Wirklichkeiten. Kurd Lasswitz

Wirklichkeiten - Kurd Lasswitz


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Junge, daß ich mich sehr über die Tüte voll Zuckerplätzchen freute, die ich geschenkt bekommen hatte. Wie viele ich schon davon verspeist hatte, weiß ich nicht mehr, aber an den entschwundenen Genuß knüpfte sich etwas anderes, das ich nicht vergessen habe, weil es mir einen unauslöschlichen Eindruck machte, obwohl es etwas durchaus Selbstverständliches war. Ich kam nämlich auf den nicht fern liegenden Gedanken, nachzusehen, wie viel Plätzchen ich noch übrig habe, und zu diesem Zwecke ließ ich sie auf dem Tische in wohlgeordneten Reihen aufmarschieren, bis sie ein richtiges Rechteck bildeten. Und nun fing ich an zu zählen und war schon bis in die Zwanzig gekommen; da ging jemand am Tische vorüber, warf einen Blick auf meine Schlachtordnung und sagte: »Du hast ja vierzig Stück?« Ich fragte erstaunt: »Wie kannst du so schnell zählen?« »Nun, es sind doch in jeder Reihe fünf, nun zähle ich bloß die Reihen, sind acht, und fünf mal acht gibt vierzig.« Dies imponierte mir ungeheuer, ich traute aber doch nicht recht und zählte weiter; es waren wirklich vierzig. Ich wunderte mich und fragte: »Woher kommt denn das?« Da mir aber niemand mehr Antwort gab, so spielte ich weiter, nahm aus jeder Reihe ein Plätzchen fort und bildete daraus zwei neue Reihen. Nun waren doch bloß noch vier in jeder Reihe, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Rechnung wieder stimmen könne; aber wahrhaftig, ich zählte jetzt zehn Reihen, und vier mal zehn ist vierzig; das wußte ich. Ich begann je sechs in eine Reihe zu legen, da bekam ich sechs Reihen und behielt vier Stück übrig, die ich passenderweise in den Mund steckte. Nun konnte es doch nicht stimmen? Sechs mal sechs gibt 36; ich zählte nach, und es stimmte wieder! In diesem Augenblicke ging es mir wie eine Offenbarung auf, das unbestimmte Gefühl, daß hier ein wunderbares Geheimnis läge. In diesen Plätzchen – und ich begriff wohl, daß die Operation mit irgend welchen andern Gegenständen auch gelingen würde – steckte eine Macht, der ich nichts anhaben konnte; wie ich die Dinge auch legte, wieviel ich auch fortnahm, sie gehorchten dem Einmaleins. Und was hatte doch das Einmaleins, das so langweilig in meinem Rechenbuche stand, mit den Zuckerplätzchen zu tun? Was konnten sie davon wissen? Ich stellte die Gruppen zusammen, wie ich wollte, und ich rechnete dann in meinem Kopfe, und was ich rechnete, das erwies sich als erfüllt in der Wirklichkeit. Zum ersten Male in meinem Leben war mir das Wesen des mathematischen Gesetzes zum Bewußtsein gekommen. Dies ist mir unvergeßlich; und noch oft hat mich dasselbe Gefühl beschlichen, als ich die Methoden der Algebra und Analysis kennen lernte und sah, wie die verschiedensten Arten, die Rechnung anzuordnen, doch zu demselben Resultate führten. Es ist ein Gefühl der Bewunderung, das uns gefangen nimmt, so oft wir erfahren, wie die Wirklichkeit einem logischen Gedankengebäude sich fügt, sobald wir erkennen, daß die objektive Realität in den Dingen dem Gesetze des Denkens gehorcht.

      Was damals dem Kinde als eine erste dunkle Ahnung aufblitzte, war nichts anderes als die Erkenntnis, daß es etwas gibt, was Wissenschaft heißt. Eines der schönsten Gesetze, daß die Decendenztheorie entdeckt und bestätigt hat, ist das sogenannte phylogenetische Grundgesetz: Die biologische Entwickelung des einzelnen Organismus stellt eine abgekürzte Form des Entwickelungsprozesses vor, den die ganze Reihe seiner Vorfahren durchlaufen hat. Dies Gesetz gilt auch auf geistigem Gebiete. In der psychologischen Entwickelung der Kindesseele, in den Vorstellungen, die sich der einzelne über die Welt macht, bis er zur reifen Erkenntnis, zum wissenschaftlichen Denken durchdringt, finden sich die Spuren des Weges wieder, auf dem die Menschheit zur Kultur empor geschritten ist. Und wenn wir, zurückgreifend in der Geschichte des Denkens, uns fragen, wann und wo zum ersten Male der Begriff des mathematischen Gesetzes dem menschlichen Geiste als eine objektive Macht zum Bewußtsein kam, so scheint auch hier die Ordnung der Zahlen den Anstoß gegeben zu haben, so finden wir dies Bewußtsein bei Pythagoras, wenn er sagte, daß die Zahl das Wesen der Dinge sei. Die merkwürdige Beziehung der Seitenlängen im rechtwinkeligen Dreieck, die bei allen Dreiecken stimmte, man mochte sie sonst zeichnen wie man wollte – das Quadrat der Hypotenuse war immer gleich der Summe der Quadrate über den Katheten –, ferner die wunderbare Abhängigkeit der Konsonanz der tönenden Saiten von ihrer Länge und anderes mehr erweckte das Staunen und die Ahnung, daß in diesen Gesetzen das eigentliche Weltgeheimnis verborgen liege.

      Dem Geiste der Hellenen erschloß sich dieses Geheimnis zum ersten Male; sie entdeckten die besondere Art der Realität, die, anders als alles sinnliche Fühlen und Empfinden, in dem objektiven Wert der Erkenntnis liegt. Und der Mann, bei welchem am schärfsten der Gedanke zum Durchbruch kam, daß die Realität der Dinge an ihre mathematische Gesetzlichkeit geknüpft sei, das war der große Schüler des Sokrates, es war Platon. Mit diesem Gedanken ward er der Begründer der Wissenschaft überhaupt: nicht der Wissenschaft, insofern sie die Sammlung und Sichtung des Erfahrungsstoffes allein zum Ziel hat, sondern insofern sie sich bewußt ist, in ihren Resultaten ein Objekt zu besitzen, dessen Erkenntniswert tiefer begründet ist als das Geltungsbereich der sinnlichen Mittel, durch die es gewonnen wird.

       Was ist dies Eigenartige, wodurch Wissenschaft sich von andern Betätigungsgebieten des Bewußtseins unterscheidet? Wir finden uns in einem bunten Wechsel von Farben und Geräuschen, von Widerständen und Temperaturen, von Gefühlen und Strebungen. Einiges ist flüchtig wie der Hauch des Windes, wie der Blitz des Auges; anderes weilt länger, wie die feste Erde unter den Füßen. Aber dauernd bleibt nichts von dem, was wir wahrnehmen und erleben, unwiderruflich flieht die Zeit, und wir selbst vergehen in ihrem Strome. Wo ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht? Wo ist die Macht, die Ordnung schafft und Dauer verleiht? Wo ist das zu suchen, was wir Realität nennen?

      Dieses Marmorstück ist weiß, schwer, hart, kalt; das nehme ich wahr. Aber sind es diese Eigenschaften, die den Stein zum Gegenstand machen, der dauert? Die Sonne bescheint ihn, und er ist warm; die Nacht umhüllt ihn, und er ist nicht mehr weiß. Ich finde dieselben Eigenschaften an anderen Körpern, ich kann sie mir zum Teil fortdenken von dem Körper, und er hört nicht auf Körper zu sein. Die sinnlichen Eigenschaften sind es also wohl nicht, in denen die Realität wurzelt? Vielleicht gehören sie dazu, aber sie sind es jedenfalls nicht allein. Und soviel ist sicher, die Ordnung, in welcher sie zusammen vorkommen, die Folge, in der sie wechseln, ist so mannigfach, so kompliziert, so unübersehbar, daß sie für den ersten Versuch des menschlichen Geistes, Gesetze zu entdecken, nicht als die Realität gelten kann, darin das gesetzliche Sein der Dinge begründet ist.

      Aber es gibt etwas anderes in den Körpern, das nicht mehr sinnlich ist, das ist Gestalt und Zahl. Der Würfel behält sechs Flächen und acht Ecken, ob er aus Marmor oder Holz bestehe; die Winkelsumme im Viereck bleibt gleich vier Rechten, mag das Viereck auf die Wachstafel oder in den Sand gezeichnet sein; drei mal vier bleiben zwölf, ob du Menschen zählst oder Muscheln. Hier ist eine Wirklichkeit, Ordnung des Raumes und der Zahl, die nicht von den sinnlichen Eigenschaften berührt wird. Hier ist ein Beispiel für eine Ordnung, die für alle Körper allgemeingültig und notwendig ist. Hier ist etwas Neues, ein Gedanke im Menschengeist und doch eine reale Bestimmung in den Dingen, und dieses Neue, daraus die Herrschermacht der Wissenschaft entsproß, ist das Gesetz.

      Eine neue Art des Seins hatte der griechische Geist entdeckt, als Arithmetik und Geometrie von ihm geschaffen und als Wissenschaft erkannt wurden – die erste reife Frucht gezogen aus der zählenden und messenden Erfahrung östlicher und südlicher Völkerschaften. Eine neue Art des Seins, die den sinnlich wahrnehmbaren Körpern nicht zukommt, und sie doch beherrscht; also ein Gesetz der Körper; und die ebenso das Denken über die Körper beherrscht; also ein Gesetz des Geistes, ein Begriff. Und so ward die Mathematik das Weckmittel der Erkenntnis; das mathematische Gesetz ergab sich als ein Gesetz, das Sein und Denken zugleich beherrscht; es vertrat die im Grunde der Dinge waltende Macht, welche die Bedingung ihrer Realität ist. »Die Gottheit verfährt stets mathematisch«, damit drückte Platon den Grundgedanken aus, auf dem sich das Gebäude der Wissenschaft erhob; und darum schrieb er über seinen Lehrsaal: »Ohne mathematische Vorbildung trete keiner in meine Halle!«

      Der unmittelbaren Wahrnehmung gilt nur das als wirklich, was ihr sinnlich entgegentritt; und ein Zeichen von Wirklichkeit ist dies auch, aber kein sicheres. Dem ermattenden Wüstenwanderer erglänzt die spiegelnde Wasserfläche in der Ferne, gaukelt das Luftbild die rettende Oase vor; aber dem Nahenden schwindet es in nichts. Die sinnlichen Eigenschaften wirren sich in unergründlichem Wechselreichtum durcheinander, und was eben die Sicherheit der Existenz zu verbürgen schien, löst sich in neue, unerwartete Erscheinung auf. Wo blieb es? So erscheint das Sinnliche als das Vergängliche, Unklare, Unwirkliche. Die mathematischen


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