Seewölfe Paket 35. Fred McMason
Ich war nicht mehr der zehnjährige Junge, der im einen Moment himmelhoch jauchzen und im nächsten zu Tode betrübt sein konnte und schnell resignierte. Inzwischen hatte ich gelernt, mich im Leben durchzubeißen und hatte mehr Erfahrungen gesammelt als die meisten Stubenhocker mit zwanzig oder gar dreißig Jahren. Alle diese Leute, die sich nie den Wind um die Nase wehen ließen, konnte ich nur bedauern. Was hatten sie schon von ihrem Leben im Mief des Alltagstrotts?
Selbst in dem engen Verlies auf der Pattamar, das ich mit zwei Ratten teilen mußte, verlor ich nicht den Mut. Ich war ein Seemann geworden oder doch zumindest auf dem besten Weg dazu.
Eine Weile lauschte ich den Geräuschen, die von draußen hereindrangen und das einzige waren, was mich zur Zeit mit der Umwelt verband. Das Branden der See entlang des Rumpfes hatte sich verändert, es klang härter als zuvor, und in der Takelage rauschte und sang es in höheren Tonlagen. Ich schloß daraus, daß die Piraten am Wind segelten, was wiederum bedeutete, daß sie schneller mit Kurs auf die offene See liefen.
Suchten sie die Schebecke?
Die Ratten waren lästig und schienen nicht zu begreifen, daß ich nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Kaum ließ ich mich in die Hocke nieder, attackierten sie mich von neuem. Ich kriegte die eine am Schwanz zu fassen und wirbelte sie blitzschnell hoch. Es gab ein leises knackendes Geräusch, als ich sie gegen das Schott schmetterte, sie zappelte noch kurz und hing dann leblos in meiner Hand.
Manche Menschen ekeln sich vor den vierbeinigen Nagern, ich hatte sie schon immer gejagt, weil es an den Themseufern zeitweise Heerscharen von Ratten gab und sie dann auch in unserem Haus die schlimmsten Plagegeister waren.
Den Kadaver warf ich achtlos in die Ecke, wo die zweite Ratte wenig später begann, ihren Artgenossen zu verspeisen.
So makaber es klang, ich war ebenfalls hungrig. Die Inder dachten offenbar nicht daran, sich näher mit mir zu befassen. Anfangs zögerte ich noch, mich durch lautes Pochen zu melden, später hielt ich es für unnötig, weil die Pattamar jeden Augenblick den Kurs der Schebecke kreuzen mußte. Aber dieses Später zog sich endlos hin, und ich konnte mich erst recht nicht mehr durchringen, die Piraten möglicherweise gegen mich aufzubringen.
Höchstens zwei Stunden waren vergangen, als sich die Geräuschkulisse erneut veränderte.
Ich hörte Segel knallen und wußte sofort, daß die Pattamar beidrehte. Wenig später näherten sich Schritte meinem Verlies, das Schott wurde aufgerissen und ich zum Mitkommen aufgefordert. Die Gesten des Inders waren eindeutig.
Ich bemühte mich, Haltung zu zeigen. Die Piraten sollten gar nicht erst glauben, mir könnte das hilflose Treiben im Meer oder die Gefangenschaft geschadet haben.
Ein unsanfter Stoß beförderte mich die letzten Stufen des Niedergangs hinauf an Deck. Die schon tief über dem Meer stehende rote Sonne blendete.
Ehe ich mich versah, wurden mir die Arme auf den Rücken gezerrt und die Hände mit Hanfstricken gefesselt.
„Verdammt, ihr lausigen Rübenschweine, was soll das?“ schimpfte ich. „Ich gehe euch schon nicht verloren.“
Den Ausdruck Rübenschweine – und noch einiges mehr – hatte ich dem Profos der Seewölfe abgelauscht. Daß ich ihn jetzt gebrauchte, gab mir irgendwie das Gefühl einer starken Hand im Hintergrund. Außerdem verstand mich keiner der Küstenpiraten, ich hätte ihnen also noch ganz andere, weniger schmeichelhafte Ausdrücke an den Kopf werfen können.
Daß ich es nicht tat, war einzig und allein meiner Überraschung zuzuschreiben, als ich das andere Schiff sah.
Eine portugiesische Zweimastkaravelle lag mit aufgegeiten Segeln gerade zehn Schritte neben der Pattamar. Drüben wurde ein Boot zu Wasser gelassen. Nacheinander enterten vier Decksleute, zwei mit Musketen bewaffnete Seesoldaten in ihren prächtigen Uniformen mit den federgeschmückten Hüten und ein Offizier ab. Sie pullten zu uns.
Ich hatte keineswegs den Eindruck, daß sich Piraten und Portugiesen feindselig gegenüberstanden. Eher war das Gegenteil der Fall. Die Mannschaften beider Schiffe schienen einander zu kennen.
Die Begrüßung zwischen dem kahlköpfigen Anführer der Inder und dem portugiesischen Offizier, der zusammen mit den Seesoldaten aufenterte, erfolgte zwar nicht mit Handschlag, aber doch mit vertraulichen Gesten.
Der Portugiese redete indisch. Er war ein kleiner Mann mit scharfgeschnittenen Zügen und kostbarer Kleidung, die seinen feisten Wanst allerdings nicht zu kaschieren vermochte. Ich kann nicht behaupten, daß er mir besonders sympathisch erschienen wäre – sein rotfleckiges, von Schweißperlen glänzendes Gesicht wirkte eher abstoßend. Seine Haltung zeugte von Arroganz, die der Inder jedoch geflissentlich übersah.
Sie redeten miteinander wie alte Bekannte. Daß sie über mich sprachen, bemerkte ich an den Blicken, die mir der Offizier zuwarf. Zu gern hätte ich erfahren, über was sie verhandelten, denn der Portugiese schüttelte zunehmend heftiger den Kopf. Schließlich schien er einen Vorschlag oder ein Angebot zu unterbreiten, das sein Gegenüber völlig aus dem Häuschen geraten ließ.
Der Piratenkapitän befahl meinen Bewachern, mich wieder unter Deck zu bringen. Bevor sie mich die Stufen des Niedergangs hinabstoßen konnten, trat jedoch der portugiesische Offizier dazwischen.
Er war die Überheblichkeit in Person.
„Du bist also Engländer“, sagte er und spie verächtlich aus. Er sprach sehr gutes Englisch. „Weißt du, daß Dragha dich an uns verkaufen wollte?“
Ich hatte es mir gedacht. Nur war aus dem Geschäft offensichtlich nichts geworden.
Der Portugiese wirkte enttäuscht. Natürlich hatte er erwartet, daß ich mich dazu äußerte. Mein Schweigen ärgerte ihn.
„Dragha hat einen gepfefferten Preis für dich verlangt. Ich brauche zwar einen Schiffsjungen, aber bestimmt keinen Engländer, der mir bei der erstbesten Gelegenheit einen Dolch zwischen die Rippen stößt. Ist es nicht so?“
Ich schwieg immer noch. Der Offizier zielte auf etwas Bestimmtes ab, das war mir klar.
„Dein Schiff segelt weiter draußen. Dragha sagt, du seist über Bord gegangen.“ Er lachte kurz. „Ist es der schlanke Mittelmeerdreimaster mit den Lateinersegeln, der seit einiger Zeit vor der Küste für Aufregung sorgt? Ich habe erst vor zwei oder drei Tagen davon gehört.“
Er beobachtete mich genau, und ich spürte, daß mir die Röte ins Gesicht schoß.
„Die Inder werden dich zu deinem Schiff zurückbringen. Sie sind sehr uneigennützig.“ Wieder lachte er wie über einen besonders gelungenen Scherz. „Weißt du, was ich diesem Halsabschneider Dragha erzählt habe? Natürlich weißt du es nicht, aber ich will es dir sagen: daß nämlich die Schebecke große Schätze geladen hat, Gold und Silber und Perlen.“
„Warum?“ fragte ich erschrocken. Was wußte der Kerl vom Schatz des Maharadschas?
Er pfiff überrascht durch die Zähne. „Bei der heiligen Jungfrau, habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen? Das Schiff hat tatsächlich Schätze geladen? Deine Reaktion verrät dich.“
„Ich weiß nichts.“ Lieber hätte ich den Mund halten sollen, doch ich fühlte mich herausgefordert.
„Natürlich weißt du nichts“, spottete der Offizier. Er vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Was soll’s! Auf das Gold verzichte ich gern, wenn dafür ein paar Engländer aus unserem Handelsgebiet verschwinden. Deine Leute fangen an, lästig zu werden, und Dragha nimmt uns die Dreckarbeit gern ab.“
So war das also. Am liebsten wäre ich dem schmierigen Kerl für seinen Verrat an die Gurgel gesprungen, hätten mich die Fesseln nicht daran gehindert. Was dabei aus mir geworden wäre, war mir im Moment egal. Wie es aussah, hatten es die Piraten gar nicht nötig, offen gegen die Schebecke vorzugehen, sie konnten mich als Lockvogel benutzen.
Der Portugiese wechselte einige Worte mit dem Kahlkopf Dragha, danach wandte er sich mir wieder zu.
„Ich habe dem Halsabschneider gesagt,