Klub Tropikal. Ina Elbracht
»Um was geht es, ---?«
Meine Frage endet unbeabsichtigt in einem Loch, einer nicht ausgesprochenen Anrede, die deutlich in der Luft hängt. --- Vater, Papa, gar Babás?
Unmöglich!
Keine Ahnung, ob es ihm auffällt oder nicht. Er sammelt seine letzten Worte. Dieses Leben endet nicht mit einer Beichte, Entschuldigungen, Beteuerungen oder der Bitte um Vergebung, sondern mit einem klaren Auftrag.
Später kommt ein Pfleger, der Türke, wie ich vermute. Ich würde gern mit ihm eine Zigarette rauchen, traue mich aber nicht zu fragen.
Nur dieses eine Mal, nur diese eine. Die Gelegenheit verstreicht ungenutzt.
»Wenn Sie kurz rausgehen, richte ich Ihren Vater etwas her«, sagt er. »Dann können Sie in Ruhe Abschied nehmen.«
Ich stehe auf.
»Wann wird Ihre Familie hier sein?«
Ich sehe, dass er zwischen Anteilnahme und den Routinen der Hospizregeln schwankt. Pietät hin oder her, hier wird ein Platz frei.
»Machen Sie sich keine unnötige Mühe. Es wird niemand kommen«, sage ich und greife nach Jacke und Tasche.
»Haben Sie sie denn angerufen?«, fragt der Pfleger.
Vielleicht hält er mich anlässlich des Verlusts für verwirrt.
»Wen?«, frage ich.
»Na, Ihre Familie natürlich«, sagt er. Ich spüre seine Irritation.
»Wir sind keine solche Familie«, antworte ich und nestele einen Geldschein aus dem Portemonnaie, den ich ihm für den letzten Dienst an meinem toten Vater in die Hand drücke.
Ich sehe ihm an, was er denkt: So etwas hätte er vielleicht bei einer deutschen Familie erwartet, aber nicht von Gastarbeiterabkömmlingen.
»Sie wollten mich erst gar nicht gehen lassen«, berichte ich ein paar Tage später meiner Mutter und den Geschwistern. »Gibt wohl nicht viele alleinstehende Griechen der ersten Generation, die einen Vorsorgevertrag beim Bestatter gemacht haben. Oder überhaupt wissen, was das ist.«
Sie lachen nicht darüber und weinen auch nicht. Stattdessen einigen sie sich, wer den Erbschein beantragen soll.
»Falls da doch noch was ist.« Es dauert mehrere Stunden, bis sie mich nach seinen letzten Worten fragen.
»Ich soll auf den Friedhof gehen, auf dem sein Vater bestattet ist und die Liegezeit des Grabes verlängern«, erkläre ich ihnen seinen Wunsch.
»In Griechenland? Auf der Insel?«, fragt meine Mutter ungläubig.
»Ja.«
»Aber er selbst will nicht dorthin überführt werden?«, fragt mein ältester Bruder, der wie immer die Finanzen fest im Blick hält.
»Nein, das wollte er auf keinen Fall«, versichere ich. »So hat er es mir ausdrücklich gesagt.«
»Du weißt, dass du dich an dieses Versprechen nicht gebunden fühlen musst, oder, Süße?«, zwitschert meine Schwester.
Sie ist die Älteste und ihre Midlifecrisis ist das einzig Fette an ihr; sie hat Oberarme wie Michelle Obama und ein Coaching-Diplom.
»Ich möchte es aber«, antworte ich. »Euch entstehen keine Kosten. Ich hab’s schon mit Micha besprochen, wir verbinden es mit einer Urlaubsreise.«
»Das machst du, weil du die Jüngste bist«, urteilt meine Schwester mit fachmännischer Miene. »Die jüngsten Kinder buhlen immer am stärksten um die Zuneigung eines Elternteils, von dem sie meinen, zu wenig bekommen zu haben.«
»Tu, was du für richtig hältst, Kind«, sagt Mána und gibt mir einen Kuss, »wenn ich auch nicht viel hab, die Friedhofsgebühren ersetz’ ich dir.« Jetzt wird’s den anderen unbehaglich. Als geizig wollen sie nicht gelten.
»Wenn nach der Trauerfeier nichts mehr übrig sein sollte, legen wir zusammen«, beschließt meine Schwester, ohne die anderen gefragt zu haben.
Wochen nach der Beerdigung und unmittelbar vor unserem Abflug offenbart »der Nachlass des Erblassers ein Haus mit Grundstück«, wie mein Bruder, der ewige Erbsenzähler, geschäftsmäßig sagt. Meine Reise auf die Insel scheint nun nicht mehr so idiotisch und sentimental wie zuvor.
Nachdem mein Vater die Familie verließ und meine Mutter an seine Rückkehr zu glauben aufgegeben hatte, legte sie sich eine Art Hausfreund zu, ihr offizieller Untermieter und inoffizieller Lebensgefährte, mit dem sie bis zu dessen Tod zusammenblieb. Weil er Deutscher war, hörte meine Mutter auf, mit mir Griechisch zu sprechen und da meine Geschwister schon aus dem Haus waren, tat es auch sonst niemand. Mein aktiver Sprachschatz ist mickrig.
Dafür habe ich mich stets geschämt und Urlaube in Griechenland vermieden. Wie eine Griechin auszusehen und die Sprache nicht zu beherrschen, war mir peinlich.
»Aber es ist doch cool, wenigstens etwas draufzuhaben«, sagte mein Mann mit dieser ihm eigenen pädagogisch-ermunternden Heiterkeit, wann immer das Thema darauf kam.
Bis ich vermied, darüber zu sprechen.
Micha ist einer, der im Urlaub stolz ein paar Brocken lernt und gern von Einheimischen dafür gelobt wird.
Kaliméra, Kalispéra, Kaliníchta.
Er kann nicht verstehen, wie unangenehm es ist, auf dem Niveau eines maulfaulen Kindes antworten zu müssen, wenn man angesprochen wird. Ich habe aufgegeben, ihm das erklären zu wollen.
Vor unserer Reise rätselte er viel darüber, wie es sein konnte, dass mein Vater von einer beliebten Urlaubsinsel stammte, ich aber noch nie dort war.
»Ferien in der Heimat dienten früher dem Familienbesuch«, erklärte ich ihm, »und wir hatten nun mal keine Verwandten dort.«
… ist deshalb für mich genauso unbekanntes Gebiet, wie sie es für jeden Urlauber beim ersten Besuch wäre. Trotzdem wird mir von Micha gleich zu Beginn ein Expertenstatus zugeschrieben, den ich nicht loswerde. Dabei weiß er als Erdkunde- und Geschichtslehrer garantiert mehr über dieses Mittelmeer-Eiland als ich aus dem Reiseführer.
Wie auch über die Flüchtlingskrise und das moralische Dilemma, das die Reise mit sich bringt. Er umschwirrt mich damit, als ob ich ihm Absolution erteilen könnte.
»Ich habe mir nicht ausgesucht, auf welchem Friedhof welcher Insel mein Großvater bestattet wurde.« Das scheint ihm zu helfen.
Ich stelle mir vor, wie er an einer Strandbar erzählen wird, dass seine Frau hier in Familienangelegenheiten zu tun hat und diese Auslöser und Grund für unsere Reise waren. Weil er einer von den Netten ist, den Guten, denen es nicht egal ist, was auf der Welt los ist und wer sich da von kaputten Booten an Land retten muss.
»Hilft den Einheimischen ja auch nicht, wenn keine Touristen kommen«, sagt dann jemand, der mit kühlem Bier in der Hand versonnen aufs glitzernde Meer schaut und dem gegenüber sich Micha dann ein bisschen überlegen fühlen kann.
Mein Mann hält uns für unaufgeregte, flexible und weltoffene Reisende, welche, die verstehen, dass im Urlaub halt nicht zuhause ist.
Das von mir gebuchte Appartement findet in Michas Augen keine Gnade. Runtergekommen, zu klein, ohne das versprochene separate Zimmer für Leni, nicht kindergerecht, mückenverseucht.