Die Lobensteiner reisen nach Böhmen: Zwölf Novellen und Geschichten. Alfred Doblin
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Alfred Döblin
Die Lobensteiner reisen nach Böhmen: Zwölf Novellen und Geschichten
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066116811
Inhaltsverzeichnis
Vom Hinzel und dem wilden Lenchen
Die Lobensteiner reisen nach Böhmen
Linie Dresden-Bukarest
Vor der Abfahrt des Zuges lächelte Frau Barinianu auf dem Bahnhof Bukarest. Ihr Mann der Oberst, neben ihr promenierend, schob einen Zeitungsausrufer beiseite, blähte die Nase, straffte seinen Uniformrock, indem er seinem kolossalen Brustkasten einen scharfen Ruck gab: „Liebe Cesarine, ich weiß, daß du von einer Last befreit bist, aber wir sind auf dem Hauptbahnhof und du gehst in Trauer. Es brauchen nicht alle Leute sehen, daß dir mein seliger Vater nichts bedeutet hat.“
Sie nahm sich kaum zusammen; mit heiter verwirrtem Ausdruck hauchte sie hinter ihrem schwarzen Schleier: „Verzeih, ich geh heute zum ersten Male ein paar Schritt.“
Er zog ein Portefeuille mit braunen Banknoten aus der Brusttasche. Als die Maschine pfiff, rief er ins Coupéfenster hinauf, sie solle gleich ein paar Aussteuersachen für Matilda in Dresden besorgen. Die Wagen rollten. Der Oberst klappte etwas zusammen. Sie winkte und nickte. Er, träumerisch mit dem Säbelknauf spielend, fuhr in der Kalesche ins Kasino zum Festdiner.
Frau Barinianu saß in dem schmetternden Zug auf dem roten Polster der ersten Klasse. Das Coupé leer. Runde Backen hatte sie und sehr kleine Füße in grauen Gamaschen. Der Hut neben ihr rutschte vom Sitz; sie beugte sich zur Seite, um ihn festzuhalten. Sich aufrichtend sah sie im Rundspiegel drüben, daß das Haar ihr über die Stirn gesunken war und vor der koketten Nase wehte, ebenholzschwarz und ohne einen einzigen grauen Faden. Dunkler Flaum auf der Oberlippe. Das Gesicht gerötet und weiß und so kindlich lebendig, daß sie sich freudig zurücklehnte, den Hut hinuntergleiten ließ und die metallstrahlenden Augen schloß. Den Gang kamen dauernd Menschen herauf, Kinder sprangen vorbei, der Kellner warf eine Speisekarte herein. Sie gähnte und zog sich die langen Lederhandschuhe ab.
Herr Fortunesku stieg in Plojescht ein und sah sie sitzen. Er schlenkerte in seiner ausbaldowernden Art herum und drückte sein breites Gesicht draußen viermal gegen die Scheibe. Seine durchgestoßenen Hosen rutschten hoch. Als der Kontrolleur vorbeikam, las er angestrengt die Bestimmungen über das Verhalten des Publikums bei Unglücksfällen. Mit festem Entschluß sagte er: „Diese oder keine.“ Er ging mit seinem Köfferchen auf die Toilette, zog sich um, eleganter, etwas knapp sitzender Cutaway, schwarze Samtweste, gestreifte braune Hosen, eng um die Kniee. Das braune Haar klebte er mit Wasser in dünner Lage auf den Schädel. Gebürstet, mit übertriebenen Bewegungen, die seine athletischen Muskeln hervortreten ließen, spazierte er in das Nachbarcoupé Cesarines.
Während sanfter Fahrt stürzte plötzlich der Dame eine Hutschachtel über die Arme und knallte vor ihre Füße. Sie schrie leise auf, sah über sich. Die Türe des Abteils öffnete sich; ein gescheitelter Kopf streckte sich vor: „Was ist? Um Gottes willen, ich eile zu Hilfe. Oh!“ Und Herr Fortunesku sammelte den Deckel, den Hut und die Apfelsinen auf, die unter die Sitze gerollt waren; auch ein langer Lederhandschuh lag da. Sie rückte in die Ecke, als er um ihre Füße herum tastete. Er stellte sich mit glatten Worten als Verlagsdirektor aus Jassy vor, jawohl aus Jassy. Er schnalzte, flüsterte, schmatzte, schon am Boden, in einer naiven Art. Es sei eine zu lächerliche Geschichte; sie sei ihm schon mal passiert, vor vier fünf Monaten, hinter Braila, zwischen Lanza und Braila; doch damals sei es keine Hutschachtel gewesen, sondern in der Hutschachtel eine Bombe, so groß wie ein Schneeball oder eine gewisse Sorte von Zwergäpfeln; freilich sei sie nicht explodiert, die Bombe; es hat ja auch in der Zeitung davon gestanden. Aber dieser Knall, es war unvergeßlich. Und so sang er bis Kronstadt in Ungarn, wo er ihr ein Glas Milch brachte. Er beteuerte, daß sich manche Damen bei dem Sturz von Hutschachteln verletzten; aber diese hätten dann weniger volles Haar, als die Gnädige. Langes Haar mache es nicht, es müsse auch volles sein.
Wie er sich vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Gepäckhalter bewegte, entwickelte er eine außerordentliche Grazie. Er hatte großartige formvolle Bewegungen. Sie verfolgte ihn aus ihrer Ecke mit den Blicken und sagte es ihm. Er verkroch sich geschmeichelt in seinen Halskragen, so daß sie erstaunte. Er sei nämlich Turner, Springer, Fechter, Stafettenläufer, natürlich im Nebenberuf aus Sportleidenschaft. Auch wette er gelegentlich bei schöner Sommerluft, alles Temperamentssache. „Und was sind Sie im Hauptberuf?“
„Verlagsdirektor, meine Gnädige, ich sagte es schon.“
„Ah so.“
„Ich verlege Zeitungen, Broschüren, Bücher, am liebsten aus meinem Interessengebiet. Turnen geht mir über alles; Müllerei, Müllerei erhält mich. Sehn Sie so —“
Er begann eine Kniebeuge zu machen und den Rumpf zu verdrehen.
„Und sehen Sie so.“
Sie prustete heraus und versteckte sich hinter ihrer Muffe.
„Meine Übungen scheinen Sie zu belustigen.“
„Nein, Ihr Ärmel ist ja geplatzt.“
Er erstarrte, wurde lang: „Ah so, schlechter Stoff. Ziehen wir aus. Gestatten Gnädige?“ Noch als der Rock lag, boxte er ihn mit mißtrauischen beleidigten Mienen: „Ziehen wir aus. Ein unerhörter Stoff. Gekauft in Braila; schlechte Industrie, wo die Stoffe platzen.“
Er agierte in Hemdsärmeln langsam weiter, öfter mit Blicken auf den Rock. Als sie ihn aufforderte, sich zu ruhen, machte er einen beschämten Hüpfer ans Fenster: „Es ist dieselbe Stadt, wo die Bombe fiel. Dieser Ort ist mir verhängnisvoll. Ich ruhe jetzt, meine Gnädige.“
Er plumpste keuchend auf den Sitz ihr gegenüber: „Nun ruhe ich.“
Inzwischen rutschte unter seinen Hemdsärmeln ein braunes dickes Flanellhemd an den Knöcheln vor; leicht errötend nahm sie die Jacke auf, legte sie ihm über: „Sie sind Junggeselle, Herr Fortunesku?“
Sein