Wirklichkeiten. Kurd Lasswitz

Wirklichkeiten - Kurd Lasswitz


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Ewige, das Reale. Sie sind das objektive Gesetz, wonach der Kosmos als Ordnung sich konstruieren läßt, sie verbürgen die Realität Seienden durch die Begründung der Gewißheit in dauernden Gedanken.

      Wie weit die Erkenntnis vordringt und es ihr gelingt, das Geschehene im mathematischen Gesetz zu fixieren, soweit waltet Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, soweit beherrscht das Bewußtsein die Gegenstände. Die sinnliche Erfahrung ist zwar das Mittel, wodurch die Gesetze des Wirklichen allmählich aufgefunden werden, aber die Gültigkeit dieser Gesetze, die an der Erfahrung sich erprobt, wird ihnen nicht durch die Erfahrung verliehen; sie hat ihren Ursprung in etwas, das der Erfahrung selbst zu gründe liegt, das sie erst möglich macht, weil es die gemeinsame Bestimmung dafür ist, daß Gegenstände sind und daß sie als solche erkannt werden. Diese Bedingung der Erfahrung ist die Gesetzlichkeit, die der Philosoph das »Apriori« nennt. Dies soll nicht heißen, daß die Gesetze dem einzelnen vor der Erfahrung bekannt sind; wir erkennen sie erst im Verlaufe der Erfahrung. Die Menschen zählen und rechnen und finden sich im Räume zurecht, ohne etwas von den Grundsätzen der Arithmetik oder Geometrie zu wissen, so gut wie sie atmen und verdauen, ohne die physiologischen Gesetze des Stoffwechsels studiert zu haben. Aber indem sie rechnen und sich bewegen, werden sie sich allmählich bewußt, daß in ihrem Erlebnis gewisse gesetzliche Bestimmungen vorhanden sind. Es wäre nicht möglich, daß die Erfahrung überhaupt als eine feste Ordnung der Erscheinungen zustande kommt, wenn es nicht Bestimmungen gäbe, die nicht von ihr, sondern von denen sie selbst abhängig ist. Und diese Bedingungen müssen derart sein, daß in ihnen die Übereinstimmung der Dinge mit unsern Vorstellungen von den Dingen begründet ist. Die Wirklichkeit der Dinge muß auf denselben Gesetzen beruhen, auf denen es beruht, daß wir gerade diese und keine anderen Vorstellungen von den Dingen uns machen können. Daß dieses Weiße, Harte, Schwere eine Einheit bildet, und daß sie als solche unter dem Begriff Marmor gedacht werden muß, ist ein und dieselbe Bestimmung. Das ist der Sinn des »Apriori«: Es gibt Bestimmungen, unter denen die Bildung gewisser Einheiten sich auf solche Weise vollzieht, daß ihre reale Wirklichkeit als Objekte zugleich als eine subjektive Realität im Bewußtsein auftritt. Das Ergebnis dieser Bildung ist die Erfahrung. Stellen wir uns auf den Standpunkt der Objekte, so können wir sagen, unsere Vorstellungen sind abhängig von den Gegenständen; stellen wir uns auf den Standpunkt der Subjekte, so können wir auch sagen, die Gegenstände sind abhängig von der Art, wie wir sie vorstellen. Falsch ist weder das eine noch das andere, aber beide Behauptungen, die realistische und die idealistische, sind nicht ganz vollständig. Es ist zwischen objektiv und subjektiv nicht ein Verhältnis wie zwischen Ursache und Wirkung, sondern eher wie zwischen Stoff und Form, zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit; es ist nicht eins vom andern bedingt, sondern jedes ist zugleich mit dem anderen gesetzt.

      Das ist nun die Voraussetzung, wenn überhaupt Wissenschaft möglich sein soll, daß es eine solche Realität gibt, welche die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein verbürgt. Und das mathematische Gesetz war das erste Beispiel in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis, woran man sich überzeugen konnte, daß das Schwanken der sinnlichen Erscheinung von Bestimmungen a priori beherrscht wird, die wir zu erkennen vermögen. Deshalb darf man Platon, soweit nicht schon Sokrates das Vorrecht gebührt, als den Vater der Wissenschaft bezeichnen. Er entdeckte das Recht der wissenschaftlichen Erkenntnis; sie ist ein Verfahren, Realitäten zu erzeugen. Aus dem unbestimmten Erlebnis des einzelnen, aus dem Kampf entgegengesetzter Vorstellungen, aus der Unklarheit widerspruchsvoller Gefühle und wechselnder Stimmungen und Triebe hebt sie heraus ein Gebiet des Gesetzes, schafft sie eine neue Welt, worin nichts gilt, als was sich widerspruchslos zusammenfügt.

      Die moderne Naturwissenschaft beruht auf dem Verfahren, den Wechsel der Erscheinungen darzustellen und zu festigen im mathematischen Gesetz. Was wir heute unter Naturnotwendigkeit verstehen, das ist nichts anderes als der Zwang des widerspruchslosen Denkens, der uns nur das als Wirklichkeit anerkennen läßt, was in der Form des allgemeingültigen Gesetzes beschrieben werden kann. Unerschöpflich führen die Sinne neuen Stoff unserm Bewußtsein zu, und ebenso unermüdlich ist die Wissenschaft an der Arbeit, ihn in die Form des Gesetzes einzuordnen und damit den realen Inhalt des Naturgeschehens zu ermitteln. Das ist eine unendliche Aufgabe. Nenn der Inhalt des einzelnen Gesetzes erfordert eine fortwährende Umgestaltung unter dem Einfluß der sich erweiternden Erfahrung; bleibend ist nur der Charakter des Gesetzes, jeden Widerspruch von sich auszuschließen, indem seine Gestalt neuen Erfahrungen sich anpaßt. Die Erde war solange der Mittelpunkt der Welt, als die astronomischen Beobachtungen sich mathematisch durch das Ptolemäische Weltsystem darstellen ließen; als sich Widersprüche zeigten, mußte es dem Coppernikanischen weichen. Die Gewißheit der mathematischen Berechnung hat sich dabei nicht geändert; sondern nur die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, sind andere geworden und haben eine andere Gestalt der mathematischen Darstellung erfordert.

      Auch jener Grundgedanke der Naturwissenschaft, die Wirklichkeit der Erscheinungen im mathematischen Gesetz zu sichern, geht auf Platon zurück; und die Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft ist in der Tat ein Lebendigwerden platonischer Gedanken. Der machtvolle geistige Umschwung, den wir als Renaissance bezeichnen, ist zugleich die Erneuerung der platonischen Philosophie. Und die bahnbrechenden Denker, die im Beginn des 17. Jahrhunderts die Naturwissenschaft schufen, Galilei und Kepler, fanden ihre Stütze in dem platonischen Gedanken, daß die Realität der Natur in ihrer mathematischen Ordnung zu suchen sei. In diesem Sinne sagt Kepler, daß der Mensch nichts richtiger erkenne als die Größe selbst, und Galilei, daß die Philosophie im Buche des Universums geschrieben stehe in mathematischer Sprache, deren Zeichen Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren seien. Warum aber, so wird man fragen, mußten zwei Jahrtausende vergehen, seit Sokrates den Giftbecher trank, bis der Scheiterhaufen auf dem Campo dei Fiori um Giordano Bruno flammte, ehe jene Naturwissenschaft entstand, deren Prinzip Platon so deutlich bezeichnet hatte? Dies erstaunliche Problem bis in seine innersten Tiefen zu Verfolgen, das hieße die gesamte Geschichte der Menschheit von Jahrtausenden aufwühlen. Denn im letzten Grunde sind zwar Begriffe und Ideen das Bestimmende in der Entwicklung der Kultur (vgl. Abschnitt XXII), aber die Mittel, wodurch sie in den Trieben und Interessen der einzelnen und der Völker wirken, sind so verwickelt, daß sie schwer, wenn überhaupt, zu durchschauen sind.

      Die Erforschung der Natur setzt ein unmittelbares Interesse an der technischen Beherrschung der Natur voraus, denn nur durch dieses spitzen sich die Probleme zu, und das ungeheure Material praktischer Erfahrung wird herangeführt. Technische Probleme waren es auch, welche den äußeren Anstoß zur wissenschaftlichen Untersuchung gaben. Man denke nur an die Bedürfnisse der Baukunst, der Kriegsführung, der Schiffahrt, der Heilkunde. Wer vermag nun zu sagen, inwieweit der Mangel an naturwissenschaftlichem Interesse durch die soziale Entwickelung der Menschheit bedingt war? So lange eine kleine Anzahl von Herren durch die Arbeit der Sklaven ihre Muße gesichert sah, mochte wohl in den Spitzen der Menschheit eine hohe intellektuelle Kultur zur Blüte gelangen können. Aber für sie lag nicht das Bedürfnis vor, die Kräfte der Natur in umfassender Weise in den Dienst der Arbeit zu stellen, die Natur in dem Maße zu beherrschen, daß durch die Erweiterung der Machtmittel der Menschheit immer weitere Kreise auf eine höhere Bildungsstufe gehoben werden konnten. Es liegt daher der Gedanke nahe, daß für die Kultur der europäischen Menschheit erst jene höhere sittliche Aufgabe zu lösen war, die Gleichberechtigung der Menschen zum Bewußtsein zu bringen, wie sie in der Grundidee des Christentums enthalten ist. Nicht die Unterschiede der Macht, des Besitzes, der Bildung, der Abstammung, der Nationalität sind es, die den Wert des Menschen bestimmen, sondern allein die gute Gesinnung, die sittlich-religiöse Kraft der Persönlichkeit, der Glaube an die Liebe Gottes, vor dem alle gleich sind, die in seinen Wegen wandeln. Diese sittlich-religiöse Erziehung der Menschheit mußte erst zu einem gewissen Ziel kommen, ehe die intellektuelle Kultur aufs neue einsetzen konnte, um nunmehr unter dem Bewußtsein der Verpflichtung zur gemeinsamen Arbeit die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. Gutenberg, Coppernikus, Columbus, Luther bezeichnen den Umschwung in den Mitteln der neuen Kultur; nun erst ward die Bevormundung des Geistes gebrochen und die Erde dem Menschen zum neuen Eigentum gegeben; und nun gelang es auch den Denkern, die Stelle zu finden, an der die Erscheinungen der Natur sich in mathematische Gesetze fassen ließen. Denn daran hatte es Platon gefehlt; daß die Natur nur mathematisch zu realisieren sei, hatte er gelehrt; aber wie und wo diese


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