden, während Solomon Tully aussah, als hätte ihm sein treuester Hund soeben ans Bein gepinkelt.

      »Matthew, das ist nicht zum Lachen«, sagte der Zuckerkaufmann mit einer Pause zwischen jedem Wort wie kalte Erde zwischen Gräbern. »Das ist mein Leben!« Die Nachdrücklichkeit, mit der Tully das Wort aussprach, verursachte ein Knirschen in seinem Mund. »Mein Gott, ich verliere haufenweise Geld! Ich habe eine Familie zu ernähren! Ich habe Verpflichtungen! Dinge, von denen Ihr Gentlemen, soviel ich weiß, nichts kennt. Aber ich werde Euch etwas sagen … irgendetwas ist an diesen Vorfällen äußerst sonderbar. Und Ihr könnt lachen, soviel Ihr wollt, Matthew, und Ihr könnt Euer Lachen hinter Husten verstecken, Mr. Greathouse, aber diese ständigen Zuckerdiebstähle haben mit etwas Bösem zu tun! Wo der Zucker hingeht und warum, weiß ich nicht, und das treibt mich in den Wahnsinn! Habt Ihr nie vor etwas gestanden, das Ihr unbedingt wissen musstet und das Euch innerlich mit dem Drang zerrissen hat, es herauszufinden?«

      Greathouses »Nie« kollidierte prompt mit Matthews »Ständig«.

      »Die zweiköpfige Antwort einer einköpfigen Kreatur«, stellte Tully fest. »Jedenfalls sage ich Euch, dies ist ein Problem, das gelöst werden muss. Ich erwarte natürlich nicht, dass Ihr eine Seefahrt zu den Zuckerrohrinseln unternehmt, aber könnt Ihr nicht darüber nachdenken und mir erklären, warum das passiert? Und welche Maßnahmen ich treffen kann, um zu verhindern, dass es nächsten Monat wieder geschieht?«

      »Es liegt ein wenig außerhalb unserer Expertise«, meinte Greathouse. »Aber ich würde vorschlagen, dass die Besatzung die Pistolen und das Pulver bei sich trägt, das vermutlich in einer Kiste unter Verschluss gehalten wird, und damit den Piraten das Gehirn rauspustet. Das sollte das Problem lösen.«

      »Ein sehr guter Ratschlag, Sir«, sagte Tully mit ernster Miene und einem kurzen Nicken. »Und sicherlich würde die Besatzung diesen Ratschlag in ihrem nassen Grab zu schätzen wissen, da die verdammten Seeräuber schon bewiesen haben, dass Kanonen gegen Pistolen an jedem Tag gewinnen, selbst am Sonntag.« Er berührte die Krempe seines Dreispitzes mit dem Zeigefinger. »Ich gehe jetzt nach Hause und genehmige mir einen Grog. Und wenn aus dem einen Grog zwei oder drei oder mehr werden, dann sehe ich Euch irgendwann nächste Woche wieder.« Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich zu seinem feinen Haus in der Golden Hill Street auf. Bald darauf war er nur noch eine schemenhafte Gestalt im Schneegestöber, und dann gab es nur noch Schnee und keine Gestalt mehr.

      »Ich brauche auch einen Grog«, sagte Greathouse. »Wie wär’s, wenn wir im Gallop vorbeischauen?«

      »Von mir aus gern«, sagte Matthew. Vielleicht konnte er dort eine Partie Schach spielen und sein Gehirn dazu bringen, so zu arbeiten, wie es sollte.

      »Braver Mann«, sagte Greathouse.

      Als sie nebeneinander in Richtung Crown Street gingen, fügte er hinzu: »Du zahlst.«

      Kapitel 5

      Vier Tage, nachdem Hooper Gillespie einen Barsch gefangen hatte, wurde ein allgemein bekanntes Gebäude an der Ecke von Crown und Smith Street von einer Explosion zerrissen – am dreiundzwanzigsten Februar gegen halb ein Uhr morgens, so schätzte man. Die Sprengkraft war derartig stark, dass das Dach in brennende Teile zerrissen wurde, die in die Luft flogen und mitten auf der Straße niederfielen. Die Fensterläden und die Tür wurden hinausgerissen. Die Glasscheibe des Schaufensters fand man später in der Holzwand des Red Barrel Inn eingebettet, das einen Schlag abbekam, der die letzten drei Betrunkenen in der Schänke denken ließ, Gottes Faust sei auf der Suche nach ihren Sünden. Das Gebäude an der Ecke der Crown Street entflammte sich mehr wie von einem Blitzschlag oder wie eine mit Schweinefett umwickelte Fackel, als dass es auf altvertraute Art brannte. Der Lärm der Explosion warf alle Menschen von Golden Hill bis zur Wall Street aus dem Bett, und selbst das spätabendliche Amüsement bei Polly Blossom in der Petticoat Lane wurde vom Knall unterbrochen, der widerhallend durch die Stadt jagte.

      »Was ist jetzt!?«, schrie Gardner Lillehorne und setzte sich im Bett neben seiner Princess auf, deren Gesicht mit einer grünen Creme beschmiert war, die selbst der hässlichsten Frau von Paris die Schönheit wiederschenkte.

      »Zum Teufel mit dem Lärm!«, brüllte Hudson Greathouse und setzte sich im Bett neben einer gewissen großen, blonden Witwe auf, die schon seit langem vergessen hatte, was das Wort »Nein« bedeutet.

      »Oh Gott, was war das?«, fragte Madam Cornbury und setzte sich neben ihrem unter der Steppdecke zusammengerollten Mann auf, dessen Ohren mit Korken zugestopft waren. Denn manchmal wachte er von seinem eigenen Schnarchen auf.

      Und Matthew Corbett setzte sich wortlos in seinem kleinen, aber ordentlich aufgeräumten Kühlhaus auf. Neben den zwei Kerzen, die er nachts brennen ließ, um die Dämonen von Slaughter und Leka fernzuhalten, entzündete er eine dritte Kerze. Vom Licht ermutigt sprang er aus dem Bett, zog sich an und bereitete sich auf das Schlimmste vor – denn er hatte das sichere Gefühl, dass diese Explosion etwas Wichtigeres als eine Lagerhalle voller Seile getroffen hatte.

      Die Flammen loderten äußerst heiß. Die Nacht war voller Funken und Rauch, orange erleuchtet wie ein Morgen im August. Die Löschbrigaden arbeiteten fieberhaft. Sie taten ihr Bestes, aber bald mussten sie sich um die benachbarten Häuser kümmern, damit das Feuer sich nicht ausbreitete.

      Und so starb die Schneiderei, die von Benjamin Owles und seinem Sohn Effrem betrieben wurde.

      In ihren letzten Momenten hustete sie Feuer und spuckte Asche, und Matthew, der neben Effrem in der Menge stand, beobachtete, wie erst eine schwarz verrußte Ziegelsteinmauer zusammenbrach und dann die nächste, bis die Steine alles begruben, was im Leben der Owles-Familie Erfolg bedeutet hatte.

      »Es ist vorbei«, hörte Matthew seinen Freund ganz leise sagen. Matthew legte ihm seine Hand auf die Schulter, aber angesichts einer so großen Tragödie war es eine zu kleine Geste. Ein paar Schritte weiter starrte Benjamin Owles in die flackernde Glut; bis jetzt war er unbewegt geblieben, doch nun war das Ende da und Tränen begannen ihm über das Gesicht zu laufen.

      Plötzlich fuhr die versammelte Menge zusammen. Matthew spürte es, als würde ihm jemand mit einem Messer das Rückgrat hinunterstreichen. Irgendjemand rief etwas quer durch die Crown Street, aber was es war, ließ sich nicht verstehen. Matthew schien von einem Murmeln umgeben zu sein wie von einem geflüsterten Geheimnis, in dessen Mitte er selber stand. »Was ist los?«, fragte Matthew den Silberschmied Israel Brandier, der rechts neben ihm stand, aber Brandier musterte ihn durch seine Hornbrille und sagte nichts. Die Wäscherin Jane Neville neben Brandier sah ihn ebenfalls mit einem Gesichtsausdruck an, den man nur als beunruhigt zweifelnd beschreiben konnte. Matthew hatte das Gefühl, in einem Traum aus rauchgrauen Schattierungen und roter Glut gefangen zu sein. Die Gestalten um ihn herum waren nicht eindeutig menschlich, sondern verschwommen.


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