Seewölfe Paket 35. Fred McMason
Suchend blickte ich zur Kimm. Erst dabei bemerkte ich, daß die spanische Galeone verschwunden war. Ihr Untergang hatte sich lautlos vollzogen.
Solange ich das Schiff in meiner Nähe wußte, hatte ich die Einsamkeit nicht gespürt, die mir nun deutlich wurde. Ich begann erneut zu schreien und zu rufen, bis meine Stimme umkippte und ich keuchend auf die Knie sank. Danach schossen mir die Tränen in die Augen, ich heulte und schluchzte hemmungslos. Seltsamerweise fühlte ich mich anschließend wohler, irgendwie befreit, und es fiel mir leichter als zuvor, klare Gedanken zu fassen.
Wahrscheinlich würde ich tagelang auf dem Meer treiben. Daß ich nichts zu essen hatte, war schlimm genug, aber ohne Trinkwasser hielt ich es kaum lange aus. Mein Körper hatte während der Sturmtage zu viel Flüssigkeit verloren. Schon aus dem Grund interessierten mich die paar von der „Seawind“ stammenden Fässer.
Schwimmen hatte ich mit fünf in der Themse gelernt. Deshalb fiel es mir nicht besonders schwer, die Fässer zur Gräting zu holen und hinaufzuwuchten.
Drei Stück waren es. Zwei von ihnen waren leer, wie ich mit Schütteln feststellte – ich behielt sie trotzdem bei mir. Falls es mir gelang, wenigstens eines aufzubrechen, konnte ich Regenwasser auffangen.
Das dritte, leider das kleinste Faß, schien noch zu knapp einem Drittel gefüllt zu sein. Mit klammen Fingern versuchte ich, den im Spundloch festsitzenden Korken herauszuziehen, was sich als überaus mühselig erwies. Als ich es endlich geschafft hatte, stieg mir der Geruch von Rum in die Nase.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine erste Regung war, dem Fäßchen einen kräftigen Tritt zu versetzen, damit es für immer in den Fluten verschwand, doch dann fragte ich mich, warum, um alles in der Welt, ich den Rum nicht trinken sollte.
Der erste Schluck brannte wie Feuer in der Kehle, beim zweiten hatte ich mich schon daran gewöhnt. Danach war mir alles egal, weil sich eine wohlige Wärme im Magen ausbreitete. Ich trank weiter, bemüht, möglichst wenig von dem kostbaren Naß zu verschütten.
Als ich das Fäßchen endlich absetzte, hatte ich gut die Hälfte des Rums geleert. Daß das entschieden zuviel war, merkte ich bald. Erst wurde mir hundeelend, dann begann sich alles um mich herum in einem rasenden Wirbel zu drehen, und der Himmel überzog sich mit grellen, unwirklichen Farben.
Verzweifelt krallte ich die Finger in die Öffnungen der Gräting, fand aber keinen richtigen Halt. Selbst als ich mich flach auf den Bauch warf, hatte ich das Gefühl, von heftigen Orkanböen gebeutelt zu werden …
„Wie lange wollen wir nach Clint suchen?“ fragte Edwin Carberry. Er schaute dabei nicht den Seewolf an, sondern hielt den Blick nach wie vor aufs Wasser gerichtet, als fürchte er eine unangenehme Antwort.
Hasard zuckte mit den Schultern.
„Bis wir ihn gefunden haben oder sicher sagen können, daß er ertrunken ist. Warum?“
„Nur so“, erwiderte der Profos. „Mir ist der Junge in den paar Wochen ans Herz gewachsen. Ist verdammt lange her, daß wir einen Moses an Bord hatten.“
Der rauhbeinige Carberry ließ wieder mal erkennen, daß er eine empfindliche Seele hatte. So erbarmungslos er mit den Fäusten zuschlagen konnte, so weich und nachgiebig war er mitunter. Aber das mußte beileibe kein Widerspruch sein.
Nach wie vor war die Freiwache aufgehoben. Alle Arwenacks hielten sich an Deck auf.
Das Gewitter war vorüber, die Sonne brannte wieder heiß vom Himmel, und Wolken gab es nicht. Die See beruhigte sich. Unter diesen Umständen konnte selbst ein im Wasser treibender kleiner Junge nicht lange unbemerkt bleiben.
Trotzdem blieb die Suche erfolglos.
Der Seewolf erweiterte das Gebiet schließlich in Richtung der vorherrschenden Strömung und des Windes. Jedoch konnte auch Dan O’Flynn nicht zutreffend sagen, ob und wieweit Clinton Wingfield möglicherweise abgetrieben worden war.
Den Arwenacks blieb nichts anderes übrig, als systematisch in Richtung auf das Festland zu kreuzen. Das war eine mühselige und zeitraubende Prozedur, doch nur so konnten sie sicher sein, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben.
Big Old Shanes Vorschlag, die Jollen auszusetzen und auf diese Weise das Suchgebiet zu erweitern, fand uneingeschränkt Zustimmung. Das war gegen vier Glasen nach dem Mittag.
Bis zum Abend verlief die Suche jedoch so erfolglos wie zuvor.
März 1598.
Mein bewußtes Erinnerungsvermögen setzte wieder ein, als die Sonne blutrot im Meer versank.
Mir war übel wie an den Tagen zuvor, und in meinem Schädel dröhnte ein riesiges Hammerwerk. Jede Bewegung verursachte stechende Schmerzen, deshalb blieb ich zunächst liegen und versuchte, mit mir selbst klarzukommen.
Sonne und Wind hatten meine nassen Plünnen getrocknet. Lediglich von unten drang noch Kälte durch das hölzerne Gitter hoch, und gelegentlich schwappte eine Welle über.
Endlich schaffte ich es, mich aufzurichten, ohne daß gleich alles in rasende Bewegung verfiel. Der Rum war an meinem Zustand schuld, wegen dem Teufelszeug war mir nicht nur hundeelend, ich spürte auch noch ein schreckliches Kratzen im Gaumen. Mein Durst war stärker als zuvor.
Das allein wäre wegen der hereinbrechenden Nacht vielleicht noch zu ertragen gewesen, doch der Anblick der grauen Dreiecksflosse, die keine zehn Yards vor meiner Gräting vorbeizog, versetzte mich in Todesangst.
Nichts fürchtete ich mehr als die Begegnung mit einem Hai.
Jäh änderte er die Richtung, schwamm auf mich zu, und erst im letzten Moment tauchte er. Ich hielt die Luft an und wartete auf den vernichtenden Aufprall von unten her, der jedoch ausblieb.
Jedes Schaukeln der Gräting erfüllte mich jetzt mit Panik. Ganz klein rollte ich mich zusammen.
Anfangs schaffte ich es, die Augen geschlossen zu halten, doch nach einer Weile konnte ich nicht mehr anders, als wieder aufs Wasser zu schauen, obwohl ich mich genau vor dem fürchtete, was ich dann auch tatsächlich sah. Der Hai war immer noch da und nicht allein. Zwei weitere der verfluchten Biester zogen ihre Kreise um die Gräting.
Die letzten Sonnenstrahlen geisterten über den Himmel. Übergangslos brach die Nacht herein. Ein gleißendes Sternenmeer spiegelte sich auf den Wellen, ihr Schein erschien mir kälter als sonst und ließ mich frösteln.
Nur eine leichte Strömung bewegte noch die Gräting. An Schlaf durfte ich in dieser Nacht nicht denken, denn die Haie begleiteten mich mit der Ausdauer blutrünstiger Raubtiere. Meine Tränen waren versiegt.
Mehrmals nickte ich ein, schreckte aber stets sofort wieder hoch, weil ich im Halbschlaf die gierig aufgerissenen Mäuler der Bestien vor mir sah.
Erst im Morgengrauen verschwanden die Haie – ebenso schnell und überraschend, wie sie erschienen waren.
Ich war am Ende meiner Kräfte. Deshalb glaubte ich auch, meinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen, als ich die Segel an der Kimm sah.
Verzweifelt blinzelte ich in die Morgensonne. Die Segel blieben, sie wurden sogar größer.
Eine Karavelle.
Hatte mich die Crew entdeckt? Ich versuchte zu winken, doch brachte ich den Arm kaum über den Kopf hinaus. Meine Hilferufe gerieten zum heiseren Krächzen, das bestimmt niemand hörte.
Die Karavelle segelte mit raumem Wind über Backbordbug. Anfangs hatte ich noch den Eindruck, daß sie auf mich zuhielt, doch dann erkannte ich, daß sie mindestens zwei Kabellängen entfernt vorbeilaufen würde.
Ich hatte absolut gar nichts, mit dem ich mich bemerkbar machen konnte.
Die Karavelle erreichte den Punkt der größten Annäherung und entfernte sich wieder. Der Wind trug mir das Rauschen der Bugwelle zu, und wenn mir die Augen keinen Streich spielten, erkannte ich die englische Flagge im Top.
„Helft mir!“ Meine eigene Stimme erschreckte mich. Erneut versuchte ich zu winken, doch die Anstrengung war