Mal ehrlich. Christina Hecke
gilt für die Väter! Die Frage nach dem guten Vater ist ebenso Thema. Welche Aufgabe hat man als Mann überhaupt? Was ist Mann-Sein? Was bedeutet Intimität im väterlichen Dasein? Als Vorbild? Hat man da seine Finger in der Gestaltung der Erziehung oder nicht …? Alleine die Frage finde ich schon absurd. Wieso nicht? Natürlich sind zur Erziehung beide gefragt! Eigentlich sind alle gefragt, die unmittelbar mit dem Neuling zu tun haben. Erziehung ist eine gemeinschaftliche Angelegenheit, verantwortungsbewusst für das Ausdehnen der Persönlichkeit, dem Lernen und Abbarbeiten der Hausaufgaben dieses Spirits zu Seite zu stehen. Aber das Wörtchen »mein« im Zusammenhang mit »Kind« lässt uns eng werden und reduziert die Erziehung als Aufgabe für Mama und Papa. Damit geht es nicht mehr darum, was gebraucht ist, sondern wer es zu liefern hat. Welch eine Last für Eltern in diesem Modell der Trennung! Deswegen sind ja Eltern immer so stolz, weil sie da was geschafft – vielmehr geschaffen – haben. In dieser Welt der Einzelkämpfer. Sie haben diese Aufgabe gemeistert! Sie haben ein Kind zustande gebracht. Andere leiden ewig darunter, diesem Idealbild nie entsprochen zu haben. Egal, ob die Frage nach der perfekten Mutter oder dem perfekten Vater gestellt wird – diese Idealbilder machen es den werdenden oder seienden Eltern schwer genug. Wir machen es uns schon schwer genug. Verantwortung: Ja! Aber Überfrachtung?! Sobald die Autorität über die Antwort auf diese Fragen an das Außen abgegeben wird, an das Richtlinienprinzip derer, die das »Eltern-Sein« vorher schon absolviert haben, ist es verlockend und leicht für Folgeeltern, sich in diese Bilder hineinsinken zu lassen, der Bequemlichkeit nachzugeben, ihre Verantwortung abzugeben und einem bestehenden Rollenbild zu folgen, dem sie von nun an aber auch verhaftet sind. Im Hinblick darauf, dass wir alle zusammenhängen, sind wir damit hoffnungslos verloren. Wir drehen uns im Kreis …
Ich selbst habe keine Kinder. Aber Familien habe ich um mich herum. Und selbst die, die keine Kinder haben, sind ja selbst Töchter und Söhne. Auch denen ist dieses FamilienDings nicht fremd. Wir sind nicht ahnungslos, nur weil wir nicht selbst Kinder gezeugt, geboren und aufgezogen haben. Ich habe tiefen Respekt vor allen, die sich der Aufgabe des Eltern-Daseins stellen! Jede Mutter, die ich kenne, und das gilt auch für die Väter, sagt: »Ich fühle, was mein Kind braucht. Auch im Verhältnis zu anderen Menschen.« Unbedingt! Vertrauen Sie darauf! Tauschen Sie Ihre Autorität nicht gegen eine Unsicherheit ein, weil man Ihnen vielleicht gesagt hat, dass andere es besser wissen, Ärzte oder Lehrer oder andere berufene Autoritäten. Sie wissen es. Vielmehr: fühlen es. Halten Sie an. Spüren Sie nach. Nicht denken. Spüren. Sie kennen die Antwort.
Es ist nur die Ausrichtung auf ein Perfekt, eine Ich-habe-es-gemacht-Identifikation, die uns beständig antreibt und uns damit voll in die Bredouille bringt. Auch die perfekte Familie ist so eine an Emotionen, Bildern und Erwartungen überfrachtete Vorstellung! Es ist die Definition von Erzeuger, Nachkommen und Vorfahren. Blutslinien. Mögen oder Nichtmögen spielt hier oft keine Rolle. Respekt und Wertschätzung: soweit wage ich mich gar nicht vor. Wenn mein Vater gestresst aus dem Büro kam und wir Kinder rumgealbert haben, dann landete schon mal seine Faust donnernd auf dem Tisch, gefolgt von einem energischen »Silencio!« Kann man ja verstehen. Er war angespannt, und wir waren laut. Ich bin trotzdem jedes Mal zusammengefahren und hatte Angst. Angst vor dieser Gewalt. So hat es sich damals angefühlt. Meine Mutter nahm das, wenig begeistert, hin.
Unter dem Dach der heiligen Familie geschehen die unglaublichsten Dinge. Dafür, dass wir sie so hochhalten, geschehen – statistisch gesehen – interessanterweise die meisten Verbrechen im Familienverbund: häusliche Gewalt, seelischer und körperlicher Missbrauch. Bluttaten. Rachetaten. Kämpfe ums Erbe. In manchen Kulturen wird die Familie sogar zum Ort für Fehden, Mord und Verstümmelung, wenn etwas dem traditionellen Familienbild nicht entspricht. Da darf man das. Die Familie ist von außen unangreifbar, und wir – also die Familienmitglieder selbst – schützen sie entsprechend im Innenverhältnis. »Blut ist dicker als Wasser«, solche Sprüche zementieren das Bild Familie. Das ist eine ganz eigene Clubmitgliedschaft. Da wollen wir am wenigsten wahrhaben, wenn etwas schiefläuft. Es ist vertraut, familiär also. Und deshalb schauen wir gerne weg oder lassen uns täuschen. Da verzeihen wir weit mehr, als wir es je in Freundschaften täten. Die vermeintliche Sicherheit im Familienverbund, des Wir gegen die anderen oder die Gesellschaft, ist ein trügerisches Netz aus selbstgeschaffenen Idealen. Einmal verhaftet in diesem Bund, den wir auf die entsprechenden Beteiligten reduziert haben, sind wir ihm nahezu ausgeliefert. Zumindest als Kinder. Das Idealbild der perfekten Familie hat uns fest im Griff. Der Anspruch auf Perfektion kann allerdings nur scheitern. Wie eingangs erwähnt: Perfekt gibt es nicht! Denn die Welt dreht sich. Entscheiden Sie etwas, sind im nächsten Moment schon die nächsten Schritte angefragt. Es gibt keine Pausen. Von Moment zu Moment, Atemzug zu Atemzug vertieft sich alles. Nicht Perfektion, vielmehr Expansion. Das erfordert Präsenz und Wachsamkeit. Und vor allem Offenheit. Das Gegenteil zur Enge von manchem Familienporträt.
Im wahrsten Sinne und mal mit Liebe betrachtet, ist Familie nämlich vor allem eins: Teamwork. Es ist eine ständige Gruppenarbeit. Ein möglicher Platz, um an unseren Hausaufgaben zu arbeiten. Von und mit allen Beteiligten – das sind definitiv nicht zwangsläufig alle mit derselben DNA – und ständig. Und das ist großartig! Weil ein jeder in seiner Essenz großartig ist! Es fordert von uns allen nämlich vorrangig eins: Die Erlaubnis an uns selbst, Fehler zu machen. Mir ist lieber, alles als Potenzial zu sehen. Mit Entscheidungen Erfahrungen machen zu können. An Lernaufgaben zu wachsen. Statt diese als Fehler zu betiteln. Seine eigenen »Verträge« aufzulösen, sich von Bildern zu lösen und die Größe einzunehmen, zu der oder dem zu stehen, die oder der man ist. Egal, was die Gesellschaft oder die Verwandten dazu sagen. Denn die Frage nach dem, was in jedem Moment die Wahrheit ist, kann uns eh niemand abnehmen. Da wir aber gerne bequem sind und es leichter ist, sich etwas abnehmen zu lassen bzw. abzugeben, suchen wir nach Orientierung im Außen. Dem »Normal«. Dem Hinterhertrotten. Der entscheidende Punkt aber ist, dass alles eine Sache des Vertrauens und der Bereitschaft ist, Verantwortung zu übernehmen – sich also von dem freizumachen, was oder wie andere über unser Handeln »urteilen« würden. Das Vertrauen in die innere Stimme aufgegeben zu haben, hat uns unfrei gemacht. Es ist folglich die Verantwortungslosigkeit, in der wir leben, in der wir Zuflucht suchen. Das klingt sarkastisch? Aber ist es nicht so, dass wir bei positivem wie negativem Ausgang einer Situation die Option schätzen, sagen zu können: »Das hab ich von soundso« (Buch, Lehrer, Freunde etc.). Vor allem bei negativem Ausgang finden wir gerne einen Schuldigen oder wenigstens einen Mitverantwortlichen. Weil uns oft nicht so gut schmeckt, selbst die Verantwortlichen zu sein! Das bevorzugen wir nach meiner Wahrnehmung nur aus einem einzigen Grund: Bei positivem Ausgang einer Situation warten der Ruhm und der Erfolg auf uns. Dann sind wir die Helden, werden ausgezeichnet, kurz: Wir werden gesehen. Das ist es, was wir so vermissen. Denn Wertschätzung scheint sich auf Bezahlung, Auszeichnungen und Erfolg zu reduzieren.
Ein kleiner Ausflug in die Praxis: Es gibt Menschen, die mit »Anomalien« zur Welt kommen. Ob physisch oder psychisch. Also: nicht normal: passt zu keiner Schablone. Das kann schon eine Fehlstellung in der Wirbelsäule sein oder ein nicht ausgebildetes Körperteil. Schon geht die Panik los: »Was haben wir (fragen sich die Eltern) falsch gemacht?« Was, wenn Sie, liebe Eltern, gar nichts falsch gemacht haben? Was, wenn einfach nur jedes Wesen genau die Form einnimmt, die es zur Weiterentwicklung braucht? Das meine ich mit der für den Verstand undurchdringlichen Ordnung, die zu akzeptieren uns so wahnsinnig schwerfällt. Ich komme beispielsweise mit einem »zu engen Hüftbild« auf die Welt, und man verpasst mir relativ bald eine Spreizhose, und meine winzig kleinen Füße werden eingegipst. Offenbar mochte ich das nicht besonders, denn diese kleinen Gipsstiefel habe ich konsequent am Fußende meines Bettchens kleingetreten. Die Entscheidung meiner Mutter, dem Rat der Ärzte in diesem Fall nachzugehen, sollte sich in dem Fall als eine gute erweisen, denn ich kann heute aufrecht und gerade laufen – ohne Hüftprobleme. Gut, ich habe keine Ahnung, ob ich mich auch ohne Spreizhöschen aufrecht entwickelt hätte, aber diese Entscheidung ist damals eben gefallen. In manchen Fällen wäre es vielleicht nicht die richtige Wahl gewesen. Was entscheiden wir beispielsweise, wenn ein Zwitterwesen geboren wird – Penis ab oder Uterus raus? Wonach wird diese Entscheidung gefällt? Womöglich nach dem, was uns nachträglich mit dem Gütesiegel »richtige Entscheidung« ausstatten wird? Wer immer über Richtig & Falsch dann urteilt …
Die Ausgangslage ist aus meiner Sicht: Unsicherheit, die wir mit dem Bedürfnis nach Sicherheit kompensieren. Es ist das Klammern an der Möglichkeit des Richtig.