Mal ehrlich. Christina Hecke
oft lange und erkenntnislos vor sich hin.
Meiner Reitleidenschaft folgt eines sonntäglichen Nachmittages ein Familienausflug irgendwo Richtung Eisenach, wo wir Doraldo – einen 1,80 Meter Stockmaß großen Fuchswallach – aus dem Polizeidienst gekauft haben und den ich ab diesem Tag zu meiner Wohlfühloase gemacht habe. Das war meine Lebensrealität. »Da kann ich sein.« Dachte ich. Ab dem Tag jeden Tag draußen, im Stall, in der Natur. Frei. So fühlt es sich an. Zwar kommen auch hier Druckwellen auf mich zu, denn einfach nur durchs Gelände reiten und die Seele baumeln lassen wird von außen auch wieder kritisch gesehen. Dressurreiten, Turniere besuchen, Springreiten. Egal. Hauptsache, es ist was mit Leistung. Zunächst versuche ich auch da mitzuspielen. Denn ich will ja mit anderen sein. Mit ihnen spielen. Mich mit ihnen messen. Ich bin ein Geselligkeitstier. Ein Rudelvieh. Also schmeiße ich mich auch da voll rein. Aber wieder spüre ich unter der Haut diesen kleinen Riss, den Spalt, der sich immer mehr vertieft. Irgendwas an all dem Zusammensein stimmt nicht. Wo ist die Wahrheit? Wo ist die Intimität in der Gemeinsamkeit – neben der Tatsache, dass wir in kleineren oder größeren Gruppen Dinge teilen? Ja, gut. Da trifft man sich. Aber ich suche immer nach dem tieferen, ehrlicheren Kontakt. Folgerichtig ist auch das mit den Turnieren für mich nix. Ich entziehe mich dem, so gut ich kann. Ein bisschen Unterricht muss sein, denn das Pferd muss auch trainiert bleiben. So heißt es. Doraldo hat Schwächen an den Hufen. Das erfordert eine gewisse Aufmerksamkeit und eine spezielle Pflege. Ich erkenne, es ist nicht nur meine Rückzugsdomäne, mein stiller Support, ein Ort, an dem ich mich für eine Weile vergessen kann – ich muss auch was zurückgeben. Aktiv bleiben. Wachsam. Also gehe ich auch diszipliniert in die Reithalle. Während ich Ihnen das alles beschreibe, erschrecke ich selbst ein bisschen über das bereits unglaubliche Ausmaß der Entfremdung von mir selbst. Denn letztlich bin ich vor Menschen geflohen. Es ist auch eine Art Isolation, wenn man nur mit sich und einem Pferd durch die Welt trabt. Oder einem Hund. Wir sind Liebe-Suchende. Und die finden wir bei den treuen Gefährten, weil wir sie bei Menschen schon nicht mehr zu finden glauben. Ist das nicht erstaunlich …? Da bin ich bei der Geburt ein noch in der ärgsten Bedrohung ruhendes, sanft atmendes Wesen – und schon mit neun Jahren ein davon gänzlich degeneriertes Menschenkind. Und in diesem Aggregatszustand nicht die Einzige! Welche Entscheidungen wir also schon in jungen Tagen getroffen haben! Das gemeinsame Fliehen in die lineare (also weltliche) Realität und damit in die Ereignisse, wie Sport zum Beispiel oder Tatort-Gucken oder eben Pferdereiten, hat ja auch was Verbindendes. Aber das bleibt eben oft an der Oberfläche. Man teilt Ereignisse. Ja. Aber ob da wirklich Intimität, Austausch und eine wahre Begegnung stattfinden, bleibt oft fraglich.
Wie oft habe ich gehört, dass die moderne Psychologie angeboten hat, eine »Verantwortung« bei den Eltern, den Geschwistern, den Lehrern – eben sämtlichen äußeren, menschlichen Einflüssen – für die individuelle Entfremdung zu suchen. Meine Güte: Wozu? Verantwortung liegt bei mir selbst. Das hätte ich gern mal gehört. Aber eben nicht nur als Disziplinarmaßnahme oder Wellnessprogramm einmal pro Woche. Sondern als ehrliches Lebensmodel. Eine gelebte Wahrheit, an die ich mich hätte anlehnen können, um mich wieder an mir selbst anzudocken. Es war stattdessen meine Wahl, unter den Urteilen, den Manipulationsversuchen und Zurückweisungen durch Dritte nach und nach einzuknicken und langsam, aber sicher, ebenfalls in den Mitmachmodus abzugleiten. Und woher habe ich das? Na, von den anderen. Durch die Reflexion, dass das eben der Weg ist, den wir gehen. Dass so das Mensch-Sein funktioniert. Wir haben ja ein anderes, großes Spielfeld, auf dem wir alle Platz haben: das Feld des Wettkampfes. Da messen wir uns eben in Fragen rund um Erfolg, Geld, Lebensqualität, Aussehen etc. Nur wer sich selbst wertschätzt, muss sich nicht messen. Und der kann das auch in anderen wieder wachrütteln. Aber das finde ich eben nicht …
Ich will mein Leben rückblickend gar nicht schwarzmalen. Ich hatte ja bei alldem einen Heidenspaß! Je mehr ich von mir weg bin, desto mehr hatte mich das ganze Spiel am Wickel. Und es ist ja auch alles darauf ausgerichtet, Spaß zu machen. Sonst würden wir ja nicht seit Jahrtausenden daran festhalten! Wir lieben diese Party! Doch insgeheim glaube ich, dass alle mal gerne eine Pause hätten. Einen Moment des Innehaltens, des Wahrhaftig-Werdens. Das ist nach Hunderten von Gesprächen sogar mehr ein Resümee als eine verzerrte Idee.
Ans Anhalten habe ich überhaupt nicht gedacht! Mir waren die wildesten Pferde die liebste Herausforderung. Keines zu schwer zu bändigen. Es liegt nahe, dass ich in meinem Drang nach Ausdehnung dem dörflichen Leben so schnell wie möglich entfliehen und selbstständig werden wollte. Irgendwann war ein Motorrad mein Schlüssel zur Freiheit. Es liegt etwas Anziehendes in dem Gefühl, die Dinge dominieren zu können. Ob das wilde Pferde, Motorräder oder andere gefährliche Situationen sind … Schnelle Autos, Fallschirmspringen … Es gibt das Gefühl von Kontrolle. Von Macht über eine Situation. Von Freiheit. Frei, es mit dem Himmel und den Mächten aufzunehmen. Mal schauen, wo die Grenzen sind! Jedenfalls in der Version von Freiheit, die der dreidimensionalen Perspektive auf das Leben entspringt. Also der Freiheit innerhalb der bereits kollektiv gewählten Enge eines linearen Daseins. Einem Bewusstsein, das auf stete Wiederholung und Stimulation aufgebaut ist. Cool sein, anders sein: rebellieren. Sind das nicht die treibenden Kräfte unserer Menschheitsgeschichte? Die Geschichte gibt zu verstehen: Haben wir uns gegenseitig irgendwo unterdrückt, kam die Revolution. War es zu brav, wurde es exzessiv. War es zu exzessiv, wurde es wieder gediegener. Immer anders als die anderen, die Generation unserer Eltern. Spüren Sie die Trägheit dieses Jo-Jo-Effekts, in dem wir uns bewegen? Und dabei glauben wir auch noch, dass wir uns entwickeln. Weiter entwickeln. Naja: bei einem Jo-Jo machen wir das auch: einwickeln, entwickeln, um uns wieder einzuwickeln, um uns wieder zu entwickeln … Es ist aber immer wieder dieselbe Spule, die wir auf- und entwickeln. Und da denken wir, wir gehen voran! Kurzer Rückblick zu Kapitel 2: Wir gehen gar nirgends hin. Loslaufen am Alexanderplatz = Ankommen am Alexanderplatz. Wir leben in Kreisläufen, ja. Aber dabei sind wir gefragt, uns zu vertiefen. Aufwickeln – nächstes Thema. Und nicht ein und dasselbe vorwärts und rückwärts. Einmal diesen Mechanismus durchdrungen, hätten wir die Chance, die Abläufe zu entlarven. Das würde aber voraussetzen, dass wir alle willens wären, die Tatsache anzuerkennen, dass es mehr gibt als nur Materie. Mehr als nur diesen einen Körper. Das eine Leben – das irgendwann zu Ende ist. Dass es immer einen nächsten Schritt zu nehmen gibt. Ein nächstes Leben, das auf uns wartet. Ein Leben in Kreisen mit ständiger Weiterentwicklung. Nicht im Jo-Jo-Prinzip. Also die Dualität unseres Seins wieder als gegeben anzuerkennen. Dualität meint hier Körper Und Geist/Seele. Ausgerichtet auf die Endlichkeit einer einzigen Realexistenz, ist es doch logisch, dass wir versuchen, es uns schön zu machen. So lange oder kurz, wie wir da sind, muss das Leben Spaß machen. Jo-Jo-Spielen eben.
So haben auch mir all die vielen Beschäftigungen Spaß gemacht, denen wir so gerne nachgehen. Ich verliere mich in stundenlangen Ausritten, beim Eisessen mit Freunden oder Spiele spielen. Aber letztlich sind all diese Dinge nichts weiter als Ablenkungen vom Wesentlichen. Das fällt nur kaum einem auf, da es alle machen. So wie ich mit meinem Reitsport, dem Tennisversuch oder meiner kläglich gescheiterten Ballerina-Karriere.
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