Die Witwe des Millionärs. Laura Lippman

Die Witwe des Millionärs - Laura  Lippman


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wir das nicht alle?«

      Tess war völlig fertig, als sie das Erdgeschoss erreichte, aber die Hündin war plötzlich ganz aufgeregt. Sie hob die Schnauze und bleckte die Zähne, sodass sie aussah wie James Cagney. Tess umrundete mit ihr ein paar leere Grundstücke in Fells Point, die Esskay geruchlich faszinierend fand. Tess meinte sich zu erinnern, dass es eine städtische Regel gab, nach der man hinter seinem Hundchen herputzen musste, aber andererseits ging sie davon aus, dass Hundekot das geringste Problem auf Grundstücken wäre, die seit fünf Jahrzehnten mit Chemikalien und Giften belastet wurden.

      Es roch gut aus Kittys Küche im Erdgeschoss, als sie nach Hause zurückkehrte. Tess blieb im Flur stehen und fummelte an Esskays Leine herum. Sie hoffte hereingebeten zu werden, und sei es nur, um den langen Aufstieg zu ihrer Wohnung noch hinauszuzögern. Kitty ging wie alle Monaghans davon aus, dass Spike der Weinstein-Seite der Familie zuzuordnen war, aber sie hatte ihn immer gemocht. Sie wollte also mehr über seinen Zustand wissen. Und deshalb öffnete die großzügige Kitty ihre Tür und bat Tess herein.

      Kittys Küche war eigenartig für jemanden, der hochhackige Schuhe anziehen musste, um auch nur einsfünfzig zu erreichen. Alles war übergroß, sodass Kitty darin wie ein Püppchen aussah. Aber Tess war schon vor langer Zeit aufgefallen, dass das kein Zufall war, denn normalerweise führte es dazu, dass Kittys neuester Freund stets das Essen zubereitete. Der Freund war außerdem meist fünfzehn Jahre jünger als die über vierzigjährige Kitty, eine clevere Rothaarige, die die Sonne gemieden hatte, während andere Frauen ihrer Generation sich mit Babyöl eingepinselt hatten.

      Heute gab es French Toast von Barkeeper Steve. Er wirkte kräftig, was Tess nicht gefiel. Kleine Männer, die so viel Zeit damit verbrachten, ihre Muskeln auszubilden, neigten dazu, andere wichtige Bereiche zu vernachlässigen. Aber ihr hatte sowieso keiner der Freunde ihrer Tante gefallen, seit Thaddeus Freudenberg auf die FBI-Akademie in Quantico gegangen war. Das war im Januar gewesen – zwei Monate im Kalender, vier Freunde in Kittys Kalenderrechnung.

      »Hat Tommy dir sagen können, was gestern passiert ist?«, fragte Kitty, während Tess sich einen Kaffee eingoss. »Und wie geht es Spike?«

      »Nicht so gut. Er wurde bewusstlos, während wir dort waren. Jemand – mehrere – haben ihn sich richtig vorgeknöpft. Und das wegen dreißig Dollar oder so.«

      Steve interessierte sich nicht für weltliche Familienthemen wie den Raubüberfall und Beinahetod eines Verwandten, sodass er das Gespräch wieder auf ein Thema steuerte, bei dem er dominieren konnte.

      »Hast du den Hund von einer dieser Tierrettungsgruppen der Stadt?«, fragte er und servierte Tess zwei Scheiben French Toast, dann streute er Puderzucker darauf. Tess wäre an einem Dienstagmorgen etwas weniger Klebriges lieber gewesen, ein Bagel oder eine Schüssel Müsli, aber sie würde sich nicht beklagen.

      »Ich hab sie von meinem Onkel Spike.«

      »Er muss sie gerade erst bekommen haben, wenn sie nicht weiß, wie man Treppen geht. Und diese wunden Stellen an ihrem Hintern, das kommt von den engen Zwingern.«

      Esskay wimmerte, als hätte sie bemerkt, dass sie im Mittelpunkt eines nicht gerade schmeichelhaften Gesprächs stand. Kitty brach ein Stückchen Toast ab und hielt es der Hündin hin, die es erstaunlich flink verspeiste.

      »Du solltest die Tierrettung anrufen und dir helfen lassen«, fuhr Steve fort. »Es gibt alles Mögliche, was du wissen solltest.«

      »Zum Beispiel?« Kitty würde es nicht lange mit ihm aushalten, befand Tess, egal welche Talente er in Küche oder Boudoir hatte. Sie mochte es morgens ruhig.

      »Essen. Bewegung«, sagte er vage und ließ seine Gabel durch die Luft kreisen. Tess hatte das Gefühl, das Ende seines Windhund-Wissens sei erreicht.

      Als Steve seine Gabel mit einem Stückchen French Toast durch die Luft wedelte, sprang Esskay hoch und schnappte sich den süßen Bissen. Zum ersten Mal strahlten die Augen der Hündin, und sie ließ nicht mehr den Kopf hängen, als bettelte sie, nicht geschlagen zu werden. Esskay schien bereit zu sein, einen Kampf um den Rest des French Toast anzutreten.

      »Ich hab eine Idee«, sagte Tess und schnitt den Rest ihres French Toast in kleine Stückchen. »Kitty, komm bitte mal kurz raus in den Flur.«

      Am unteren Ende der Treppe reichte Tess Kitty den Teller und schickte sie auf halbe Höhe der ersten Treppe. Dann kniete sie sich selbst hinter die Hündin und legte die Hände auf deren Hinterbeine.

      »Jetzt halt ihr eins der Toaststückchen hin«, sagte sie zu ihrer Tante. Kitty nahm eines der kleineren Stückchen zwischen Daumen und Zeigefinger, während Tess die Beine der Hündin die Treppe hinaufführte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Rechts, links, rechts, links. Sie konnte die Anspannung des armen Tieres spüren, während es den Hals streckte, um näher an das Stückchen French Toast zu kommen, das nur ein paar Zentimeter vor ihrer Schnauze in der Luft schwebte.

      »Jetzt geh ein paar Stufen höher.« Kitty gehorchte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Wieder konnte die Hündin den Toast fast erwischen.

      »Okay, gib ihr den Bissen, dann gehst du hoch zum Treppenabsatz und hältst ein größeres Stückchen hin.«

      Das kleine Häppchen, sirupdurchtränkt und mit Zucker überpudert, ließ die Hündin fast durchdrehen. Wimmernd reckte sich Esskay in Kittys Richtung, die inzwischen den Treppenabsatz erreicht hatte. Tess kniete sich hinter die Hündin, sie kam sich vor wie eine Mutter, die gleich das Fahrrad ihres Kindes loslassen würde. Ein kleiner Stups, und Esskay stürzte vorwärts, sie nahm die restlichen Stufen in einem großen Satz. Kitty gab ihr wieder ein Stück French Toast, dann ging sie vier weitere Stufen hoch. Die Hündin folgte ihr allein, Tess krabbelte hinter ihr her. Sekunden später waren sie am oberen Treppenende vor Tess’ Wohnung, und der Teller glänzte wie frisch aus der Geschirrspülmaschine.

      Steve, der diese Spontan-Unterrichtsstunde vom unteren Treppenende aus beobachtet hatte, war unbeeindruckt.

      »Ruf mal lieber eine dieser Windhund-Rettungsgruppen an«, rief er hoch. »Ich wage zu bezweifeln, dass French Toast ihr gut bekommen wird. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn sie dir nicht die ganze Bude vollscheißt.«

      Kitty kraulte die Hündin hinter den Ohren. Die Hündin schaute sie voller Liebe an. Es war mehr als Toast. Crow hatte Tess einmal erklärt, dass es quasi zwingend war, sich in Kitty zu verlieben, wenn man sich an der Ecke von Bond Street und Shakespeare Street aufhielt. Er sollte es wissen: Crow arbeitete bei FRAUEN UND KINDER ZUERST und war ewig in Kitty verknallt gewesen, bevor er sich plötzlich und unerwartet vor fünf Monaten auf Tess zu konzentrieren begonnen hatte.

      »Sogar Hunde«, sagte Tess bewundernd. »Ist irgendjemand gegen deinen Charme immun?«

      »Tausende. Ich verschwende bloß keine Zeit mit ihnen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen.«

      Kitty rief die Treppe hinunter: »Steve, du kannst schon mal abwaschen. Ich zieh mich um und schließ den Laden auf.«

      Steve kehrte in die Küche zurück. Er pfiff vor sich hin, als wäre es eine Ehre, nach dem Essen, das er zubereitet hatte, auch sauber zu machen. Kitty schwebte einen Treppenabsatz hinab und verschwand in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock. Tess musste Esskay am Halsband festhalten, um die Hündin daran zu hindern, Kitty hinterherzutrotten.

      Tess kannte sich aus mit Sportlern und ihren Bedürfnissen, also goss sie der Hündin eine große Schale Wasser ein und stellte sie auf eine Ausgabe des Beacon. Dann suchte sie ein altes Laken heraus und drapierte damit auf dem Schlafzimmerfußboden ein Bett. Erstaunt starrte Esskay darauf hinab. Sie betrachtete die blau karierte Wolle, als wartete sie darauf, dass etwas geschähe. Als Tess aus der Dusche zurückkehrte, stand die Hündin immer noch vor der Decke und knurrte leise.

      Tess zog sich an und wollte zur Arbeit gehen, dann blieb sie in der Schlafzimmertür stehen und schaute die Hündin unsicher an. Sie hatte nie verstanden, wieso Leute mit Tieren redeten und sie wie Babys behandelten, aber es kam ihr auch komisch vor, ein warmblütiges Wesen ohne irgendeine Form der Verabschiedung zurückzulassen. Außerdem bedeutete diese Hündin Spike irgendetwas, also musste


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