Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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seltener. Man konnte ruhig durch die Stadt sahren. Lisa und ihr Gatte stiegen ein, nachdem das Gepäck besorgt war, und der Wagen rollte eilends dahin. Sie sassen stumm nebeneinander. Das scharfe Rasseln der Räder erschwerte ohnedies. Die Unterhaltung und dann — wovon sprechen? Sie hatte ihrem Mann so wenig — oder so viel zu sagen.

      Einmal begann sie: „Wie geht es meinem Vater? Und meiner Schwester? Hast du sie in letzter Zeit vielleicht gesehen?“

      Nicolai nickte nur.’’ „Es ist dort soweit alles in Ordnung!“ Er ging nicht weiter auf dies Thema ein. Sein Schwiegervater, dieser herabgekommene Ehrenbürger und ehemalige Kaufmann erster Gilde — jetzt ein fadenscheinig gekleidetes, verbittertes, meist in schlechter Gesellschaft sich herumtreibendes Männchen, war ihm nicht nur gesellschaftlich und geschäftlich, sondern auch ästhetisch ein wahrer Greuel. Er hasste alles, was verwahrlost und deklassiert war — dann schon lieber eine Kugel vor den Kopf, war seine innerste Meinung — und er rechnete es sich hoch an, dass er sich seiner Frau gegenüber nie, auch nicht mit einem Worte, über ihre Familie beklagte, obwohl sie täglich merken musste, wie lästig ihm die fiel, da der Alte zum grössten Teil aus seiner Tasche lebte.

      Lisa kämpfte inzwischen mit sich, ob sie nicht ihren Mann noch eingehender nach dem Zustand seines Vaters fragen sollte. Eigentlich hätte es sich gehört. Aber sie brachte es nicht fertig — nicht aus Mangel an Teilnahme für den alten Herrn, den sie, wenn sie ihn auch ein wenig fürchtete, doch gern hatte und der immer in seiner stillen Art gut und freundlich zu ihr gewesen war, sondern aus Angst vor Nicolais Heuchelei. Sie wusste ja: der Schmerz, den er dann sofort zur Schau trug, war nicht echt, war eine der vielen Posen, in denen er sich spiegelte. Er war ja von Natur nicht böse — eher ein gutmütiger weicher Mensch, der sich in allem nachgab und auch anderen alles verzieh — aber er brannte doch seit Jahren darauf, endlich einmal, als Mann zu Mitte der Dreissig, unabhängig zu werden und frei von dem schweren Druck des väterlichen Willens zu disponieren und zu spekulieren.

      Und darin hatte er eine glückliche Hand! Meistens gelang, was er angriff, wenn es auch noch so leichtsinnig begonnen war. Zufall! sagten die Bedächtigen und zuckten die Achseln. Gewiss! Er hatte das Schicksal auf seiner Seite. Vielleicht gerade weil er sich immer den Anschein gab, als mache er sich nichts daraus. Waren die anderen Kaufleute ernst und geängstigt, so behandelte er das Geschäft von oben herab, in einer ritterlich sorglosen Art, eine geborene Spielernatur und ein Genussmensch. Das war es, was ihn von all den übrigen unterschied. Die mühten sich ab . . . die waren einseitig, schwerfällig . . . rasch verbraucht . . . er, obwohl er ihren Gesichtskreis und ihren Beruf teilte, obwohl der Erfolg ihm bisher auch bei gewagten Unternehmungen Recht gegeben hatte, stand über diesen Dingen. Er hatte Interessen, die jenseits von Weizen und Petroleum, von Rohzucker und Rindshäuten lagen . . . er verstand die Feinheiten des Lebens, seine letzten unnützen und reizenden Blüten und Spitzen, er verstand das vornehme Nichtstun in dieser keuchenden Welt der Arbeit und des Geldverdienens, er verstand die Frauen, die einsam in dieser Welt leben mussten. Er war ihnen innerlich wesensverwandt. Das war es, was ihn auch seiner eigenen Frau gegen ihren Willen unwiderstehlich immer wieder nahe brachte. Sie konnte sich seinem Einfluss nicht entziehen. Sie wusste: sie kannte ihn, und glaubte und hoffte es doch selbst nicht, und war im Unglück glücklich unter dem Zwang der Vorstellung, dass er doch noch für sie ein Rätsel und in seinem Letzten und Besten etwas anderes sein müsse, als was er ihr erschien: ein sonniger Egoist.

      Lisa Sandbauer schreckte aus ihren Gedanken auf. Der Wagen hielt auf einem freien Platz. Der Tatar und der Grossrusse auf dem Bock stritten sich mit einem Stadtsoldaten, der sie nicht weiterfahren lassen wollte. Nicolai hörte, sich über den Kutschenschlag beugend, ärgerlich zu.

      „Nun hab’ ich eigens den Umweg durch die innere Stadt machen lassen,“ sagte er zu seiner Frau. „Und nun war gerade hier wieder vor einer Viertelstunde ein Krawall. Sieh nur diese unglaublichen Kerle an.“

      An ein paar Branntweinschenken rechts und links waren Fenster und Türen eingeschlagen. Einige zertrümmerte Fässchen lagen davor in einer gewaltigen wasserhellen Pfütze von Kornschnaps, auf deren Spiegel Massen von Daunenfedern schwammen, wie sie auch sonst überall in der Luft stäubten. Zwei oder drei zerlumpte Gestalten waren daneben unbeweglich wie tot ausgestreckt. Doch sah man an ihnen keine Verletzung. Sie waren nur sinnlos berauscht. Hunderte von ähnlichen verwilderten Kerlen lungerten scheu und finster in der Entfernung an den Strassenecken, bereit, beim ersten Anreiten der paar Kosaken, die in der Mitte des Platzes hielten, weiter zu flüchten.

      Nicolai warf seine ausgerauchte Zigarette zum Wagen hinaus. „Der Strolch dort trägt doch wahrhaftig eine rote Fahne! Es wird immer schöner. Was das wieder für ein Teich von Branntwein ist, den die Kerle haben aus den Fässern laufen lassen! Und diese beinahe zu Tod betrunkenen Schwarzarbeiter daneben . . . ! Eine nette Gesellschaft! Uns gehen sie aus dem Hafen mitten in der Arbeit weg . . . lassen das Schiff halbgeladen und die Getreidesäcke am Kai liegen . . . und hier treiben sie Unfug! . . . Früher hat ein Gouverneur einmal an einem Tag an die Schwefelbande siebzigtausend Rutenhiebe austeilen lassen . . . das half . . .“

      „Wir wollen lieber umkehren!“ bat Lisa. Ihr Mann war nichts weniger als ängstlich von Natur und so war auch sie es nicht, zumal sie ja diese „Barfüssler“, die überall im Strassenleben Odessas hervorstechenden Hafenarbeiter und Hafenstrolche, genau kannte. Im allgemeinen galten diese wirrmähnigen und wirrbärtigen, von Kopf bis zu Fuss von Kohlenstaub geschwärzten, abenteuerlich mit Fetzen und Lumpen von alten Kohlensäcken und Schafpelzen behangenen oder im Sommer unten zwischen den Schiffen halbnackt herumlaufenden Wildlinge aller Stände und Rassen trotz ihrer von Schnapsgenuss stieren Augen und ihrer fürchterlichen, in keiner anderen Sprache erhörten Schimpfworte hier oben in der Stadt und bei Tag für unschädlich, wenn sie auch niemand in der Nacht in ihren Verstecken unter freiem Himmel, zwischen dem Hafengerümpel und in den Erdhöhlen am Meer ohne Lebensgefahr aufsuchen konnte. Anders war das jetzt, wo sie trunken und aufgeregt waren.

      Aber in diesem Augenblick erhielten die Kosaken Verstärkung. Man hörte aus der Ferne den im Galopp sich nähernden kurzen Hufschlag auf dem Pflaster und ehe noch die Reiter, über den Hals der Pferde gebeugt, die Peitsche in der gesenkten Rechten, funkensprühend heranstoben, huschte das barfüssige Gesindel lautlos auseinander und verschwand auf unbegreifliche Weise in allerhand Schlupfwinkeln. Im Nu waren der Platz und die Strassen leer. Der Wagen konnte weiterfahren.

      Nicolai schaute noch einmal nach rückwärts. „Da hätte nun Herr Roloff hingehört!“ sagte er unvermittelt und ironisch zwischen den Zähnen.

      Roloff! Lisa entsann sich, dass der Direktor Karl Görwihl in der Eisenbahn ihr schon von dieser neuen Stütze der Firma Sandbauer und Sohn gesprochen. „Wer ist denn der Herr Roloff eigentlich?“ frug sie.

      „Roba Roloff?“ Ihr Mann lachte kurz auf und zuckte die Achseln. „Darüber reden wir, wenn wir zu Hause sind! Hier ist nicht der Ort dazu! Man versteht ja auch sein eigenes Wort nicht vor diesem Rädergerassel.“

      Eine Weile rollte die Equipage noch auf den harten Kopfsteinen dahin, dem einzigen Pflaster, das der Sonnenglut Odessas widerstand, wenn der Asphalt auf dem Boulevard vor Hitze breiig weich wurde und der flüssige Teer zwischen den Holzwürfeln hervorquoll. Dann wehten ihnen mächtige weisse Wolken entgegen, die Fahrt wurde plötzlich lautlos in dem tiefen Staub; man war ausserhalb der Stadt, auf dem Weg zu der Kleinen Fontäne.

      Hier befand sich, wohl eine Stunde weit zwischen der Strasse und dem Schwarzen Meer ausgedehnt, das Villenviertel der internationalen Grosskaufmannschaft Odessas. Schon die Namen der Eigentümer, die an jedem Parktor standen, gaben ein Bild davon, wie sich in der Entwicklung der Stadt die einzelnen Nationen, Schicht auf Schicht übereinander gelagert, sich gegenseitig abgelöst oder auch in gemeinsamer Arbeit gefunden hatten. Besassen doch in den früheren Zeiten Odessas die einzelnen Völker ihre eigenen Strassen, die Franzosen, nach denen zwei der grössten Verkehrsadern die Namen „Richelieu“ und „de Ribas“ führten, die Schwarzwälder Deutschen, die die Schmiede- und die Wagnerstrasse innehielten, die Griechen, die Italiener, deren Einfluss eine Zeitlang so mächtig war, dass noch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Italienisch die vornehmste Umgangssprache bildete und bis in die siebziger Jahre die Strassennamen an den Ecken italienisch angeschrieben waren. Dazu kamen dann die Polen, die Hebräer in Menge,


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