Mal ehrlich. Christina Hecke
letztlich das Bedürfnis nach Kontrolle immer mehr loslassen zu können. Denn die große Illusion – das ist das Gefühl von Sicherheit – hat uns alle irgendwann eingewickelt. Es beginnt mit dem ersten Erleben von Verletzung und damit dem Bedürfnis nach Schutz. Da nehmen wir die ersten Schritte in die Abhängigkeit. Jedenfalls ins Gefühl von Abhängigkeit. Beispielsweise zurück zu dem Moment auf der Brust meines Vaters beim Mittagsschlaf: Da bin ich – auf ganz menschliche Bedürfnisse reduziert – abhängig. Fakt. Ich »brauche« nun mal jemanden, der mich windelt, füttert, warmhält und mir hilft, mich zu entwickeln. Ich weiß, dass ich ohne die »Großen« aufgeschmissen bin.
Alleine der Gedanke macht mich allerdings nachhaltig traurig. Heute. Denn was ich verstehen kann – und es ging mir ja lange nicht anders –, ist, dass die Reduktion auf die vermeintliche Endlichkeit unserer Existenz und die damit verbundene Emotionalität in Beziehungen einem schier keine andere Wahl lassen, als sich diese als Fixpunkte zu suchen. Alles immer richtig machen wollen oder glauben, beeinflussen zu können: wissen zu können. Aus Angst um das Ende einer Beziehung, Panik, keinen Einfluss auf die Zuwendung oder Abneigung eines anderen zu haben.
Ich weiß. Das klingt unromantisch. Aber ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist der Fall! Denn heute kann ich sagen, dass ich diese beiden Menschen mit Namen Martin und Inge, meine Eltern, wirklich liebe. Für das, was sie sind – wer sie in ihrem Wesen sind. Ihre Qualitäten. Nicht die Rollen, die sie versucht haben auszufüllen, also was sie je getan haben oder was sie mir gegeben oder nicht gegeben haben. Ich habe den Abstand gewählt und von da aus die emotionalen Verträge gelöst, die Abhängigkeit verlassen: das Mein–Dein–Band durchtrennt. Nur dadurch habe ich die wahre Liebe für sie wiedergefunden. Ich habe mich entschieden, sie wieder zu sehen. Das ist für mich schön. Und wahr. Romantik ist nur der menschliche Ersatz für die energetische Wahrheit von ehrlicher Liebe. Und die musste ich für mich zurückerobern, indem ich sicherheitsgetriebene Emotionen Stück für Stück erspürt, aufgedeckt und geheilt habe. Das war ein langer Prozess. Je mehr ich mich da herausgeschält habe, umso mehr konnten und können auch meine Eltern nachziehen. Das war deren freier Wille. Hätten sie ja auch bleibenlassen können. Denn zuvor hatten wir ja zu jedem bisschen Ja gesagt, das diese Abhängigkeit je begründet hat. Jede Verletzung, jeder Vorwurf wurde und wird auf seine darunter liegende Anspruchshaltung meinerseits überprüft. Heißt eigentlich nichts weiter, als dass ich meine Verantwortung wieder übernommen habe. Heilen sagt hier also nichts anderes als: loslassen. Damit konnte ich mich aus dem emotionalen Netz lösen, das all meine Beziehungen nachhaltig beeinflusst hat.
Alle …!
Das befreit ungemein. Ob Sie das als Tochter/Vater/Mutter/Sohn etc. wählen oder nicht. Fest steht aber, dass wir einander in voller Größe brauchen! Um an- und miteinander wachsen zu können. Und manchmal muss man dabei eben auch unbequem sein. Das heißt: die Bequemlichkeit des Bekannten, Gewohnten, Erwarteten überwinden. Liebe heißt vor allem: Grenzen zu setzen! Oder genauer gesagt: für mich und meine Grenzen einzustehen. Und das erfordert Mut. Mut, Nein zu den emotionalen Verstrickungen zu sagen und stattdessen die innere Anbindung an das Bewusstsein aus dem Körper heraus als solides Fundament zu etablieren. Kurz: mir also treu zu sein. Und damit »gefühlt« gegen den Strom zu schwimmen. Und das ist innerhalb der Familie oft sehr herausfordernd, weil man schon lange und tief drinsteckt. Auch außerhalb von Familien.
Apropos schwimmen. Zum Thema Papa & Tochter möchte ich ein Erlebnis mit Ihnen teilen. In den vergangenen Tagen war ich schwimmen. Und wie ich da so zum Abschluss noch am Rand des Beckens meine Wassergymnastik (sehr zu empfehlen übrigens) mache, betritt ein Mann mit seiner Tochter die Schwimmhalle. Die Kleine reicht ihm kaum bis zum Knie und ist mit ihrer Aufmerksamkeit voll bei ihrem Papa. Die beiden kommen also in das 25-Meter-Becken. Der Vater hangelt sich am Beckenrand entlang, während das kleine Mädchen brustschwimmenderweise darum kämpft, das andere Ende des Beckens zu erreichen. Eine kleine weiße Badekappe ragt da aus dem Wasser. Kaum ist das Kind am Ende angekommen, fallen vom Vater, der einen sanften und liebevollen Eindruck macht, folgende Worte: »Fein, mein Schatz! Dafür bekommst du nochmal zwei Herzen und Pferdeaufkleber für dein Album. Ganz toll!« Das Kind freut sich sichtlich – zittert dabei allerdings wie eine Pappel im Wind. Die Lippen schon blau. Der Vater: »Schaffst du noch eine Bahn?« Das Mädchen mit klapperndem Kiefer: »Ja, Papa!« Die beiden zogen also von dannen. Ich spüre noch einen Moment lang nach, was ich da gerade erlebt habe. Und mir kommen die Tränen. Definitiv hat der Vater nichts falsch gemacht. Es gibt ihm nichts vorzuwerfen. Er bringt seiner Tochter das Schwimmen bei. Aber was ich tatsächlich wahrnehmen konnte, war, wie ein Vater seiner Tochter beigebracht hat zu überleben. Auch wenn der Körper bibbert und bebt, die Erschöpfung schon spürbar ist, gilt: weitermachen. An die Grenzen und über sie hinaus. Es gibt auch für alles eine Belohnung. Und ob es für das Mädchen gestimmt hat oder nicht, haben beide überhaupt nicht hinterfragt oder überprüft. Der Mann hat nicht mal gesehen, dass seine Tochter nur im Erfüllungsmodus für Papa ihre Bahn abgestrampelt hat. Atemnot, Panik und Kälte wurden vollkommen ignoriert. Und nicht, weil es aus Böswilligkeit geschah, sondern einfach nur, weil man es so macht, weil ein tradiertes Muster nicht überprüft wurde. Die Qualität dieser Lehrstunde des Lebens war deutlich. Dem Mann hat man das Schwimmen vermutlich genauso beigebracht, und so hat er es wiederum seiner Tochter weitergegeben. Der Vater selbst war gefangen in dem, was er einst gelernt hat. Das war für mich so offensichtlich. Und das Mädchen wollte dem Papa gefallen und gesehen werden. Hauptsache überleben – das war die Einigung der beiden. Wenn auch für die beiden alles andere als offensichtlich. Das ist ja das Gemeine an unbewussten Strukturen – dass sie uns eben nicht bewusst sind. Nicht sichtbar sind. Denn mein Auge hätte keinen Fehler finden können. Aber ich konnte fühlen, das Unbewusste spüren. Und so wurde für mich an diesem Beispiel sichtbar, wie wir ständig ungefiltert Traditionen oder Lehren weitergeben, ohne sie je überprüft zu haben. Wir ergeben uns dem Funktionieren, dem So-macht-man-es-halt.
Das meine ich mit der »Arbeit«, die es für uns zu leisten gilt: den Blick weit zu halten und die ständige Bereitschaft zu kultivieren, auch zu hinterfragen. Nicht nur mein Papa, meine Mama, meine Familie zu sehen. Stattdessen: uns immer wieder zu öffnen, neu hinzuschauen, offen für uns selbst und unser Gegenüber zu bleiben. Sich von Urteilen und Schablonen freizumachen und also auch sich selbst nicht ständig zu verurteilen, wenn mal was nicht so läuft. Oder sich nicht zu überschätzen, weil mal was richtig gut läuft. Das ist wahre Stärke aus meiner Sicht. Nicht dieses protektive »Ich-kann-alles«– Gehabe.
Ich sage nicht, dass wir alles über Bord werfen und nur noch im Schäfchenwölkchenland rumtanzen sollen. Im Gegenteil. Füße auf den Boden und Augen auf. Vielmehr: Herz auf. Was nehmen wir wirklich wahr?!? Und: stehen wir auch dazu? Erfahrungen und Prägungen zu hinterfragen und dann auch noch zu überwinden, ist eine Aufgabe! Allein, was Verletzungen in Kindheit oder Partnerschaft schon alles angerichtet haben! Aber eines sage ich Ihnen: Einmal der Wahrheit wieder zugewandt, dass alles zusammenhängt, haben Sie gar keine andere Chance, als Eigenverantwortung zu übernehmen. Und auch andere um Unterstützung zu bitten, wenn Sie mal nicht weiterkommen. Andere haben Ihnen wehgetan? Ja! Definitiv. Mir auch. Aber haben Sie entschieden, die Lernaufgabe darin für sich zu verstehen, oder haben Sie entschieden, an dieser Verletzung festzuhalten? Es zu Ihrer Verletzung zu machen? Die jetzt Ihnen gehört. Zu Ihnen gehört. Möglicherweise ewig die Entschuldigung dafür sein wird, dass Sie sich nicht wieder einlassen, nicht wieder vertrauen können …? Verstehen Sie, was ich sagen will: Wir Entscheiden! Wir sind weder Opfer noch Täter. Es gibt Situationen, da möchte man nicht mehr an Gerechtigkeit oder Zusammenhänge glauben. Aber eines ist sicher: Alles kommt zu einem zurück. Niemand ist dafür da, den Dreck von anderen aufzuräumen. Das muss schon jeder selbst machen. Das ist, als würden Sie selbst mit einer Handlung einen Dominostein anstoßen, und durch die Kettenreaktion fällt Ihnen irgendwann wieder einen Klotz auf den Kopf. Das mag sogar manchmal erst in einem anderen Leben sein. Oder statt im Beruf dann in der Gesundheit oder der Beziehung – an einer Stelle, die Ihnen zunächst zusammenhanglos erscheinen mag. Aber die Quittung kommt. In beide Richtungen. Das gilt auch für die Liebe und die Wahrheit, die Sie bereit sind zu leben. Das Universum vergisst oder verliert nichts. Das Schöne an diesem weiten Bogen rund um das Zentrum der Eigenverantwortung ist, dass es tausend kleine Momente gibt, die uns immer wieder zum selben Rückschluss kommen lassen: Es liegt bei Ihnen. Das ist, wie durch Frankreich zu fahren und alle Wege beschildern die