Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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      Rudolf Stratz

      Gib mir die Hand

      Achte Auflage

      Saga

      Gib mir die HandCopyright © 1904, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507049

      1. Ebook-Auflage, 2019

       Format: EPUB 2.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

      Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

      I

      Und immer wieder das gleiche Bild . . . dieselbe eintönig gewellte, uferlose südrussische Steppe, zur Rechten des langsam in der Sommerglut dahinrollenden Eisenbahnwagens wie zur Linken, kein Baum . . . kein Strauch . . . selten einmal in eine Talfalte am Tümpel hingeduckt ein ärmliches Dorf, das weissliche Gesprenkel einer weidenden Herde . . . und wieder die Einsamkeit — das Schweigen . . . das Geflimmer der vor Hitze zitternden Luft über dem ausgedörrten braungebrannten Boden, der fahle Staub- und Dunstschleier am Horizont . . . darüber der ewig blaue, feueratmende Augusthimmel Bessarabiens und, in seiner lähmenden Sonnenflut als das einzig Lebende, wie eine vielgliedrige, träge schwarze Schlange durch die Heide sich bewegend, der Auslandzug von Podwoloczyska, der russischen Grenze, nach Odessa.

      Nahezu zwanzig Stunden waren vergangen, seit die Reisenden, noch drüben im Österreichischen, bei der Festung Przemysl, die letzte Stadt gesehen. Seitdem gab es nur noch die Holzgebäude der Stationen mit ihren Beamten, ihren Kellnern, ihren massenhaften zerlumpten Juden; aber gleich dahinter lugte, kaum durch eine kleine menschliche Ansiedlung unterbrochen, die ewige Steppe hervor und begleitete den Zug, bis die Sonne sank, und umgab ihn im Mondschein mit ihren Hügeln und Tälern und war am nächsten Morgen, im Frühtau funkelnd, von steigenden Lerchen belebt, erst recht wieder da und wiegte den, der ermüdet von der Fahrt lange genug in ihre Unendlichkeit hinausschaute, allmählich in die russische Grundstimmung ein . . . das Weite . . . das Unfassbare . . . die träumerische Schwermut . . . die willenlose Ergebung . . . das Ineinanderfliessen der Dinge am Horizont der Steppe wie des Lebens. Eine tiefe Mattigkeit . . . Hoffnungslosigkeit . . . schliesslich ist alles eitel . . . alles vergeblich . . . alles ein Spiel von Luft und Wind, wie die Rauchwolken der Lokomotive vor dem Fenster, die sich zu Gestalten und Reigen einen und grüssend vorbeischweben und, wenn man ihnen nachblickt, draussen über dem versengten Unkraut und Gestrüpp des Bodens zerflattern und in Nichts zergehen . . .

      In dieser Stimmung sah Lisa Sandbauer, im Wagengang stehend, durch das Fenster vor sich in die Weite, wo längs des Bahnkörpers endlos ein Holzgatter dahinglitt und die Telegraphenpfähle vorbeihuschten. So war ihr schon zu Mut gewesen von dem Augenblick ab, wo der Zug an der russischen Grenze angelangt war. Die Luft, die da auf einmal im Zollsaal, auf dem Bahnsteig, überall sich bemerkbar machte, dieser eigentümliche, im ganzen weiten Zarenreich gleichmässige Geruch von Zigarettenrauch, Stiefelschmiere, Holz und Staub, hatte sich ihr beklemmend auf die Brust gelegt, der erste Anblick der dunkelgrünen Uniformen und weissen Schirmmützen, die ersten slawischen Worte ihr einen schweren Seufzer abgerungen. Ja — nun war man wieder in Russland. Wieder daheim . . . in der Fremde!

      Es war ihr selbst unerklärlich, warum sie jetzt, wo sie sich Odessa näherte, das Gefühl hatte, in das Ausland zurückzukehren, statt von dort zu kommen. Sie sagte sich vergeblich: Mein Grossvater hat doch schon in Odessa gewohnt, mein Vater ist in Odessa geboren, ich selbst . . . dort lebt mir mein Mann . . . dort liegt mein Kind begraben . . . dort hab’ ich meine Geschwister und Freunde . . . wir sind immer in Odessa gewesen . . . mir haben uns dort durch drei Menschenalter deutsche Sprache und Art bewahrt — wie kommt es, dass ich — ich allein — mich dort immer so einsam und verlassen fühle? . . .

      Und eine zweite Frage stieg in ihr auf: und wo möchtest du sein, wenn nicht dort? Und sie wusste keine Erwiderung und wusste keinen Ort. Man war wohl überall fremd. Das war ein Schicksal. Das trug man mit sich, wohin man ging. Es war unrecht, eine Stadt oder sonst etwas dafür verantwortlich zu machen, ausser sich selbst. Sie nickte trübe. Draussen vor den Fenstern tanzten immer noch die Rauchwirbel — die Steppe stieg und sank mit ihren Hügelfalten im glühenden Sonnenbrand — der Himmel stand blau darüber — ein Dörfchen zog vorbei — ein paar verwilderte Bauern fuhren auf kleinen Wagen des Wegs, lange weisse Staubwolken hinterher . . . und wieder die Steppe . . . das langsame, einschläfernde Rollen des Zuges . . . das Gefühl eines müden Sichdahintragenlassens, wohin es dem Schicksal gefiel . . . weiter . . . immer weiter . . . und schliesslich zum Ende. Und war man einmal dort, dann war es ja ganz gleich, was vorher gewesen . . .

      Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Wand des Wagengangs. Hinter den niedergeschlagenen Lidern fühlte sie noch das rötliche Licht der Sonne und empfand durch den Staubmantel hindurch ihre Wärme am ganzen Körper, Das war angenehm, belebend und einschläfernd zugleich. Ihre Züge ermatteten. Sie hob die Wimpern nicht. Still stand sie da. Sie wollte sich betäuben — sich über die so entsetzlich träge schwindenden Minuten hinwegtäuschen, bis man endlich . . . endlich in Odessa war.

      Da hörte sie plötzlich neben sich eine Stimme: „Ich habe die Ehre, gnädige Frau! Ich wünsche guten Morgen . . .!“ und erkannte, unwillkürlich zusammenfahrend und in den Schatten tretend, in dem jungen Mann, der sich tief vor ihr verbeugte, den Direktor Karl Görwihl, den Vertreter einer englischen Weltfirma für Südrussland. Er war Reichsdeutscher und Reserveoffizier. Darum redete er sie auch nicht, wie es sonst allgemein in der Odessaer deutschen Kolonie Brauch, mit „Madame“, sondern mit „gnädige Frau“ an.

      „Eine heisse, anstrengende Fahrt — nicht wahr?“ sagte der junge Kaufmann lächelnd. Ich bin gottlob erst vorhin in Shmerinka eingestiegen . . . auf der Rückehr von einer kurzen Geschäftsreise. Darum wusste ich gar nicht, dass Sie mit im Zug waren.“

      „Ich habe ein Coupé für mich!“

      „Also fahren Sie schon von der Grenze ab mit?“

      „Ja. Schon seit Wien.“

      „Sie waren ja sehr lange im Auslande, gnädige Frau! Dass Sie wegreisten . . . das war . . . wenn ich mich nicht täusche, doch gleich nach Weihnachten alten Stils . .?“

      „Ja. Ich bin beinahe acht Monate verreist gewesen!“

      „Und jetzt, zu Anfang August, bei dieser afrikanischen Hitze, kommen Sie zurück?“

      „Mein Mann hat mir telegraphiert, ich müsse auf alle Fälle in der Nähe sein. Es geht seinem Vater auf einmal viel schlechter . . .“

      „Oh — was Sie sagen! Sein Zustand war ja leider schon lange ernst?“

      „Ja. Und nun ist plötzlich ein Zusammenbruch, ein allgemeiner Kräfteverfall eingetreten . . . Mein Schwiegervater schonte sich ja ohnedies nie!“

      „Freilich nicht! Und gerade jetzt . . . die Geschäfte . . . die Ungewissheit . . . die kritische Lage des Handels! Ich habe oft schon von meinem Freunde Roloff gehört, wie viel Sorgen er sich um den alten Herrn macht!“

      „Roloff — wer ist denn das?“

      „Das ist doch seit einem halben Jahre seine rechte Hand, gnädige Frau!“

      „So?“

      „Wissen Sie davon gar nichts? Hat Ihr Gatte Ihnen auch nichts davon mitgeteilt?“

      „Nein! Mein Mann schreibt mir nie über Geschäfte. Es interessiert mich auch nicht . . . im allgemeinen . . . Wo kommt denn dieser Herr Roloff her?“

      Der andere lächelte ein wenig eigentümlich. „Das weiss man nicht, gnädige Frau. Aber jedenfalls hat er ganz neues Leben in das Geschäft gebracht . . . Sie können sich denken, wie wichtig das ist, in diesem Augenblick, wo alles sozusagen schon auf des Messers Schneide steht!“

      „Ja — was ist denn eigentlich los? Es ist mir schon unterwegs aufgefallen: der ganze Zug ist voll Grosskaufleute, die nach Odessa


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