Die Jahre. Virginia Woolf
sie einander sehr gern; und dennoch stritten sie immer.
»Gute Nacht und schlaf gut!« sagte Mrs. Malone. »Ich seh’ es nicht gern, wenn deine Wangen die Farbe verlieren«, fügte sie hinzu und schlang diesmal den Arm um sie.
Sie saß ganz still, als Kitty gegangen war. Rose ist tot, dachte sie, – Rose, die ungefähr in ihrem eignen Alter war. Sie las das Billett nochmals. Es war von Edward. Und Edward, sann sie, ist verliebt in Kitty, aber ich weiß nicht, ob ich möchte, daß sie ihn heiratet, dachte sie, nach der Sticknadel greifend. Nein, nicht Edward ... Da war dieser junge Lord Lasswade ... Das wäre eine gute Partie. Nicht, daß mir an Reichtum für sie liegt und auch nicht an Rang, dachte sie, die Nadel einfädelnd. Nein, aber er könnte ihr alles geben, was sie nur will ... Und was war das? ... Spielraum, Ellbogenfreiheit, entschied sie und begann zu sticken. Dann wandten sich ihre Gedanken abermals Rose zu. Rose war tot, Rose, die ungefähr in ihrem Alter war. Das mußte das erste Mal gewesen sein, daß er ihr einen Antrag machte, dachte sie, damals an dem Tag, wo wir das Picknick in den Bergen hatten. Es war ein Frühlingstag. Sie saßen alle im Gras. Sie konnte Rose sehn, in einem schwarzen Hut mit einer Hahnenfeder auf ihrem hellroten Haar. Sie konnte sie noch immer sehn, wie sie errötete und außerordentlich hübsch aussah, als Abel ganz überraschend herangeritten kam – er war in Scarborough in Garnison – an dem Tag, wo sie das Picknick in den Bergen haften.
In dem Haus in der Abercorn Terrace war es sehr dunkel. Es roch stark nach Frühlingsblumen. Seit einigen Tagen schon türmten sich Kränze auf dem Hallentisch. In dem Dämmerlicht – alle Rollgardinen waren herabgezogen – schimmerten die Blumen; und die Halle duftete mit der verliebten Heftigkeit eines Treibhauses. Kranz auf Kranz wurde abgeliefert. Lilien mit breiten Stäbchen von Gold im Innern; andre mit geflecktem Schlund, klebrig von Seim; weiße Tulpen, weißer Flieder – Blumen aller Arten, manche mit Blütenblättern so dick wie Samt, andre durchscheinend, papierdünn; aber alle weiß und zusammengedrängt, Kopf an Kopf, zu Kreisen, zu Ovalen, zu Kreuzen, so daß sie kaum noch aussahn wie Blumen. Schwarzgeränderte Karten waren an ihnen befestigt: »Mit innigem. Beileid von Major und Mrs. Brand«; »Mit liebevoller Anteilnahme, Mrs. Elkin«; »Meiner liebsten Rose von Susan«. Jede Karte trug ein paar darauf geschriebene Worte.
Sogar jetzt noch, wo der Furgon schon vor der Tür stand, klingelte es; ein Botenjunge brachte noch mehr Lilien. Er nahm sein Käppi ab, als er da in der Halle stand, denn die Männer von Whiteley kamen mit dem Sarg die Treppe herabgeschwankt. Rosie in tiefem Schwarz, von der Kinderfrau angeleitet, trat vor und legte ihr Veilchensträußchen auf den Sarg. Aber es glitt herab, als der Sarg auf den schrägen Schultern der Männer hinunterschwankte über die von der Sonne hell beleuchteten Türstufen. Die Familie folgte hinterdrein.
Es war ein unsicherer Tag mit vorüberziehenden Schatten und huschenden Strahlen hellen Sonnenscheins. Das Leichenbegängnis begann im Schritt. Delia, die mit Milly und Edward in den zweiten Wagen stieg, bemerkte, daß im Haus gegenüber die Gardinen aus Mitgefühl herabgelassen waren, aber ein Dienstmädchen spähte hinter ihnen hervor. Die andern, so bemerkte sie, schienen dies nicht zu sehn; sie dachten an die Mutter. Als sie in die breite Straße gelangten, beschleunigte sich das Tempo, denn es war eine lange Fahrt bis zum Friedhof. Durch den Spalt des Wagenvorhangs bemerkte Delia Hunde, die sich balgten; einen Bettler, der sang; Männer, die den Hut hoben, als der Leichenwagen an ihnen vorbeifuhr. Aber als dann ihr eigener Wagen vorbeikam, waren die Hüte schon wieder auf den Köpfen. Männer schritten lebhaft und unbekümmert den Gehsteig entlang. Die Schaufenster waren schon bunt von Frühjahrskleidern; Frauen blieben stehn und betrachteten sie. Aber sie selbst würden nichts als Schwarz tragen dürfen, den ganzen Sommer, dachte Delia, auf Edwards kohlschwarze Hose blickend.
Sie sprachen kaum oder nur in förmlichen Sätzchen, als nähmen sie bereits an der Zeremonie teil. Irgendwie hatten sich ihrer aller Beziehungen verändert. Sie waren alle rücksichtsvoller und gaben sich auch ein wenig gewichtiger, als hätte ihnen der Tod der Mutter neue Verantwortungen auferlegt. Aber die andern wußten, wie sich benehmen; nur sie mußte sich dazu anstrengen. Sie blieb außerhalb, und auch ihr Vater blieb außerhalb, dachte sie. Als Martin beim Tee plötzlich mit einem Lachen herausgeplatzt war und dann verstummte und schuldbewußt dreinsah, da hatte sie gefühlt – das ist es, was Papa täte, das ist es, was ich selbst täte, wenn wir aufrichtig wären.
Sie blickte wieder durch das Wagenfenster hinaus. Wieder hob ein Mann den Hut – ein hochgewachsener Mann, ein Mann in einem Gehrock, aber sie nahm sich vor, nicht an Mr. Parnell zu denken, bis das Begräbnis vorbei wäre.
Endlich erreichten sie den Friedhof. Als sie ihren Platz in der kleinen Gruppe hinter dem Sarg einnahm und durch das Kirchenschiff nach vorn ging, entdeckte sie mit Erleichterung, daß sie von einer verallgemeinerten und feierlichen Gemütsbewegung überkommen war. Leute standen zu beiden Seiten in der Kirche, und sie fühlte alle diese Augen auf sich. Dann begann die Zeremonie. Ein Geistlicher, ein Verwandter, nahm sie vor. Die ersten Worte kamen wie ein Aufrauschen außerordentlicher Schönheit. Als Delia so hinter ihrem Vater stand, bemerkte sie, wie er sich zusammenraffte und die Schultern zurücknahm.
»Ich bin die Auferstehung und das Leben.«
Nach diesen Tagen des Zusammengepferchtseins in dem nur halberhellten Haus, das nach Blumen roch, erfüllten die offen ausgesprochenen Worte sie mit seligem Triumph. Ja, das konnte sie aufrichtig empfinden; das war etwas, das sie selbst sagte. Aber dann, als Cousin James weiterlas, entglitt etwas. Der Sinn verwischte sich. Sie konnte mit ihrem Verstand nicht folgen. Dann kam, mitten in der Beweisführung, wieder ein Schwall vertrauter Schönheit. »Und schwindet jäh dahin wie das Gras, das grün ist am Morgen und wachset; und ist am Abend abgemähet und welket und verdorret.« Die Schönheit, die darin lag, die konnte sie empfinden. Wieder war es wie Musik; aber dann schien Cousin James zu hasten, als glaubte er nicht so recht an das, was er sagte. Er schien von Bekanntem auf Unbekanntes überzugehn; von dem, was er glaubte, auf das, was er nicht glaubte; sogar seine Stimme änderte sich. Er sah sauber aus, er sah gestärkt und gebügelt aus wie sein Gewand. Aber was meinte er mit dem, was er sagte? Sie gab es auf. Entweder man verstand es oder man verstand es nicht. Ihre Gedanken schweiften ab.
Aber ich will nicht an ihn denken, bis es vorbei ist, dachte sie und sah dabei einen hochgewachsenen Mann, der neben ihr auf einer Rednertribüne stand und grüßend seinen Hut lüpfte. Sie richtete den Blick auf ihren Vater. Sie beobachtete ihn, wie er ein großes weißes Taschentuch an die Augen drückte und es dann in die Tasche steckte; dann zog er es hervor und betupfte sich abermals die Augen damit. Dann verstummte die Stimme; er steckte sein Taschentuch endgültig in die Tasche; und wieder formierten sie sich alle, die kleinen Gruppen der Familie, hinter dem Sarg, und wieder erhoben sich zu beiden Seiten die dunkeln Gestalten und sahn ihnen zu und ließen sie vorausgehn und folgten hinterdrein.
Es war eine Erlösung, zu fühlen, wie ihr die weiche, feuchte Luft ihren laubigen Geruch ins Gesicht wehte. Aber nun, da sie im Freien war, begann sie wieder Dinge wahrzunehmen. Sie gewahrte, wie die schwarzen Trauerpferde ungeduldig stampften; sie scharrten kleine Gruben in den gelben Kies. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß Trauerpferde aus Belgien kämen und sehr bösartig seien. Sie sahen bösartig aus, dachte sie; ihre schwarzen Hälse waren von Schaum gefleckt – aber sie rief ihre Gedanken zurück. Alle gingen sie nun, einzeln und zu zweit, einen Weg entlang bis zu einem frischen Hügel gelber Erde, der neben einer Grube aufgehäuft war; und hier wieder gewahrte sie, wie dieTotengräber in einiger Entfernung standen, ein wenig hinten, mit ihren Spaten.
Es entstand eine Pause; immer noch kamen Leute und stellten sich hinzu, einige ein wenig höher, einige ein wenig tiefer. Sie beobachtete eine ärmlich aussehende, schäbige Frau, die am Außenrand umherschlich, und sie versuchte sich zu erinnern, ob sie irgendein alter Dienstbote sei, aber es fiel ihr kein Name ein. Ihr Onkel Digby, der Bruder ihres Vaters, stand ihr gerade gegenüber, mit seinem Zylinderhut, den er wie ein geweihtes Gefäß zwischen den Händen hielt, ein Bild ernsten Anstands. Einige von den Frauen weinten; aber die Männer nicht. Die Männer hatten alle eine bestimmte Pose; die Frauen hatten eine andre, so gewahrte sie. Dann begann das Ganze von neuem. Der prächtige Schwall von Musik durchwehte sie alle – »der Mensch, vom Weibe geboren«; die Zeremonie hatte sich erneuert; abermals waren sie gruppiert, vereint. Die Familie drängte sich ein wenig näher an das Grab und blickte starr auf den Sarg,