Mal ehrlich. Christina Hecke

Mal ehrlich - Christina Hecke


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Sie werden lesen, dass ich diesem Buch mein Leben als roten Faden zugrunde gelegt habe. Das soll aber weniger dem Zweck dienen, Ihnen mein Leben zu erzählen, um mich darzustellen, sondern vielmehr dazu, Phänomene unseres Zusammenlebens exemplarisch zu betrachten. Verstehen Sie dieses Buch gerne als ein Angebot. Es ist kein wissenschaftlicher Abriss. Kein angelesenes Wissen. Wenngleich das Leben mir als Ort des Studiums gedient hat. Es ist zum Anfassen. Es ist mein Angebot an Sie.

      Ein ehrliches.

      Sie mögen es in Ihren Warenkorb legen, vielleicht nur einzelne Kapitel oder nur eine Zeile lesen. Oder Sie entscheiden sich, es gänzlich zu verachten oder zu ignorieren. Es ist Ihre Wahl. Richtig oder falsch erlaube ich mir in diesem Zusammenhang auszuklammern, da diese Bewertung weder für Sie noch für mich irgendeinen Sinn hätte. Es wäre nichts weiter als eine Erhöhung oder Erniedrigung, je nach Perspektive auf Sie oder mich.

      Ich hätte Sie, mich, all diese Erkenntnisse und meine Liebe zum Leben und allem, was uns eint, verraten, hätte ich mich nicht eines Tages hingesetzt und angefangen zu schreiben. Es wäre mir als Zurückhaltung – wenn nicht gar Verantwortungslosigkeit – erschienen, es nicht zu tun. Eine Missachtung dessen, was wir sind: Liebe. Nicht romantisch, nicht verklärt, nicht Hollywood. Sie ist purer Respekt, Harmonie, Stille – und damit eine wahre Freude. Eine lebendige Leichtigkeit und keine Behauptung. Diese Liebe ist aus meiner Sicht die Basis, das Fundament für Ehrlichkeit und bietet damit das ­Potenzial zu einer gemeinsamen Wahrheit zu finden. Sie ist warm und haltend. Und vor allem: absolut! Sie existiert. In Ihnen. In mir. In jeder und jedem. Auch wenn wir das manchmal bezweifeln.

      Ich danke Claudia Lueg vom Patmos Verlag, dass sie mich dazu angestoßen hat zu schreiben und unterwegs eine stete Begleitung in diesem Prozess gewesen ist. Serge für seine bedingungslose Reflexion. Und vor allem meiner Frau Stefanie.

      Aller Anfang …

      … beginnt mit dem ersten Schritt. Wir könnten sagen, dass hier auf dem Planeten doch eigentlich alles ganz gut läuft. Wir sind organisiert, strukturiert und funktionieren ganz gut. Und das, was nicht so gut funktioniert, sind wir stets bemüht zu thematisieren und zu verbessern. Eigentlich … Da schwingt schon mit, was den Kern der Sache unmittelbar trifft. Es ist nämlich doch alles irgendwie dissonant. Ein Verbessern, das haben wir tausendfach aus unserer Geschichte gelernt, ist noch keine Richtungsänderung. Das ist, wie ein altes Haus wieder und wieder zu renovieren, aber die morschen Balken werden doch irgendwann brechen. Da hilft auch die schönste Farbe nichts. Dabei sind wir zwar bereit, den ein oder anderen Grundpfeiler auf seine Stabilität zu überprüfen, aber das Wagnis diesen Balken auch austauschen, gehen wir nicht ein. Manchmal muss man die Balken aber austauschen, um das Haus in eine neue Stabilität zu bringen. Das ist als wären wir zwar alle bereit loszulaufen – aber als hätten wir Angst oder kein Vertrauen, den ersten Schritt oder neue Wege zu gehen. In welche Richtung sollen wir laufen? Da sind wir orientierungslos. Gemeinsam?

      Hier geht es schon los, denn das Gemeinsame ist nicht mehr spürbar. Das Individuelle, das ausschließlich mit dem unmittelbaren Umfeld zusammenhängt, das ist uns vertraut. Aber das große Bild – das Wir im Zusammenhang – ist verschüttgegangen hinter einer Perspektive, die das eine Leben auf den Abschnitt zwischen Geburt und Tod reduziert. Auf eine endliche Existenz, in der jeder versucht, nur sein eigenes Ding best- oder schlechtmöglichst abzureiten. Das obliegt jedem selbst. Aus der Perspektive dieser Endlichkeit und damit einer linearen Existenz herauszutreten und zu fragen, »ob das wirklich alles ist?«, würde gleichermaßen die Frage aufwerfen: »Ist das bisherige Normale wirklich die einzige Wahrheit?« Wieso sollten wir uns dieser Frage überhaupt stellen? Läuft doch, irgendwie! Hm: ehrlich? Wir hatten noch nie so viel hochentwickelte Technologie wie zurzeit. Alle paar Monate gibt es neue Smartphones … Aber: Haben wir unser Zusammenleben mit dem gleichen Engagement weiterentwickelt und tatsächlich verbessert? Wir fliegen zum Mond und produzieren künstliche Intelligenz – aber haben wir psychische Erkrankungen, Krebs- und Suizidraten, Gewalt untereinander im Griff? Früher gab es den Marktplatz, auf dem Menschen öffentlich angeklagt und auf dem Schafott verbrannt wurden – heute gibt es Twitter und »Shitstorms« im Internet, und das mit dem Schafott erledigen manche dann selbst. Die Methoden im zwischenmenschlichen Umgang sind moderner geworden – aber das Prinzip ist dasselbe geblieben. In diesem Punkt sind wir maximal damit beschäftigt, diesen Grundpfeiler unseres Miteinanders beständig neu mit Farbe zu bepinseln, aber keinesfalls damit, diesen auszutauschen. Wir übermalen, was wir unbedingt erhalten wollen. Vielleicht ist er noch nicht morsch genug?

      Würden wir es wagen zu erkennen, dass es einer Restauration statt einer bloßen Renovierung bedarf, müssten wir grundsätzlich neue Wege gehen. Und dazu müssten wir einen ersten Schritt machen. Da dieser Schritt aber ins Ungewisse oder Unbekannte gewagt werden müsste, heißt es schnell: »Aller Anfang ist schwer!« Was genau ist eigentlich so schwer am ersten Schritt? Es liegt ein Wagnis darin. Mit einem Schritt in ein Gebiet vorzudringen, das eben keine Routine oder Erfahrungswerte vorweist. Augenscheinlich jedenfalls … Denn möglicherweise ist es auch so, dass wir eben doch schon eine Menge Erfahrungen gemacht haben und die »Angst« daher kommt, dass wir dem Braten nicht mehr so recht trauen. Wir projizieren schon unsere Bilder und Vorahnungen auf das vor uns Liegende oder haben auf die Verantwortung, die mit dem Betreten des neuen Terrains verbunden ist, von vornherein einfach keine Lust. Und: Zack – wird es uns leicht gemacht zu sagen: »Es ist schwer!« Und so wagen wir nichts. Klagen lieber an, statt einen Richtungswechsel zuzulassen. Gehen den Schritt nicht – raus aus der Routine, da sie doch bis hierher »ganz gut funktioniert«. Und mit dem, was nicht funktioniert, gehen wir dann eben um. Wir um – gehen es. Wir haben eine große Palette an Gründen und Entschuldigungen zur Hand, warum wir es nicht einfach wagen. Das Unbekannte nicht einfach nur auf uns zukommen lassen und dem Leben neu begegnen. Und sei es nur das Argument der »Angst vor der Unberechenbarkeit« … Das ist ein bisschen so wie mit Kolumbus und der Kugelgestalt der Erde. Wenn man nicht mal losläuft, wird man nie erfahren, was es sonst noch zu entdecken gibt. Was also von dem bisher Geglaubten Nonsens und was an Unerwartetem möglicherweise bereichernd ist …

      Mein erster Schritt in meine gegenwärtige Existenz, also eine weitere Runde auf dieser Welt zu wagen, beginnt auf eine Weise, die erstmal all diese negativen Befürchtungen bestätigt hätte. »Besser nicht loslaufen!« hätte die Warnung heißen können. Denn als ich auf die Welt komme, wird es für uns beide, meine Mutter und mich, erstmal »schwer« – so könnte man werten. Denn meine Mutter hätte bei meiner Geburt fast ihr Leben gelassen, da sich die Plazenta nicht gelöst und sie sehr viel Blut verloren hat. Meine Vorratskammer sozusagen oder die Küche (ein Ort an dem ich mich übrigens zeitlebens mehr als wohl fühlen werde), der uns beide verbindende Sack, den meine Mutter in diesem Fall wohl nicht so recht loslassen wollte. Genauer betrachtet: mich oder unsere Verbindung wohl nicht recht gehenlassen konnte. Ich komme also hier an und habe schon die Aufgabe, mich einer Situation stellen zu müssen »Mein Leben zum Preis eines anderen …?« Das ist doch mal eine großartige, erste Lernaufgabe! Selbst wenn mein kleiner, erster Schritt mit Mut und Freude gesetzt ist, so werde ich doch gleich mit der Erkenntnis konfrontiert: Andere hängen (im wahrsten Sinne des Wortes) auch damit zusammen. Und schon ist in diesem Bruchteil von Sekunden, in einem meiner ersten Atemzüge, das ganze Ausmaß des weltlichen Daseins offenbart: Es sind die Verletzungen, die Ängste und die möglichen Folgen, die wir zu meiden versuchen. Der stete Schrecken der drohenden Endlichkeit. Es ist ein bangendes, klammerndes Festhalten an einer einzigen Existenz. Ein weiterführendes oder übergreifendes Verantwortungsprinzip: unbekannt. Lieber halten wir uns an Begriffen wie »Schicksal« »Fügung« oder »Zufall« fest.

      Was aber, wenn alles zusammenhängt? Was, wenn meine Mutter durch meine Geburt lernen durfte, ihr Leben anzunehmen? Sich »unabhängig« zu machen? Was, wenn ich lernen durfte zu erkennen: »Ich bin nicht schuld«? Lernaufgaben, vor denen wir stehen. Folgen unserer Entscheidungen zu sagen: »Was gibt es diesmal zu lernen?« Nicht mehr und nicht weniger. Faire Verantwortungsverteilung, wie ich finde!

      Sie mögen sagen: »… da warst du doch noch so klein und kannst das alles gar nicht gewusst haben.« Ja, stimmt. Mit Wissen hatte das auch nicht viel zu tun. Aber mit Gewissheit. Meinem Gespür. Ich bin zwar noch winzig und habe gerade erst meinen ersten Atemzug getan, aber doch sind schon all meine Sinne voll ausgebildet.


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