Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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Fußball in der Public School Eton.
Das Dribbelspiel setzte sich durch. Das lag hauptsächlich an Regel sechs, dem Vorläufer der Abseitsregel: „Hat ein Spieler den Ball gespielt, ist jeder, der näher zur Torlinie steht, aus dem Spiel und darf den Ball selbst nicht berühren oder auf irgendeine Weise einen anderen Spieler daran hindern, bis er wieder im Spiel ist …“ Mit anderen Worten: Pässe mussten entweder quer oder nach hinten gespielt werden.
Das Dribbeln selbst unterschied sich deutlich von unseren heutigen Vorstellungen. In seiner Geschichte des FA-Pokals zitierte der vor einigen Jahren verstorbene Fußballberichterstatter der Times, Geoffrey Green, einen unbekannten Autor der 1870er Jahre: „Ein wirklich erstklassiger Spieler … wird niemals den Ball aus den Augen verlieren, während er gleichzeitig seine Aufmerksamkeit auf das Ausspähen von etwaigen Löchern in den Reihen des Gegners oder Schwachpunkten in dessen Verteidigung richtet, was ihm eine ausgezeichnete Gelegenheit eröffnet, das angestrebte Tor zu erreichen. Zu sehen, wie manche Spieler einen Ball durch einen Kreis gegnerischer Beine führen und lenken und sich dabei ganz nach Lage der Dinge drehen und wenden, ist ein unvergesslicher Anblick. … Die Fähigkeit zu dribbeln … erfordert einiges mehr als einen vorwärts gerichteten, furchtlosen und mit dem Kopf voran ausgeführten Ansturm auf die Feste des Gegners; es setzt ein schnelles Auge zum Entdecken von Schwachstellen und den Intellekt zum Abwägen der Möglichkeiten eines erfolgreichen Durchbruchs voraus.“ Oberflächlich betrachtet, klingt dies eher wie eine einfache Form des modernen Rugby, nur ohne Handspiel.
Die Taktik – wenn man es denn so nennen will – war ähnlich simpel, auch nachdem die Zahl der Spieler auf elf festgelegt worden war. Die Mannschaften jagten ganz einfach dem Ball hinterher. Erst in den 1870er Jahren wurde die Position des Torhüters überhaupt allgemein anerkannt, und erst ab 1909 trug er ein Hemd in einer Farbe, die ihn vom Rest seiner Mannschaft unterschied. Es dauerte noch bis 1912, bis man sein Handspiel auf den eigenen Strafraum beschränkte. Diese Regeländerung wurde eingeführt, um die Angewohnheit des Torhüters Leigh Richmond Roose von Sunderland zu unterbinden, den Ball bis zur Mittellinie zu schleppen. Wenn es in jenen Kindheitstagen des Fußballs überhaupt ein System gab, dann eines mit zwei oder drei Abwehrspielern und acht oder neun Stürmern.
Regel sechs wurde zwar 1866 nach der Versammlung von Eton geändert und gestattete nun einen Pass nach vorne, vorausgesetzt, dass beim Abspiel mindestens drei Spieler der verteidigenden Mannschaft zwischen dem Spieler und dem gegnerischen Tor standen (also einer mehr als bei der heutigen Abseitsregel). Das scheint aber für diejenigen, die mit dem Dribbelspiel aufgewachsen waren, kaum einen Unterschied gemacht zu haben. Noch in den 1870er Jahren schrieb Charles W. Alcock, einer der führenden Spieler und Funktionäre der ersten Stunde, geradezu missionarisch über das „bedeutende und wichtige Prinzip des Abdeckens. Mit ‚Abdecken‘ möchte ich selbstverständlich dahingehend verstanden werden, dass ich damit meine, dem Mitspieler dicht zu folgen, um ihm nötigenfalls beizustehen oder den Ball zu übernehmen, falls er angegriffen oder auf andere Weise auf seinem Weg nach vorne aufgehalten werden sollte.“ Selbst ein Jahrzehnt nach Gründung der FA hielt es also einer ihrer Gründungsväter noch für notwendig, den anderen die Idee zu erläutern, zu einem stur in Richtung Tor rennenden Mitspieler zu laufen und ihm zu helfen – zu erwarten, den Ball von diesem dann auch freiwillig zugespielt zu bekommen, wäre wohl zu diesem Zeitpunkt noch zu viel verlangt gewesen.
So trug es sich zumindest im Süden zu. Der Norden machte seine ganz eigene Entwicklung durch. Im Süden von Yorkshire wurde am 24. Oktober 1857 der FC Sheffield gegründet. Sein ursprünglicher Zweck bestand darin, Kricket-Spielern die Möglichkeit zu geben, sich während des Winters fit zu halten. Am zweiten Weihnachtsfeiertag jenes Jahres wurde das allererste Spiel zwischen zwei Vereinen überhaupt durchgeführt, bei dem Sheffield den FC Hallam mit 2:0 besiegte.
Der Sport verzeichnete ein enormes Wachstum. Innerhalb von fünf Jahren waren Zuschauerzahlen von mehreren Hundert üblich, während in der Gegend im gleichen Zeitraum 15 Vereine gegründet wurden. Der FC Sheffield zeichnete sein eigenes Regelwerk auf, das man 1862 veröffentlichte. Neben dem Einfluss der Privatschulen Harrow, Rugby und Winchester ist besonders bemerkenswert, dass das Abseits mit keinem Wort erwähnt wurde. Allerdings scheint es eine solche Regel gegeben zu haben. Als nämlich William Chesterman, seines Zeichens Geschäftsführer des FC Sheffield, am 30. November 1863 an die gerade gegründete Football Association schrieb und den Beitritt seines Vereins sowie seinen Beitrag zur Regeldiskussion verkündete, hieß es: „Wir haben nicht im Entferntesten eine gedruckte Regel wie Eure Nr. 6, aber ich habe eine Regel in das Buch geschrieben, nach der wir stets spielen.“
Was das genau bedeutete, bleibt ungewiss. Sheffield erkannte die Abseitsregel erst 1865 als Teil eines Kuhhandels in Sachen Regeln im Vorfeld eines Spiels gegen Notts County formell an. Allerdings musste dabei lediglich ein verteidigender Spieler näher zum Tor stehen als der Stürmer, dem der Ball zugespielt wurde, damit Letzterer nicht im Abseits stand. Der Nutzen des Passspiels war damit deutlich höher. Gleichwohl bleibt es fraglich, in welchem Umfang die damit verbundenen Möglichkeiten tatsächlich genutzt wurden.
Das Angebot von Sheffield wurde seitens der FA nicht beantwortet. So existierten einige Jahre lang zwei Regelwerke – oder genauer gesagt: zwei Hauptregelwerke, da es in Nottingham und anderen Städten weitere Unterarten gab. Am 31. März 1866 trafen Vertreter dieser beiden Richtungen im Battersea Park in einem Spiel zwischen London und Sheffield erstmals aufeinander. London gewann mit 2:0. Zeitgenössischen Berichten zufolge sei London zwar die gewandtere Mannschaft gewesen, durch das körperbetonte Spiel Sheffields allerdings gehörig aus dem Konzept gebracht worden.
Nach vielem Hin und Her über die Frage, nach wessen Regeln gespielt werden solle, führte Alcock im Dezember 1871 eine Elf aus London nach Sheffield. In einem Spiel nach den Regeln von Sheffield gewann die Heimmannschaft mit 3:1. Der Sieg wird gewöhnlich der Tatsache zugeschrieben, dass sie über ein organisiertes Spielsystem verfügte. In Verbindung mit der freizügigeren Abseitsregel mag man dabei nun zwar auf ein Passspiel schließen, doch offenbar war das Dribbeln in Sheffield noch stärker ausgeprägt als in London. Percy M. Young zufolge, dem Autor von Football in Sheffield, „war sich Alcock der Vorzüge eines gut platzierten Passes wohl bewusst (während die Spieler der Heimmannschaft die etwas einfachere und direktere Methode anwendeten, ihre Kameraden zu ignorieren und bei jeder sich bietenden Gelegenheit direkt auf das Tor zuzustürmen). Das filigrane Kombinationsspiel zwischen Alcock und Charles Chenery war für 2.000 entzückte Zuschauer eine Offenbarung.“ Es sollten noch 18 weitere Vergleiche stattfinden, bis man Sheffield 1878 endlich in den Schoß der FA aufnahm.
Obgleich es keine Kultur des Passspiels in Sheffield gegeben haben mag, scheint man dort doch den Ball lang nach vorne geschossen zu haben, um ihn aus der eigenen Verteidigung zu bekommen. Geoffrey Greene berichtet in The World Game, dass die Zuschauer es als „eher belustigend denn bewundernswert“ empfunden hätten, als die Spieler Sheffields 1875 bei einem Schaukampf in London begannen, „den Ball mit ihren Köpfen zu stoßen“. In einem reinen Dribbelspiel hätte der Ball jedoch den Boden niemals verlassen, es sei denn, man hätte ihn – eventuell – über ein angreifendes Bein heben wollen. Kopfbälle wären jedoch nur geboten gewesen, wenn die Bälle auch eine gewisse Strecke in der Luft zurücklegten.
Der Jahresbericht des schottischen Fußballverbandes von 1878 machte deutlich, worum es ging: „Dass das Spiel ein sehr umkämpftes war und dass der Sieg an die bessere Mannschaft ging, wird wohl niemand bestreiten wollen; dass es sich aber um ein schönes Spiel mit unzähligen Demonstrationen kombinierten Dribbelspiels gehandelt hätte, welches die schottischen Mannschaften sonst regelmäßig von allen anderen abgehoben hat, werden nur wenige zugeben wollen. … Man kann sich der Tatsache nicht verschließen …, dass die von der Mannschaft Sheffields am Sonnabend angewandte Taktik insofern zum Teil der Grund dafür war, als man dort mit Regeln spielt, die von den Regelwerken der englischen und schottischen Verbände abweichen, und dass unsere ‚Abseits‘-Regel bei ihnen das Papier, auf dem sie geschrieben steht, fast nicht wert ist. Solcherart gab man sich am Sonnabend auf ihrer Seite den langen Bällen