Klub Tropikal. Ina Elbracht
Erstaunlich, dass man etwas so Großes übersehen kann, nur weil man auf der Suche nach dem kürzesten Weg zur Strandpromenade ist. Andererseits liegt der vertrocknete Baum halb hinter einigen struppigen Palmen verborgen, vielleicht hat ihn meine Tochter deshalb erspäht, weil sie eine andere Perspektive einnimmt.
Oder weil sie auf unserem Spaziergang einen Blick für alles Unfertige und Hinfällige entwickelt hat. Die zahlreichen Bauruinen mit aus dem rohen Beton ragenden Rohren und Drähten beschäftigen sie. Sie kann nicht verstehen, warum niemand sie fertigbaut und warum keiner darin wohnen will.
Wie erklärt man einem Kind das Scheitern von Träumen? Anders als ich ist Micha nicht stehengeblieben. Ich sehe seiner Körperhaltung an, dass er keine Lust mehr auf die Trödelei hat. Ich dagegen bin neugierig und betrachte mir gemeinsam mit Leni die Sache genauer. Hinter den Palmen befindet sich eine vor langer Zeit aufgegebene, kreisförmig angelegte Bar. Die Farben der noch existierenden Mosaiksteinchen sind ausgebleicht, genau wie das Schild, auf dem der Name unlesbar geworden ist. Daneben liegt ein leerer Pool, in den der Baum wie durch ein Passepartout gestürzt ist. Die Wurzeln ragen anklagend in die Luft, hinter der Bar lässt sich vage der einstige Standort des Baums vermuten.
»Vielleicht hat ihn ein Sturm entwurzelt«, mutmaße ich.
Wir sind wie die kleinen Detektive aus einem von Lenis Büchern und gehen den Dingen auf den Grund.
»Können wir näher ran?«, bettelt meine Tochter.
»Klar, warum nicht?« Ich küsse sie auf den Scheitel und rufe Micha zurück.
Er reagiert unwirsch und will nicht, dass wir »unbefugt das Grundstück betreten«. Ich zeige auf einen Pfad neben dem Pool, der zur Hauptstraße führt.
»Guck, eine Abkürzung!« Ich steige über die Reste verwitterter Stufen und ein Rohr auf das Niveau der Bar hinab. Bevor Micha unser kleines Abenteuer stoppen kann, nehme ich Leni und hebe sie zu mir nach unten. Obwohl es ihm nicht behagt, setzt er uns mit einem sportlichen Sprung nach. Währenddessen flüstert Leni in mein Ohr:
»Hier ist es anders als eben.«
»Du meinst oben, oder?«, frage ich. »Anders als oben, nicht anders als eben.«
»Anders als eben oben«, sagt sie.
Ein hübscher Kompromiss, finde ich. Ich lache. Micha nicht. Er möchte so schnell wie möglich weiter. Dabei gibt es so viel zu entdecken. Der Baum im Becken ist eine Pappel. Sie ist ausgedörrt, muss also schon vor längerer Zeit hineingefallen sein. Auf dem Grund liegen Äste, Blätter und Trümmer von herabgestürzten Kacheln. Die Gehwegplatten sind teilweise gesprungen, manche fehlen ganz, der ehemals blaugestrichene Betonboden ruht rissig und verkratert in der Nachmittagssonne. Wieder stoße ich an Grenzen, als ich versuche, Lenis Fragen zu beantworten. Warum da kein Wasser im Schwimmbecken ist, warum niemand den Baum rausholt, warum keiner an der Bar sitzt?
»Wo sind alle? Warum ist hier keiner?«, fragt Leni. Sie will näher zum Beckenrand. Ich halte sie fest.
»Warum, warum, warum ist die Banane krumm?«, ätzt Micha.
Er drängt zum Aufbruch. Weil ich neben meinem Kind hocke, sehe ich, wie seine haarigen Sichelwaden den Pfad vorausgehen. Bevor wir ihm folgen, versuche ich Leni zu erklären, dass Menschen manchmal etwas aufgeben und es dafür viele Gründe geben kann.
»Wann kommen die Leute zurück?«, beharrt sie auf ihrer Frage, als ob ich gar nichts gesagt hätte.
»Weiß ich nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß, zucke theatralisch mit den Schultern und nehme sie bei der Hand.
Wir hatten einen Nachtflug, sie ist schon zu lange wach und ich habe Angst, dass sie auf den unebenen Steinen stürzt und sich weh tut.
»Können wir morgen nachgucken, ob die Leute zurück sind?«
»In Ordnung«, verspreche ich und sie lacht übermütig.
Der Kieselstrand sagt weder meiner quengeligen Tochter noch meinem Mann zu. Das Restaurant an der Promenade genauso wenig.
»Nimm morgen das Auto und fahr mit Leni in eine der vielen schönen Badebuchten«, sage ich schließlich genervt. »Wenn du aus dem Ort rausfährst, geht alle zwei bis drei Kilometer eine Zufahrt ab.«
»Aber du brauchst das Auto doch, um zum Friedhof zu kommen«, widerspricht Micha halbherzig. Er stochert im Essen, findet das Fleisch minderwertig und schlecht gebraten. Leni isst zu viele Pommes, verschüttet ihr Getränk und fängt an zu weinen.
»Schon ok.« Ich wische Lenis Hände und Gesicht ab und nehme sie auf den Schoß. Mein Essen wird kalt. Schade, mir hat es geschmeckt.
»Du kannst den Wagen haben. Ich miete morgen einen Roller.«
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