Mal ehrlich. Christina Hecke
viel entschuldigen, begründen, verteidigen oder erklären – um eben nicht fühlen zu müssen. Diese sich ständig wiederholende Art des Denkens, des Entschuldigens und Sich-wieder-Verstrickens ist die ultimative Medizin, um die Trennung vom großen Ganzen nicht fühlen zu müssen. Die schnelle Lösung. Aber langfristig nicht die ultimative Antwort. Diese Trennung erfahre ich damals als Kind im Nachmittagsschlaf auf der Brust meines Vaters nicht. Da schlafen wir eben beide satt und wohlig. Mein Pa und ich. Aber auch ohne, dass wir das damals vielleicht wollten, wussten wir schon: Da gibt es viel zu tun …
Primaballerina in XL
… viel zu tun! Das ist ein Ausspruch, der das Leben prägt. Ständig. Egal, ob wir dem nachgehen oder nur im Stress sind, weil es so viel zu tun gibt und wir eigentlich gar nichts wirklich dabei tun, außer gestresst zu sein. Dieser Stress des Tuns beginnt ja schon, sobald wir plappern oder laufen können. Da sind sie wieder: die lustigen Bilder oder Ideen der anderen, was wir alles werden sollen. Die Ideen von unseren Mamas und Papas. »Arzt soll er werden oder Künstler.« In meinem Erleben beginnt die Bildung irgendwann mit Blockflöte und Klavierunterricht. Um die Blockflöte komme ich drumrum. Gott sei Dank! Zumindest muss ich nicht selbst drauf rumkauen. Meine Schwester aber. Also bleiben wir vom Klang dieser Tröte doch nicht verschont. Wenn jemand die wirklich spielen kann, ist das ja schön. Aber das Üben …? Unser Hund Anke hat immer schauerlich gejault, wenn »Üben« dran war. Naja. Das Klavier war mir vertrauter. Denn mein Held, mein Papa, spielt auch auf dem Ding. Also lerne ich das auch. In einer Musikschule. So richtig mit Fünf-Mark-Stücken auf den Handrücken und Gerade-Sitzen usw. Bis zu dem Tag, an dem ich die Gershwin-Noten meines Vaters in den Unterricht mitbringe. Das möchte ich spielen lernen! »So etwas unterrichte ich nicht!«, sind die erschütternden Worte meiner Musikschullehrerin. Ein Todesstoß für meine Karriere als Jazzerin. Und auch für die Freude an dem, was mir gefällt – oder womit ich gefallen wollte. Das kann ich schon langsam nicht mehr auseinanderhalten. So oder so: Es trifft mich hart. Ich spiele zwar weiter, aber das hat irgendwie mehr mit »eine gute Tochter sein« zu tun. Und dem berühmten »Spiel mal was vor« (kam nicht oft, aber dennoch). Kennen Sie das? Das ist ähnlich wie: »Sag mal dem Onkel Hallo!« Was aber, wenn ich den Onkel nicht mag, dem also nicht »Hallo« sagen will? Oder gerade nicht den Entertainer am Klavier geben möchte, um der Tanzbär für die Anwesenden zu sein? Damit die humanistische Erziehung meiner Eltern Anklang bei den Zuschauern findet? Mal ehrlich: Welchen anderen Zweck sollte so eine Forderung der Eltern an ihre Kinder sonst haben? Sie ist die Folge eines Familienideals, dem man entsprechen möchte. Wie man gesehen werden möchte. Mehr nicht. Genauso wie die Nummer mit »dem Onkel Hallo sagen«. Mag ich nicht, weil ich fühle, dass mit dem was nicht stimmt. Kann auch meine Tante oder ein Nachbar sein. Nicht, dass jetzt gleich die Schublade »böser, perverser Onkel-Fantasie« aufgeht. Da ist einfach jemand, dem möchte ich nicht »Hallo« sagen. Ich möchte nicht auf Kommando lachen oder Klavier spielen. Darf das einfach so stehenbleiben? Nein. Also meinem eigenen Gefühl zu folgen, ist nicht so up to date. Und weil die Enttäuschung der Großen im Falle der Verweigerung nach einer solchen Aufforderung so niederschmetternd ist, als hätte ich sonst was falsch gemacht, zwinge ich mich – überschreibe mein wahres Gefühl – und gebe brav die Hand. Esse, was man mir gibt. Sage »Danke« und »Bitte« und »Hallo« und »Auf Wiedersehen«, wie es sich eben gehört. Innerlich weine ich gerade, denn das sind all die kleinen Momente, in denen ich einen kleinen Schritt weiter von mir weggegangen bin. Einen Schritt hin zu der vermeintlichen Wahrheit, den Regeln anderer. Ob die für mich stimmen oder nicht. Hauptsache, ich bin noch Teil dieses sozialen Gefüges, in dem ich versorgt und »geliebt« werde. Ich werde mittels meiner eigenen Entscheidungen mehr und mehr zum Tanzbär … Autsch.
Ich erlebe um mich herum, wie alle das machen. Meine Freunde, meine Schwester, meine Eltern, jeder. Jeder vielleicht auf eine andere Art. Die einen ziehen sich zurück. Die anderen werden laut. Die nächsten werden ganz besonders fleißig, und wieder andere stellen so viel Zerstörerisches an wie nur möglich. Auch eine Art zu brüllen, wie ich im Kindergarten damals.
Naja.
Es gibt ja noch andere, schöne Dinge, die man machen kann. Sport zum Beispiel. Meine ältere Schwester Martina geht ins Ballett. Super! Das versuche ich auch. Nur ist sie eine schlanke Gazelle, und ich habe mich noch nicht »gestreckt«, wie es heißt. Kurz: Ich bin pummelig. Und so erfahre ich auch hier eine jähe Zurückweisung: Ich hopse im Ballett fröhlich mit, turne und liebe mein rosa Outfit. Andere sagen, ich sehe etwas gepresst aus in meinem Tutu. Wieder kommen diese Urteile, bereit, meine Freude an den Dingen zu zerschmettern. Aber ich tanze mit, voller Freude – bis zu jenem Tag einer Aufführung unserer Ballettgruppe … Meine zarte Schwester darf in der ersten Reihe tanzen, »das Pummelchen muss in die letzte Reihe«. Damit bin ich gemeint. Da schneidet das tragische Ausmaß des menschlichen Zusammenlebens und Urteilens tief in mein Fleisch. Ein ganzes Kapitel unserer Menschheitsgeschichte offenbart sich mir in diesem einen Moment. Zwei ach so bezaubernde kleine Wesen – zwei Schwestern – werden: verglichen. Und ob wir das wollen oder nicht: Meine Schwester und ich werden auf das Kampfgebiet der Konkurrenz geschleudert. Die Gazelle und die Primaballerina in XL. Das trifft. Wieder so eine Bewertung, die die anderen vollzogen haben. Und die glauben auch noch, dass sie das »Recht« dazu haben! Wer fragt uns denn, ob wir das wollen? Ich finde das grauenvoll. Ich weine. Ich fühle, dass hier was absolut ungerecht ist. Meine Schwester fühlt sich ebenfalls mies, weiß aber gar nicht so recht, wieso. Denn sie mochte die erste Reihe. Kann sie ja nix dafür, dass ich moppelig bin. Aber dass ich weine, mag sie nicht …
Dieses Schwestern-Ding ist für uns beide eh schon so eine Aufgabe. Seit meinem »Ankommen« ist sie ja nicht mehr die Einzige, die im Fokus steht. Da kam ich eben dazu. Mein Erscheinen hat auch sie vor eine Neuerung gestellt. Nicht, dass meine Schwester ein egozentrisches Biest mit narzisstischen Einschlägen wäre. Definitiv nicht! Aber versetzen Sie sich mal in ihren Wahrnehmungshorizont: Da ist man in dieser Blase des alleinigen Fokus. Das erste Enkelkind im Familienclan überhaupt. Und auf einmal kommt noch wer. Ganz simpel: Ab jetzt wird geteilt. Ob man das mag oder nicht. Vom Eis bis zur Aufmerksamkeit der Eltern. Die einen können das gut wegstecken – die anderen eher nicht so. Da wir heute ein außerordentlich liebendes Verhältnis haben, wird sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich die eine oder andere Episode erwähne, die sich auf unserem Weg zugetragen hat. Also Lernmomente, die wir als Team in unserem Familienverband durchgemacht haben. So prägt beispielsweise bis zum heutigen Tag die Saga unserer Familienanekdoten die Beobachtung meiner Eltern, dass meine Schwester gerne mal in einem unbeobachteten Moment ihren kleinen Kinderdaumen in meine Fontanelle gedrückt hat (das ist die weiche Spalte oben am Schädel). Worauf ich natürlich geplärrt habe, was wiederum die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf uns gezogen hat – und meine Schwester unter Streicheln meiner Wangen tiefe schwesterliche Liebe hat bekunden können. Gemein, finden Sie nicht? Wir müssen aus heutiger Sicht tatsächlich darüber lachen, denn die Situation ist doch total klar. Die bisher ungeteilte Aufmerksamkeit von gleich zwei Menschen muss wiederhergestellt werden, oder zumindest muss erstmal ausgelotet werden, wer wo seinen Platz hat. Und da ist eine gewisse Form des – ich nenne es mal – Konkurrenzprinzips verständlich. Nicht, dass ich das Verhalten entschuldigen möchte! Hat ja wehgetan! Aber ich kann sehen, was dieser drohende Aufmerksamkeitsverlust ausgelöst hat. Da war erst ein Gefühl von Sicherheit: »Mama und Papa sind nur für mich da.« Und auf einmal ist da noch wer. Das beweist ja konsequenterweise nur, dass auch meine Schwester ein Wesen ist, das irgendwo Verträge eingegangen ist. Besitzansprüche entwickelt hat. Meine Eltern, nicht Unsere. Es ist eben nicht nur meine Schwester, sondern wieder ein Mensch – mit Entscheidungen. Sie ist ebenfalls bewegt und belegt von Erwartungen, Bildern und Identifikationen. Und ob sie es wollte oder nicht – vielleicht hat sich da eine Eifersucht eingenistet. Jedenfalls in den Kindertagen. Je nach Gemütszustand, also Wahl der entsprechenden Frequenz, traf mich entweder ihre Liebe oder eben irgendwas anderes. Vice versa, wie sich von selbst versteht. Ich beispielsweise habe entschieden, sie als die Große anzunehmen. Auch alles andere als auf Augenhöhe … Ihr bin ich gefolgt. Ich bin vor ihrer gelegentlichen Dominanz eingeknickt und habe sie idealisiert. Höher gehalten. Weg von der Augenhöhe zwischen uns. Sie ist die Ältere. Beispielsweise gab es in unserem Familienverbund auch einen Hund: Anke. Und wer den Kopf und wer das Hinterteil streicheln durfte, das hat sie entschieden. Wenn sie mir das gesagt hat, war ich eben für den