Seewölfe Paket 35. Fred McMason
sah nicht viel, nur die oberste Ecke eines Lateinersegels, doch das allein genügte, mein Herz schneller schlagen zu lassen. Keinen Augenblick lang zweifelte ich daran, daß ich die Schebecke vor mir hatte, zumal ich bei längerem Hinsehen drei winzige Mastspitzen erkannte.
„Hierher! Hier bin ich!“ Ich begann aus Leibeskräften zu schreien und – soweit es mir möglich war, ohne den Halt zu verlieren – zu winken.
Erst nach einer Weile sagte ich mir, daß es sinnlos war, gegen den Wind anzubrüllen, und ob mich die Arwenacks schon entdecken konnten, blieb dahingestellt. Immerhin betrug die Entfernung bestimmt zwei bis drei Meilen, da ich andernfalls mehr als nur die Toppen gesehen hätte.
Ich konnte nicht erkennen, in welche Richtung das Schiff segelte, aber wenn es eine Rettung geben sollte, mußte ich so nahe wie möglich heran. Also begann ich mit den Händen zu paddeln. Anfangs war mir das sogar gegen die Strömung möglich, aber dann ließen meine Kräfte nach. Ich schürfte mir an der Planke die Oberarme auf, und der stärker werdende Wind setzte meinen verzweifelten Bemühungen ein Ende.
Ungestüm brach das Gewitter los. Der Regen, der wenig später fiel, glich einer Sintflut.
Das Meer dampfte und brodelte, von der Schebecke war längst nichts mehr zu sehen, und die Strömung trieb mich schneller ab. Vielleicht würde ich an Land gespült werden, ich konnte es nur hoffen.
Ich klammerte mich an der Planke fest und überließ mich den Elementen. Und ich begann zu beten, stockend zuerst und nach den richtigen Worten suchend, aber dann immer flüssiger. Wenn der Herr gnädig war, schickte er mir die Rettung, wie er es schon einmal getan hatte.
Der anhaltende Donner und die flackernden Blitze erinnerten mich an Geschützfeuer.
War da nicht Gefechtslärm? Die Schreie Sterbender und Verwundeter gellten in meinen Ohren.
Unwillkürlich hob ich den Blick. Dunst hatte sich zusammengezogen und verschleierte wie Pulverqualm die Sicht. Dennoch mußten jeden Moment die Umrisse eines der Schiffe sichtbar werden.
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag schreckte mich auf.
Was war los mit mir? Begann so das Ende? Ich hatte gehört, daß Menschen vor ihrem Tod noch einmal alle Höhen und Tiefen ihres Daseins erlebten.
Hilf mir, Gott, laß mich nicht sterben! Alles in mir bäumte sich auf. Verzweifelt versuchte ich, an angenehmere Dinge zu denken, an meine Begegnung mit den Arwenacks, an die Zeit auf der Schebecke – aber die Erinnerungen waren geweckt und ließen sich nicht verdrängen …
März 1598.
Seit zwei Tagen hatten wir wieder stürmische See, und ebensolange hatte ich keinen Bissen zu mir genommen, weil ich alles sofort erbrach. Mir war sterbenselend zumute. Unablässig wälzte ich mich in meiner Koje im stickigen Mief des Vorschiffs und fand weder Schlaf noch Erleichterung.
Tränen hatte ich längst nicht mehr. Ich dachte an Vater und flüchtete mich in Gedanken in sein Geschäft für Schiffsausrüstungen im Londoner Hafen. Ob er inzwischen erfahren hatte, warum ich an jenem verhängnisvollen Nachmittag Ende Februar nicht zurückgekehrt war?
Jetzt mußte er Botengänge und Besorgungen selbst erledigen, denn Mutter mit ihren krampfhaften Hustenanfällen war zu schwach dazu. Der Nebel und die naßkalten Wintermonate waren Gift für sie, das behauptete sie jedenfalls, doch Vater wollte um nichts in der Welt aus London fortziehen.
„Winter ist überall“, hörte ich ihn zornig sagen. „Nimm dich zusammen, Weib. Oder willst du, daß uns die Kundschaft davonläuft?“
Wie lange lag das alles zurück? Drei Wochen oder schon vier? Ich hatte die Tage nicht gezählt, weil mir jeder von ihnen wie eine Ewigkeit erschien. Ein Seemann würde ich nie werden, selbst wenn mich der Kapitän totschlagen ließ. Seine Preßgang hatte sich den falschen Jungen gegriffen.
Ich haßte die „Seawind“, diese verluderte Dreimastgaleone, haßte den versoffenen Profos, den schmierigen Kapitän und inzwischen auch die See, deren Widerwärtigkeiten ich bis vor wenigen Wochen nicht mal geahnt hatte. Das Themsewasser war mit dem Atlantik in keiner Weise zu vergleichen.
Ich wollte zurück nach London, sehnte mich nach der behaglichen Gemütlichkeit unserer Wohnstube, die im Winter zwar nie richtig warm wurde und an deren schmalen Fenstern dann dicke Eisblumen prangten, die aber wenigstens einen festen Boden unter den Füßen bot. Das Stampfen und Schlingern des Schiffes hingegen zermürbte mich.
Kaum jemand von der Mannschaft redete mit mir. Anfangs hatte ich noch geglaubt, ich könnte es ertragen, aber das Gefühl, weniger wert zu sein als die Ziegen in der Pißback, war niederschmetternd. Die Tiere gaben wenigstens Milch, und irgendwann würde ihr Fleisch auf dem Tisch stehen und hungrige Mägen füllen.
Ich hingegen war nicht mal für die einfachsten Arbeiten zu gebrauchen. In den Wanten klammerte ich mich eisern fest und wagte weder nach oben noch nach unten zu schauen, und außenbords kriegte mich vorerst niemand, weil ich lieber Prügel in Kauf nahm, als mich der Gefahr auszusetzen, von der See verschluckt zu werden. Der von den Winterstürmen aufgewühlte, tosende und schäumende Atlantik war mir unheimlich.
Vor zwei oder drei Tagen hatte mir der Profos aus ebendiesem Grund hart zugesetzt und angedroht, er würde mich grün und blau schlagen, wenn ich nicht bald zu mehr als zum Dreckschrubben und Wasserholen zu gebrauchen sei. Wenig später waren wir in schlechtes Wetter geraten, und seitdem wälzte ich mich unruhig in meiner Koje und wußte, daß ich das Ziel der „Seawind“ nie erreichen würde, das angeblich im Süden des schwarzen Kontinents lag. Ich hatte munkeln hören, daß der Kapitän Sklaven an Bord nehmen wollte.
Vor Hunger und Erschöpfung mußte ich doch eingeschlafen sein, denn als irgendwann erregte Stimmen ins Vorschiff drangen, war die See ruhiger geworden.
Verwirrt stemmte ich mich auf den Ellenbogen hoch. Die von der Decke herabhängende Ölfunzel schwang hin und her, der flackernde Schimmer des brennenden Dochtes reichte gerade aus, mich die Deckenbalken erkennen zu lassen. Dreck und verkrustetes Salz hingen an den Plankennähten, an vielen Stellen tropfte Wasser und offenbarte den schlechten Zustand der Galeone. Jetzt, nach dem Sturm und den Brechern, die über das Schiff hinweggegangen waren, war es schlimmer als je zuvor.
Ich lauschte und versuchte die Stimmen zu verstehen, die inzwischen wirr durcheinander schrien. Schritte polterten über die Decks und hasteten die Niedergänge hinauf.
Ein Donnerschlag in allernächster Nähe ließ mich zusammenzucken.
Unmittelbar darauf vernahm ich von achtern her ein Krachen und Splittern, wie ich es nie zuvor gehört hatte.
Die „Seawind“ wurde angegriffen, das war mir sofort klar. Aber was konnte ich, Clinton Wingfield, gerade zehn Jahre alt, dagegen tun? Das Grauen sprang mich an, ich zerrte mir die Decke über den Kopf und rollte mich zusammen, so gut ich eben konnte, ohne daß sofort wieder mein Magen rebellierte.
Das Dröhnen weiterer Kanonenschüsse klang nun zwar gedämpft, war aber immer noch deutlich zu hören. Ich versuchte gar nicht erst, meine Angst zu unterdrücken, denn ich fror erbärmlich, und meine Zähne klapperten haltlos wie das Rigg im Sturm.
Urplötzlich zerrte mir jemand die Decke weg.
„Steh auf, Bursche, oder ich prügele dich an Deck!“ Der Profos schlug sofort zu, sein Handrücken traf mich an der Schulter und drückte mich gegen die Wand.
Er ließ mir keine Zeit der Besinnung, sondern packte mich mit seinen schwieligen Händen und zerrte mich hoch. Ehe ich mich versah, spürte ich seine Pranke rechts und links im Gesicht, und jeder Schlag trieb mich einen Schritt zurück.
„Du bist krank, was? Absaufen wirst du, wenn du dich nicht bald bewegst. Hilf den Geschützmannschaften!“
„Wir werden – angegriffen?“ brachte ich stockend hervor, während ich, unbarmherzig angeschoben, die Stufen des Niedergangs hinaufstolperte. Meine Nase blutete von den beiden Ohrfeigen, aber das nahm ich nur am Rande wahr.
Eine kalte Brise schlug mir entgegen, kühlte meine brennenden Wangen und